Rede und Antworten des Außenministers Russlands, Sergej Lawrow, auf der Pressekonferenz zu den Ergebnissen der Tätigkeit der russischen Diplomatie 2015 am 26. Januar 2016 in Moskau
Guten Tag,
wir halten ein traditionelles Treffen ab – eine große Pressekonferenz, die den Ergebnissen des vergangenen Jahres gewidmet ist. Wir werden bereit sein, ihre Fragen zu den aktuellen Ereignissen zu beantworten.
Das Jahr war schwierig. Es wird sich wohl ins Gedächtnis mit der wachsenden globalen Konkurrenz um Einfluss auf die andauernden Prozesse der Änderung und Bildung eines neuen internationalen Systems einprägen.
In diesem Zusammenhang waren zwei Herangehensweisen zu erkennen, die miteinander kollidierten. Einerseits gab es Versuche, eine objektive Tendenz zur Bildung eines gerechteren polyzentrischen internationalen Systems zu bremsen, seine Dominanz in globalen Angelegenheiten beizubehalten, den Anderen seinen Willen aufzudrängen. Andererseits gab es mehr Streben, diese Konkurrenz in eine zivilisierte Richtung zu lenken und einen gemeinsamen Kampf gegen gemeinsame Herausforderungen in den Vordergrund zu schieben.
Die Situation in der Weltwirtschaft blieb instabil. Das spürten fast alle Länder, darunter die Russische Föderation. Darüber sprachen sehr ausführlich der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, die Mitglieder der russischen Regierung. Vor dem Hintergrund der Probleme in der Weltwirtschaft sahen wir ebenfalls Versuche, eigene Interessen auf Kosten der Anderen zu gewährleisten, handelswirtschaftliche Bündnisse zu schaffen, den globalen Wirtschaftsraum zu zerschmettern. Es gab also einen Aspekt der Entglobalisierung.
Es wurden intensive Medienkampagnen fortgesetzt. Sie wissen wohl darüber mehr als andere. In mehreren Fällen gab es wahre Informationskriege, bei denen versucht wurde, die Verbreitung von alternativen Informationen bzw. Positionen in Bezug auf aktuelle Prozesse nicht zuzulassen. Manchmal wurden harte Maßnahmen getroffen, die mit einem direkten Verbot für den Beruf des Journalisten verbunden sind. Wir wissen auch darüber.
Es gab mehrere ernsthafte Konfliktsituationen – in Syrien, im Irak, Jemen, Libyen und in der Ukraine. In Afrika bleiben viele Länder destabilisiert. Das alles verwandelte sich in „Krisenlandschaften“. Das wurde von Risiken des Wachstums von zwischenkonfessioneller Spannung und Vertiefung der zwischenzivilisatorischen Brüche begleitet, was für unsere Zivilisation im Ganzen äußerst gefährlich ist.
Das alles verlief vor dem Hintergrund eines präzedenzlosen Wachstums der Terrordrohung. ISIL, der sich zu einem Staat erklärte, andere Extremistengruppierungen behielten Kontrolle über mehrere Gebiete in Syrien und im Irak, strebten, und es gelang ihnen in vielen Fällen, sich in anderen Ländern zu festigen, darunter in Libyen, Afghanistan, mehreren Ländern der „Schwarzen Afrika“. Wir waren Augenzeugen der schrecklichen, unmenschlichen Terroranschläge gegen die Staatsbürger Russlands, die Staaten Europas, des Nahen Ostens, Afrikas, der USA, Asiens, die einen massiven Ausgang der Bevölkerung provozierten, darunter in die Europäische Union. Wie Sie wissen, verkünden Terroristen offen über ihre Pläne zur Schaffung eines Kalifats von Portugal bis Pakistan. Das ist eine reale Drohung nicht nur für regionale sondern auch für internationale Sicherheit.
Unter diesen Bedingungen strebte Russland nach aktiven Handlungen als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats, als einer der größten Staaten mit einer aktiven Außenpolitik, ging nicht nur zum Schutz der eigenen nationalen Interessen vor, sondern auch setzte seine Verantwortung für die Lage in der Welt um.
