Die Übergriffe in Köln und der Ruf nach dem starken Staat

Von Dietmar Henning und Peter Schwarz
9. Januar 2016

 

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Mit Beginn des neuen Jahres haben Medien und Politik den Propagandamodus eingeschaltet. Man kann keine Nachrichten mehr sehen oder hören und keine Zeitung mehr aufschlagen, ohne auf Forderungen nach mehr Polizei und Überwachung, nach schärferen Gesetzen und nach der Abschiebung „krimineller Ausländer“ zu stoßen. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich mit dem Ruf, „klare Zeichen zu setzen an diejenigen, die nicht gewillt sind, unsere Rechtsordnung einzuhalten“, an die Spitze der Kampagne gestellt.

 

Anlass des Propagandafeldzugs, der seit Tagen alle anderen politischen Themen verdrängt, sind die Ereignisse der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof. Dort hatten Gruppen anscheinend stark alkoholisierte Männer zahlreiche Frauen belästigt, bestohlen und sexuell bedrängt.

 

Angesichts der Bedeutung, die diese Ereignisse inzwischen erhalten haben, ist es bemerkenswert, dass auch acht Tage danach bemerkenswert wenige konkrete Einzelheiten darüber bekannt sind. Die Kölner Polizei und das nordrhein-westfälische Innenministerium wollen sich erst am Montag wieder dazu äußern. Offenbar handelt es sich um eine gezielte Kampagne.

 

Fest steht bisher nur, dass sich in der Silvesternacht auf dem Platz zwischen Hauptbahnhof und Dom rund tausend Personen versammelt hatten, um das Neue Jahr zu feiern. Als einige begannen, unkontrolliert Feuerwerkskörper in der Menge zu zünden, räumte die Polizei eine halbe Stunde vor Mitternacht den Platz mit der Begründung, sie wolle damit „eine Massenpanik verhindern“. Kurz vor eins gab sie den Zugang zum Hauptbahnhof dann wieder frei.

 

Zu dieser Zeit erstatteten die ersten Frauen Anzeige wegen Diebstahls. Einige berichteten laut Polizei auch von sexuellen Übergriffen aus Gruppen heraus auf Passanten. Die Polizei zog knapp 150 Polizisten auf dem Platz zusammen, die teilweise bedrängte Frauen zum Bahnhof begleiteten. Im Bahnhof selbst taten weitere 70 Beamte der Bundespolizei Dienst.

 

Am nächsten Morgen meldete die Polizei keine besonderen Vorkommnisse. „Trotz der ungeplanten Feierpause gestaltete sich die Einsatzlage entspannt“, erklärte sie in einer Pressemitteilung. Auch in den sozialen Medien waren die Übergriffe von Köln am Neujahrstag kein Thema, wie die Süddeutsche Zeitung recherchierte. Vereinzelte Berichte über sexuelle Belästigungen erschienen lediglich in der Kölner Lokalpresse.

 

Am 2. Januar setzte die Polizei dann eine Ermittlungsgruppe ein, um die Vorfälle zu untersuchen. Laut Lokalpresse hatten sich zu diesem Zeitpunkt etwas mehr als 30 betroffene Frauen gemeldet und die Ermittler gingen von über 40 Tätern aus. Erstmals war von „Männern nordafrikanischen Aussehens“ die Rede. Die Polizei vermutete, dass es sich um Personen handle, die ihr seit Monaten aus der Taschen- und Trickdiebsszene bekannt sind. Trickdiebe rempeln ihre Opfer an oder lenken sie anderweitig ab, um sie dann zu bestehlen. Dabei werden manchmal auch sexuelle Belästigungen und Berührungen als Ablenkungsmittel eingesetzt.

 

Nationale Wellen schlugen die Kölner Ereignisse erst nach vier Tagen, als Oberbürgermeisterin Henriette Reker und Polizeipräsident Wolfgang Albers eine Pressekonferenz gaben. Seither beherrschen sie die Schlagzeilen. Die Zahl der Anzeigen stieg auf 121, drei Viertel davon wegen sexueller Belästigung, 50 auch wegen Diebstahls. In zwei Fällen ermittelt die Polizei wegen Vergewaltigung, wobei auch hier nichts über die näheren Umstände bekannt ist. Inzwischen hat die Polizei 16 Tatverdächtige auf Videoaufnahmen ausgemacht. Die meisten sind ihr aber nicht namentlich bekannt. Festnahmen gab es bisher keine.

 

Nimmt man diese spärlichen Informationen, dann scheint in Köln organisierter Trickdiebstahl, für den die Gegend um den Hauptbahnhof berüchtigt ist, mit exzessivem Alkoholkonsum und dessen enthemmende Wirkung in einer großen Menschenmenge zusammengekommen zu sein. Einige betroffene Frauen berichteten von einem Spießrutenlauf, bei dem sie von mehreren Seiten attackiert und begrapscht wurden.