Die wichtigste Richtung unserer Anstrengungen war die Förderung der Initiative des Präsidenten der Russischen Föderation, Wladimir Putin, zur Bildung einer umfassenden Antiterrorkoalition auf Grundlage des Völkerrechts und unter Schirmherrschaft der UNO. Die Handlungen der russischen Luft- und Weltraumkräfte als Antwort auf die Bitte der syrischen Regierung halfen tatsächlich, die Situation im Lande zu ändern, den von Terroristen kontrollierten Raum zu verringern. Im Ergebnis wurde ebenfalls geklärt, wer gegen Terroristen kämpft und wer als ihr Helfer erscheint und sie in ihren egoistischen Zielen nutzt.
Unsere aktive Teilnahme am Antiterrorkampf förderte die Verabschiedung von mehreren wichtigen Resolutionen des UN-Sicherheitsrats, die auf die Verhinderung der Finanzierung von Terrorismus und ausländischen Extremisten gerichtet waren – die Resolutionen 2199 und 2253. Wir streben ihre gewissenhafte Umsetzung und, was ebenfalls wichtig ist, faire und ausführliche Berichte des UN-Sekretariats darüber, wer und wie seine Verpflichtungen zu diesen Dokumenten erfüllt.
Es ist klar, dass der Terror alleine mit militärischen Mitteln nicht zu bekämpfen ist. Man soll bewaffnete Handlungen mit politischen Prozessen zur Konfliktregelung, Maßnahmen zur Nichtzulassung der Nutzung der Wirtschaftsinfrastruktur ergänzen, die sie ergreifen, wie es der ISIL im Irak und in Syrien durch die Lieferung von Schmuggel-Öl und anderen Waren in die Türkei machte. Es ist auch wichtig, über die wirtschaftliche Wiederbelebung von betroffenen Ländern nachzudenken, sobald die Terrorgefahr beseitigt wird, und gegen Extremistenideologie zu kämpfen.
Im September, als Russland den Vorsitz im UN-Sicherheitsrat hatte, führten wir eine spezielle Sitzung auf der Außenministerebene durch, die einer komplexen Analyse aller diesen Drohungen und Maßnahmen gewidmet wurde, die zu ihrer Überwindung in der Region des Nahen Ostens und Nordafrikas getroffen werden sollen. Ich denke, dass das Gespräch darüber, wie man strategisch vorgehen soll, im UN-Sicherheitsrat fortgesetzt werden soll.
Wir förderten ebenfalls aktiv, wie wir einst die Durchführung des Genfer Treffens 2012 förderten, die Verabschiedung der Genfer Erklärung vom 30. Juni 2012, die Bildung der Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens und Start des so genannten „Wiener Prozesses“, der durch die Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrats gebilligt wurde, die strikt erfüllt werden soll. Ich bin davon überzeugt, dass Sie mich noch zu den Details dieses Prozesses befragen werden. Ich bin bereit, sie ausführlicher zu kommentieren.
Der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, sagte mehrmals, dass das Finden der Lösungen von schwierigsten Problemen nur bei der Stützung auf Völkerrecht, Respekt der kulturell-zivilisatorischen Vielfalt der modernen Welt, des Rechtes der Völker, ihr Schicksal selbst zu bestimmen, möglich ist.
Wir gehen davon aus, dass die umfassende Kooperation im 21. Jahrhundert nur auf Grundlage einer wahren Gleichberechtigung, der gegenseitigen Berücksichtigung der Interessen, einer gemeinsamen Arbeit im Interesse der Umsetzung von gemeinsamen Zielen aufgebaut werden kann. Gerade so erfolgt die Tätigkeit der Integrationsstrukturen im postsowjetischen Raum, darunter die Organisation des Vertrags für kollektive Sicherheit (OVKS), Eurasische Wirtschaftsgemeinschaft (EAWG), Gemeinschaft der Unabhängigen Staaten (GUS). Auf diesen Prinzipien funktionieren ebenfalls solche aussichtsreiche Formate wie BRICS und die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), deren Gipfel im Juli des vergangenen Jahres in Ufa stattfanden.
Wir arbeiten an den Integrationsprozessen im postsowjetischen Raum, stellen sie aber nicht anderen Integrationsbemühungen gegenüber, wovon die russische Führung oft sprach. Wir sind bereit, an der Harmonisierung der Integrationsprozesse und am „Bau von Brücken“ zu arbeiten, darunter zwischen Europa, Eurasien und dem Asien-Pazifik-Raum. Im vergangenen Jahr wurde ein wichtiges Freihandelsabkommen zwischen der Eurasischen Wirtschaftsunion und Vietnam abgeschlossen. Zudem zeigen Dutzende Staaten ihr Interesse an ähnlichen Abkommen. Es wurde eine prinzipielle Vereinbarung über die Anpassung der Aktivitäten der Eurasischen Wirtschaftsunion und des chinesischen Projekts des Wirtschaftsgürtels „Seidenstraße“ getroffen, was uns viele Möglichkeiten zur Vereinigung unserer Bemühungen bietet.
Neben der konsequenten Entwicklung unserer strategischen Partnerschaft und allseitigen Kooperation mit der Volksrepublik China bemühten wir uns um die Förderung unserer strategischen Partnerschaft mit Indien, Vietnam und anderen Ländern des Asien-Pazifik-Raums und beteiligten uns an der Arbeit der multilateralen Mechanismen im Asien-Pazifik-Raum.
Zusätzliche Kooperationsperspektiven eröffnen sich im Zusammenhang mit der Initiative des russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Beginn (gemeinsam mit unseren Partnern im Rahmen der Eurasischen Wirtschaftsunion) von Beratungen mit SCO- und ASEAN-Mitgliedern über die Gestaltung der möglichen Wirtschaftspartnerschaft. Diese Fragen werden auf der Tagesordnung eines für Mai in Sotschi angesetzten Russland-ASEAN-Gipfels stehen, der dem 20-jährigen Jubiläum unserer Beziehungen mit ASEAN gewidmet sein wird.
Immer intensiver wurde auch unser Zusammenwirken mit den Ländern Lateinamerikas und der Karibik sowie Afrikas, mit Vereinigungen und regionalen Strukturen auf diesen Kontinenten. Unter anderem lassen sich in diesem Kontext unsere traditionell engen Kontakte mit der Afrikanischen Union, der Arabischen Liga, der Organisation für islamische Kooperation, mit der Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten (SELAC) erwähnen.
Indem sich die russische Diplomatie nach den Prinzipien der Interessenbilanz, der Oberhand der Völkerrechtsnormen und der Führungsrolle der UNO richtete, förderte sie die kollektiven Bemühungen in einer ganzen Reihe von äußerst wichtigen Richtungen der internationalen Tagesordnung.
Ich darf erwähnen, dass im vergangenen Jahr die Entsorgung des syrischen Chemiewaffen-Potenzials abgeschlossen wurde und dass die Situation um das iranische Atomprogramm geregelt wurde. Vor wenigen Tagen wurden die so genannten Sanktionsresolutionen des UN-Sicherheitsrats und des IAEO-Verwaltungsrats außer Kraft gesetzt, so dass die praktische Umsetzung eines Gemeinsamen allumfassenden Aktionsprogramms begann, die den friedlichen Charakter des iranischen Atomprogramms in Übereinstimmung mit dem Atomwaffensperrvertrag und den IAEO-Regeln zur friedlichen Verwendung der Atomenergie garantieren muss. Das ist ein wichtiger Schritt zur endgültigen Normalisierung der Situation um den Iran. Wir befürworten diese Handlungen aktiv, wie auch alle anderen Schritte zur Abschaffung von künstlichen Hürden für internationale Kontakte und für die Beteiligung jedes Staates am internationalen Leben.