 

Das ist abstoßend, aber in Deutschland keineswegs neu. Bei Großveranstaltungen mit hohem Alkoholgenuss, wie dem Münchner Oktoberfest, kommt es zu ähnlichen Ausschreitungen, wenn vielleicht auch nicht in derart geballter Form. Seit die Kölner Ereignisse die Schlagzeilen beherrschten, gingen auch in Hamburg und in Stuttgart mehrere Dutzend Anzeigen wegen sexueller Attacken in der Silvesternacht ein.

 

Die Ereignisse in Köln haben viel mit der sozialen Krise in deutschen Großstädten zu tun, aber absolut nichts mit dem Zuzug einer knappen Million Flüchtlinge im vergangenen Jahr, die Gewalt gegen Frauen ebenso verabscheuen wie die große Mehrheit der Deutschen und nicht selten davor geflohen sind.

 

Das hinderte Politik und Medien nicht daran, die Kölner Ereignissen zum Ausgangspunkt einer pauschalen Hetzkampagne gegen Flüchtlinge zu machen und eine massive Staatsaufrüstung zu fordern.

 

Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) sprach von „einer völlig neuen Dimension organisierter Kriminalität“. „Wenn tausend Menschen sich zu einer enthemmten Horde zusammenfinden und das offenbar so geplant war, dann ist das nicht weniger als ein zeitweiliger Zivilisationsbruch“, sagte er derBerliner Morgenpost, ohne für die Behauptung, es handle sich um eine geplante Aktion von tausend Menschen, den geringsten Beweis zu erbringen. Der Begriff „Zivilisationsbruch“ war bisher in Deutschland nur für den Holocaust verwendet worden.

 

CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer machte pauschal „junge Migranten“ für die Übergriffe in Köln verantwortlich. Es sei „untragbar, dass Frauen in deutschen Großstädten nachts auf offener Straße, auf öffentlichen Plätzen von jungen Migranten sexuell traktiert und beraubt werden“, sagte er derRheinischen Post.

 

Ähnlich äußerte sich der nordrhein-westfälische Innenminister Ralf Jäger (SPD), der in Pegida-Manier erklärte: „Wir nehmen es nicht hin, dass sich nordafrikanische Männergruppen organisieren, um wehrlose Frauen mit dreisten sexuellen Attacken zu erniedrigen.“

 

Anklänge an das nationalsozialistische Klischee vom fremdrassigen Untermenschen, der deutsche Frauen schändet, sind in beiden Äußerungen unüberhörbar.

 

Die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder (CDU) rief über Twitter zu einer Auseinandersetzung mit „gewaltlegitimierende Männlichkeitsnormen in muslimischer Kultur“ auf, die lange „tabuisiert“ worden sei.

 

Bundesinnenminister Thomas de Maizière sagte zwar, es dürfe „keinen Generalverdacht gegen Flüchtlinge“ geben, um im nächsten Atemzug hinzuzufügen, falls Nordafrikaner die Täter seien, wofür einiges spräche, dürfe nicht „einfach darüber hinweggeredet“ werden.

 

Der Hetze gegen „Nordafrikaner“, „muslimische Kultur“ und „junge Migranten“ folgte in allen Fällen der Ruf nach mehr Polizisten, schärferen Gesetzen und der rücksichtlosen Ausweisung von Flüchtlingen.

 

Bundeskanzlerin Merkel kündigte eine „harte Antwort des Rechtsstaats“ an. Ähnlich äußerten sich Vertreter aller Berliner Parteien, einschließlich der Linkspartei. Deren Thüringer Ministerpräsident Bodo Ramelow lässt derzeit eine Analyse der Gefährdungslage für das ostdeutsche Bundesland erstellen und mahnte, es dürfe „keine rechtsfreien Räume“ geben.

 

Der CDU-Vorstand fordert als Konsequenz aus den Kölner Ereignissen die Einführung der sogenannten Schleierfahndung – von „verdachtsunabhängiger Personenkontrollen“ bei „erheblichen Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“. Ein entsprechender Beschluss soll am Samstag auf einer Klausurtagung in Mainz verabschiedet werden.

 

Die Gewerkschaft der Polizei verlangte von der Politik „mehr Mumm bei der Durchsetzung bestehender Abschiebungs-Regelungen“ und Justizminister Maas versicherte, dass Asylbewerber bereits jetzt nach einer Bestrafung zu einem Jahr Haft ausgewiesen werden könnten.

 

Die Ereignisse in Köln sind der Vorwand und nicht der Grund für die Forderung nach staatlicher Aufrüstung. Leitmedien wie Die Zeit rufen seit langem nach einem „starken Staat“. Er ist untrennbar mit der Rückkehr Deutschlands zum Militarismus und einer aggressiven Außenpolitik verbunden. Die Kriegseinsätze in Afghanistan, Syrien und Mali provozieren ebenso wie die wachsende soziale Ungleichheit massiven Widerstand. Dagegen richtet sich die Staatsaufrüstung.

 

Trotz intensiver Propaganda ist es bisher nicht gelungen, die Opposition gegen Krieg und die Sympathie für Flüchtlinge in breiten Bevölkerungsschichten zu durchbrechen. Nun wird das Thema Gewalt gegen Frauen zu diesem Zweck instrumentalisiert.