Für eine riesige Errungenschaft halte ich die am 12. Februar 2015 in Minsk getroffenen Friedensvereinbarungen. Die ganze Zeit danach beharrten wir auf der Konfliktregelung in der Ukraine auf Basis der Umsetzung der Verpflichtungen, die in diesem Maßnahmenkomplex verankert sind. Wie Sie wissen, wurden nicht alle Vereinbarungen erfüllt. Ich muss sogar sagen, dass sie kaum erfüllt wurden, und das gilt vor allem für die Verpflichtungen Kiews zur Anknüpfung eines direkten Dialogs mit Donezk und Lugansk zwecks Regelung der politischen Aspekte der Ukraine-Krise. Deshalb wurde beschlossen, diese Arbeit 2016 fortzusetzen. Aber die Aufgaben bleiben dieselben, und sie alle sind eindeutig in den Minsker Dokumenten verankert. Wir werden auf ihrer strikten Erfüllung im Sinne der zusätzlichen Vereinbarungen bestehen, die unter anderem bei den Gipfeltreffen des «Normandie-Quartetts» getroffen wurden. Im Allgemeinen werden wir weiterhin auf der allumfassenden und ausschließlich friedlichen Regelung der Ukraine-Krise bestehen und dazu beitragen, dass die Ukrainer wieder ein nationales Einvernehmen erreichen und den Weg zur normalen, stabilen Entwicklung gehen.
Unser konsequenter Kurs trug meines Erachtens trotz der allgemein bekannten „Unkosten“ der Konfrontationspolitik einiger von unseren Partnern und trotz der Entstehung von neuen internationalen Problemen dazu bei, dass alle Teilnehmer der internationalen Kontakte verstanden, dass es keine Alternativen für multilaterales Zusammenwirken zwecks Suche nach Auswegen aus Krisensituationen gibt. Aber dieser Prozess entwickelt sich nicht so schnell und nicht so leicht. Es werden immer wieder Versuche unternommen, Russland einzudämmen, obwohl diese Linie schon längst der Vergangenheit angehören müsste. Dennoch werden neue Versuche unternommen, einseitig von etwas zu profitieren und uns für unsere souveräne Außenpolitik zu bestrafen.
Wir nehmen natürlich Rücksicht darauf und werden das auch weiter tun. Das ist nicht unsere Wahl. Wir sind zu engstem und konstruktivstem Zusammenwirken mit unseren westlichen Partnern bereit, darunter mit Europa und den USA. Wir sind für konsequente Kooperationsentwicklung mit ihnen offen – allerdings nur unter der Bedingung, dass wir uns gegenseitig nicht in interne Angelegenheiten voneinander einmischen und unsere prinzipiellen Interessen gegenseitig respektieren.
Unsere westlichen Partner behaupten manchmal, mit Russland wäre kein „Business as usual“ mehr möglich. Ich bin überzeugt, dass es wirklich so ist, da stimmen unsere Meinungen überein: Es wird tatsächlich kein „Business as usual“ mehr geben, denn früher hatte man versucht, uns Vereinbarungen aufzuzwingen, die vor allem die Interessen der Europäischen Union oder der USA berücksichtigten. Dabei versuchte man, uns zu überzeugen, dass dies unseren Interessen nicht schaden würde. Diese Geschichte ist jedoch zu Ende gegangen. Es beginnt eine neue Geschichte, die sich nur aufgrund der Gleichberechtigung und aller anderen Völkerrechtsprinzipien entwickeln kann.
Vorerst aber sehen wir, dass diese äußerst destruktive und gefährliche Politik gegenüber Russland weiterhin ausgeübt wird. Dabei geht es, wie gesagt, um den Ausbau des militärischen Potenzials der Nato in der Nähe unserer Grenzen, um die Bildung des europäischen und des asiatischen Segments der US-Raketenabwehr. An dieser Arbeit nehmen inzwischen auch europäische und nordostasiatische Staaten teil. Wir halten dieses Vorgehen für destabilisierend und kurzsichtig. Es werden zwar Versuche zu einer Revision dieser Situation unternommen, aber eher erfolglos. So wurde beispielsweise in der OSZE vor einem Jahr die so genannte „Waisengruppe“ gebildet, die Empfehlungen zur Wiederbelebung des Geistes der Schlussakte von Helsinki erarbeiten und zu den Prinzipien der gleichen und unteilbaren Sicherheit zurückkehren sollte. Daraus wurde aber leider nichts. Die westlichen Experten richteten sich nach der Linie ihrer Regierungen, der zufolge Russland eingedämmt werden müsste, so dass unser Experte die Arbeit an diesem Dokument aufgeben musste. Am Ende wurde aus dieser im Grunde guten Idee nichts. Dennoch rechnen wir damit, dass die OSZE keine endgültig „verlorene“ Organisation ist: Sie arbeitet immerhin intensiv in der Ukraine und hat jetzt wieder gute Chancen, die Aufgaben zu erfüllen, die bei ihrer Gründung festgelegt wurden. Hoffentlich wird die Suche nach wirklich kollektiven und gleichberechtigten Vorgehensweisen zwecks Umsetzung der Ideale der gesamteuropäischen Sicherheit doch beginnen.
Zu den Prioritäten unserer außenpolitischen Aktivitäten gehörten immer die Aufgaben zur Förderung der internationalen humanitären Präsenz Russlands, zur Unterstützung unserer Landsleute im Ausland, wo sie sich als Touristen oder mit anderen Zielen aufhalten. Besonders viel Wert legten wir auf den Dialog mit Nichtregierungsorganisationen, akademischen Kreisen, den russischen Geschäftskreisen, der Zivilgesellschaft im Allgemeinen, auf das Zusammenwirken mit Massenmedien. Gestern habe ich die Statistik gesehen: Wir als russisches Außenministerium stehen immer noch auf dem zweiten Platz weltweit nach den medialen Aktivitäten. Das bedeutet, dass wir uns noch verbessern müssen. Hoffentlich wird unsere heutige Pressekonferenz uns im Sinne unserer medialen Offenheit Fortschritte zu machen.
Ich bin bereit, Ihre Fragen zu beantworten.
Frage: Das US-amerikanische strategische Zentrum Stratfor veröffentlichte seinen traditionellen Jahresbericht zu den Ergebnissen des Jahres 2015, in dem ebenfalls eine Prognose für 2016 gegeben wurde. Experten zufolge wird das neue Jahr nicht einfach für die meisten Länder sein. Welche größten Herausforderungen sehen Sie für Russland und die Welt 2016?
Sergej Lawrow: Falls man verallgemeinert spricht, ist natürlich die größte Herausforderung – die Aufgabe zur Schaffung eines gerechten demokratischen internationalen Systems. Wir können dies alleine nicht machen, das ist ein objektiver Prozess. Entstanden neue Zentren des Wirtschaftswachstums, des finanziellen und politischen Einflusses. Das internationale System soll sich dazu anpassen, was im Leben geschieht. Das sieht die Reform der Institutionen vor – sowohl derjenigen, die sich mit den internationalen Finanz- und Währungssystemen, der internationalen Wirtschaft befassen, als auch derjenigen, die sich mit der Weltpolitik befassen, ich meine die UNO und den Sicherheitsrat. Doch am wichtigsten ist, nicht einfach objektive Prozesse in der Struktur der internationalen Organisationen zu widerspiegeln, sondern die Angelegenheiten in der Welt entsprechend der neuen Situation zu führen, was die Ausarbeitung solcher Entscheidungen vorsieht, die von allen wichtigsten Ländern unterstützt werden.
Gute Beispiele sind die Regelung der Situation um das iranische Atomprogramm, die chemische Abrüstung Syriens, die Schaffung einer Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens, um was wir sehr lange und beharrlich kämpften, weil viele Staaten, die direkt in den syrischen Konflikt einbezogen sind, sich weigerten, an den Verhandlungstisch beispielsweise den Iran nur aus ideologischen Gründen einzuladen. Ein großer Fortschritt ist, dass zusammen mit den USA geschaffen wurde (ich muss hier dem US-Außenminister John Kerry und seiner Position stattgeben), auf der Bildung einer wahr repräsentativen Gruppe zu bestehen.
So soll man in allen anderen Situationen vorgehen. Falls wir die Inklusivität bei allen Prozessen sichern werden, dann werden die Akteure, die die Situation beeinflussen, nicht isoliert, sondern an den Verhandlungstisch eingeladen. Das wird die Widerspiegelung der Tendenz der modernen Welt, der Notwendigkeit sein, neue Realien in der Welt, der Weltpolitik und Wirtschaft zu berücksichtigen.
Darin besteht wohl der Schlüssel zu jedem Konflikt, jeder Situation, die gelöst werden soll – die Ukraine, bleibende Aufgaben zur Syrien-Regelung, Konflikte in Afrika, Beziehungen zwischen Palästinenser und Israelis, von denen man auf keinen Fall vergessen darf. Dieses Prinzip ist bei der Lösung der heutigen Hauptaufgabe nachgefragt – Antiterrorkampf. Wenn man versucht, diesen Kampf in Abhängigkeit von Sachen zu bringen, die nicht dazu gehören (beispielsweise – falls sie dem Regimewechsel in Syrien zustimmen, werden wir gegen den Terror gemeinsam und koordiniert kämpfen), halte ich dies für einen großen Fehler der Politiker, die solche Position vertreten.
Ein weiterer Aspekt, der eine Herausforderung für die Weltpolitik ist – die Verhandlungsfähigkeit der Partner, die jegliche Abkommen unterzeichnen. In mehreren Fällen ist es ein Problem. Wir sahen mehrmals ein ähnliches Problem bei den Anstrengungen zur Syrien-Regelung, als man sich weigerte, die Genfer Erklärung nur aus dem Grund zu erfüllen, dass dorthin die Forderungen Assads Rücktritts nicht passten. Im Ergebnis wurde nach mehr als einem Jahr unser Vorschlag durchgesetzt, dieses Dokument wurde im UN-Sicherheitsrat gebilligt. Danach konnten wir lange Zeit nicht Verhandlungen wiederaufnehmen, obwohl dies vereinbart wurde, weil wie ich bereits sagte, jemand sich nicht an den Verhandlungstisch mit jemandem setzen wollte.
Solche Launen sind in der modernen Politik unzulässig und sehr gefährlich. Es gibt wichtigste Dinge, die eine Herausforderung für uns bei der Arbeit an der Bildung eines neuen internationalen Systems sind, das sich auf den UN-Statut stützen und auf Grundlage der Prinzipien des Statuts ergänzt wird, der ein sehr flexibles Dokument ist und es keine Notwendigkeit gibt, ihn zu ändern. Falls wir das systematische Herangehen bei der Arbeit der wichtigsten Akteure in der G20 sowie UN-Sicherheitsrat und der Internationalen Gruppe zur Unterstützung Syriens und den Strukturen, die sich mit der Regelung im Jemen, Afghanistan, bei der palästinensisch-israelischen Regelung, in verschiedenen Teilen Afrikas befassen, gewährleisten können, dann wird es die Vorwärtsbewegung fördern.
Frage: Im Laufe der letzten drei Jahren waren die Beziehungen zu Kanada kühl gewesen. Wie denken Sie, können sich die Beziehungen mit dem Machtantritt der neuen Regierung in Kanada verbessern? Sehen Sie irgendwelche Signale dafür?
Sergej Lawrow: Wir sind an guten Beziehungen mit allen Ländern interessiert. Wenn wir sagen, dass wir bereit und offen zur Kooperation mit dem Westen sind, darunter Europa und Nordamerika, meinen wir natürlich auch Kanada. Wir haben sehr gute lange Beziehungen. Kanada ist ein einflussreicher, respektierter Teilnehmer der internationalen Beziehungen. Wir haben in vielen Hinsichten gemeinsame Aufgaben, die übereinstimmenden Interessen, was die Erschließung der Arktis und die Zusammenarbeit in nördlichen Breiten betrifft, eine gute Erfahrung der praktischen Kooperation in vielen Bereichen – Wirtschaft, Handel, nördliche Breiten. Bei unseren Beziehungen gab es Hochs und Tiefs, doch im Ergebnis überwiegte immer der gesunde Verstand. Solche Tiefs waren in der Amtszeit der Regierung von Stephen Harper zu erkennen.
Ich denke, dass die letzten zwei Jahre die Zeit der verlorenen Möglichkeiten bei den Beziehungen mit Kanada war, als die frühere Regierung den russenfeindlichen Kurs aufnahm, Sanktionen gegen russische physische und juridische Personen einführte, die Kooperation der Zwischenregierungskommission zu handelswirtschaftlichen Fragen einstellte.
Selbstverständlich mussten wir Gegenmaßnahmen treffen. Sie wissen über den Erlass des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, zur Einschränkung des Imports von Lebensmitteln. Niemand profitierte davon. Wir wurden von einer völligen Abwesenheit von Pragmatismus bei impulsiven Handlungen überrascht, die von der vorherigen Regierung unternommen wurden, wobei der Kurs auf eine blinde Befolgung der Forderungen der Vertreter der abgebrühten ukrainischen Diaspora in Kanada genommen wurde, wobei eigene Interessen einfach ignoriert wurden.
Dass im Oktober 2015 bei der Wahl die Liberale Partei mit Justin Trudeau an der Spitze gewann, ist natürlich ein großes Ereignis, vor allem für Kanadier, für das innenpolitische Leben des Landes. Doch angesichts der Kommentare, die Trudeau und seine Kollegen in der Außenpolitik machen, könnte man damit rechnen, dass neue Möglichkeiten zur Verbesserung unserer gegenseitigen Beziehungen entstehen, die künstlich erschwert wurden. Ich wiederhole, dass die Wahlrhetorik und die Rhetorik der neuen Regierung nach der Wahl darauf hinweisen, dass sie bereit sind, den Dialog zu internationalen Problemen und die gegenseitige Kooperation wiederaufzunehmen.
Im November fand am Rande des G20-Gipfels das Gespräch des Präsidenten Russlands, Wladimir Putin, mit dem neuen Regierungschef Kanadas, Justin Trudeau, statt. Beide Seiten äußerten den Wunsch, die Bereitschaft und das Interesse an der Normalisierung der Beziehungen. Wir gehen davon aus, dass praktische Schritte von unseren kanadischen Partnern ausgehen sollen, die ihre Bereitschaft erklärten, die Fehler ihrer Vorgänger zu revidieren. Wir werden warten. Wir sind zu solchen positiven Änderungen immer bereit.
Frage: Ich möchte eine Frage zu den Beziehungen zwischen Russland und Deutschland stellen, die sich in der letzten Zeit leider verschlechterten. Denken Sie, dass diese Beziehungen in die Sackgasse gerierten und sich in einer Krise befinden? Was erwarten Sie von deutschen Partnern, um sie zu verbessern? Es ist kein Geheimnis, dass wir in Bezug auf Deutschland oft über die Europäische Union und in Bezug auf die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland oft über die Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union sprechen, wobei Deutschland als Lokomotive Europas bezeichnet wird. Ich stelle diese Frage kurz vor Besuch eines des führenden deutschen Politikers, Horst Seehofer nach Russland und seines Treffens mit Präsident Wladimir Putin.
Sergej Lawrow: Ich würde die Beziehungen zwischen Russland und Deutschland nicht als Beziehungen bezeichnen, die in einer Krise geschweige denn in einer Sackgasse stecken. Wir haben einen intensiven Dialog auf der höchsten Ebene zwischen Russlands Präsident Wladimir Putin und der Kanzlerin Angela Merkel, auf der Ebene der Außenminister und anderer Minister. Die Tätigkeit von mehreren Mechanismen, die unsere Vorwärtsbewegung fördern, wurde erschwert, jedoch nicht eingestellt, vor allem dank der Position der deutschen Wirtschaft, die die Tätigkeit zur Festigung der Verbindungen mit russischen Partnern fortsetzt. Ich habe gehört, dass einige Dutzende bzw. Hunderte deutsche Unternehmen ihre Tätigkeit in Russland einstellten, die Zahl der in Russland tätigen Unternehmen liegt jedoch immerhin bei mehreren Tausend. In den letzten zwei Jahren traf ich zwei bzw. dreimal führende Unternehmer Deutschlands, einmal in Moskau, einmal in München, wo wir mit Vizekanzler Sigmar Gabriel einen gemeinsamen Dialog mit den Unternehmern Deutschlands und Russlands führten. Ich sehe, inwieweit pragmatisch und vernünftig deutsche Unternehmer die Situation einschätzen.
Falls wir pragmatisch sein werden und über unsere nationalen Interessen nachdenken, die keine internationalen Verpflichtungen verletzen, ist ein positives Ergebnis zu erreichen. Eines der Beispiele ist die begonnene aktive Arbeit zur Projektierung und Schaffung der Gaspipeline Nord-Stream-2. Dieses Projekt ist absolut wirtschaftlich, kommerziell, es ist für Deutschland, ganz Europa und Russland gewinnbringend. Dass dieses Projekt ideologisch kritisiert wird und dazu aufgerufen wird, mit Russland nicht zu kooperieren, weil dies der Ukraine schaden würde (obwohl wir alle wissen, wozu die Arbeit notwendig war, die Abhängigkeit vom ukrainischen Transit abzubauen), ist es ein Versuch, unsere Beziehungen von außen zu erschweren, wobei zu irgendeiner atlantischen, EU-Solidarität aufgerufen wird.
Ich möchte, dass nicht nur in diesem, sondern auch in allen anderen Fällen Deutschland wie auch Europa und jedes andere Land Entscheidungen unabhängig davon treffen, welcher Beamte eines Nachbarlandes einreiste und empfahl, was gemacht werden soll, sondern abhängig von eigenen nationalen Interessen.
Wir sehen, inwieweit schwierig jetzt eine einheitliche Richtlinie der EU nicht nur in Bezug auf die Migrationsfrage sondern auch bei vielen anderen Fragen gestaltet wird. Wir sehen, wie groß die Rolle Deutschlands als führendes Land, Lokomotive der EU ist, inwieweit Deutschland die Berücksichtigung der Interessen aller EU-Länder will. Es wird immer schwieriger, dies zu machen. Wir sind nicht an der Abschwächung der EU interessiert, dass dort irgendwelche Brüche entstehen. Wir sind an einer einheitlichen und starken Europäischen Union interessiert, mit der es komfortabel ist, in der Wirtschaft und bei anderen Fragen zu arbeiten. Doch wir können nicht die Situation ignorieren. Wir sehen und schätzen die Anstrengungen Deutschlands ein, die darauf gezielt sind, dass die innerhalb der EU existierende aggressive Minderheit bei mehreren Fragen, nicht nur in Bezug auf die Beziehungen zu Russland, sondern auch bei anderen Fragen des inneren Aufbaus der EU, ihre Ambitionen abbaut und allgemeinen Regeln folgt, die sich sowohl in der EU als auch in jeder anderen normalen gleichberechtigten Organisation nur auf Konsens stützen können. Wir wünschen Deutschland auch Erfolg dabei, schwere Probleme zu lösen, die mit Migranten verbunden sind. Ich hoffe, dass diese Probleme nicht verschwiegen werden, es wird nicht mehr solche Situationen wie mit dem russischen Mädchen Lisa geben, wenn die Nachricht über ihre Verschwinden aus irgendwelchen Grund lange verheimlicht wurde. Jetzt arbeiten wir mit seinem Anwalt, der mit seiner Familie und unserer Botschaft arbeitet. Es ist klar, dass das Mädchen nicht freiwillig für 30 Stunden verschwand. Hier sollte Wahrheit und Gerechtigkeit siegen.
Ich hoffe, dass diese Migrationsprobleme nicht zum Versuch führen, die Wirklichkeit aus irgendwelchen innenpolitischen Gründen zu tarnen, das wäre nicht richtig. Probleme sollen fair dargelegt werden, über die den Wählern mitteilen und offene und verständliche Lösungen anbieten.
Wir sind aufrichtig daran interessiert, dass diese nicht einfache Periode in Deutschland ohne bedeutende Verluste verläuft und Lösungen zum Thema Migration sowohl im Lande als auch in der EU, bei anderen Fragen, die die EU in der nächsten Zeit erörtern wird, darunter wie das Referendum in Großbritannien sowie das Referendum in den Niederlanden zum Assoziierungsabkommen mit der Ukraine die Zukunft der EU beeinflussen wird, gefunden werden. Das sind ernsthafte Herausforderungen für die EU. Diejenigen, die daran interessiert sind, dass diese Struktur einig, effektiv bleibt (nur in diesem Fall kann sie ein komfortabler Partner für Russland und alle anderen sein), sollen der EU wünschen, entsprechende Lösungen zu finden, die einen Konsens sichern würden, der sich auf das Prinzip der Solidarität stützen, jedoch nicht auf Kosten der dritten Länder erreicht wird, damit sie sich auf das Gleichgewicht der nationalen Interessen der EU-Länder stützen.
Fortsetzung folgt…
Quelle: Außenministerium der Russischen Föderation