Zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiß man nicht, wer die Attentate von Paris und Brüssel in Auftrag gegeben hat. Mehrere Fährten wurden genannt. Indessen wurde bislang nur die Hypothese einer durch die Türkei veranlassten Operation gestützt. Thierry Meyssan berichtet über den geheimen Konflikt, der seit fünf Jahren die Beziehungen zwischen der Europäischen Union, Frankreich und der Türkei belastet.
Es ist zu früh, um mit Sicherheit die Auftraggeber für die Anschläge zu bestimmen, die am 13. November 2015 Paris und am 22. März 2016 Brüssel getroffen haben. Doch liefern zur Zeit nur die Elemente, die wir darlegen werden, eine vernünftige Erklärung dazu.
Unmittelbar nach dem Tod des Begründers des türkischen Islamismus Necmettin Erbakan und gleich nach Beginn des „Arabischen Frühlings“ traf die Regierung Erdoğan ein Geheimabkommen mit Frankreich. Nach den Angaben eines Diplomaten, der dieses Dokument geprüft hat, legt es die Bedingungen für die Teilnahme der Türkei an den Kriegen gegen Libyen (der gerade begonnen hatte) und gegen Syrien (der folgen würde) fest. Frankreich, das durch seinen Außenminister Alain Juppé vertreten wurde, setzt sich besonders ein, um die „kurdische Frage“ zu regeln ohne „die Integrität des türkischen Staatsgebietes zu beeinträchtigen“; eine spitzfinde Formulierung als Hinweis darauf, dass anderswo ein Pseudo-Kurdistan geschaffen werden soll und man die Mitglieder der PKK dorthin abschieben will. Dieses Projekt einer ethnischen Säuberung, das nicht neu ist, war bis dahin ausschließlich in der isrelischen Militärliteratur angeführt worden, die den neuen Staat an der Grenze zwischen Irak und Syrien beschrieb.
Am 31. Oktober 2014 nutzt Präsident François Hollande einen offiziellen Besuch von Recep Tayyip Erdoğan in Paris, um ein geheimes Treffen im Élysée-Palast mit dem Co-Vorsitzenden der Kurden in Syrien, Salih Muslim, zu organisieren. Dieser verrät die Kurden der Türkei und ihren Führer Abdullah Öcalan, indem er sich bereit erklärt, der Präsident von Pseudo-Kurdistan zu werden, das anlässlich des Umsturzes des demokratisch gewählten Präsidenten Baschar al-Assad geschaffen werden soll.
Dies ist der Zeitpunkt des Kampfes um Kobane. Mehrere Monate lang verteidigen die syrischen Kurden die Stadt gegen Daesch. Ihr Sieg wird das politische Kampffeld verändern: Wer die Dschihadisten tatsächlich bekämpfen will, muss sich mit den Kurden verbünden. Nun haben die syrischen Kurden die Staatsangehörigkeit erst zu Beginn des Krieges erhalten, bis dahin waren sie türkische politische Flüchtlinge in Syrien, die während der Unterdrückung in den 1980er Jahren aus dem Land gejagt worden waren. Die Mitgliedstaaten der Nato betrachteten deshalb die PKK, die wichtigste kurdische Guppierung in der Türkei, als terroristische Organisation. Seit der Zeit unterscheiden sie die schlechte türkische PKK und die gute syrische YPG, obwohl die beiden Organisationen Schwestern sind.
Mit einem Theaterstück kommt Frankreich am 8. Februar 2015 auf sein früheres Engagement zurück. François Hollande empfängt im Élysée-Palast, diesmal offiziell, Asya Abdullah, die Co-Vorsitzende der syrischen Kurden, die Öcalan treu geblieben ist, und die Kommandantin Nesrin Abdullah im Tarnanzug. Salih Muslim ist bei diesem Treffen nicht anwesend.
Recep Tayyip Erdoğan reagiert mit dem Auftrag zu einem Attentat durch Daesch am 20. Juli 2015 gegen eine prokurdische Demonstration in Suruç. Er legt sich die westliche antiterroristische Rhetorik zu und erklärt gleichzeit Daesch und den Kurden den Krieg, setzt seine militärischen Möglichkeiten aber nur gegen die letzteren ein. Dadurch beendet er den Waffenstillstand und bringt den Bürgerkrieg in sein eigenes Land zurück. In Ermangelung eines Pseudo-Kurdistan in Syrien wird er den Exodus der Kurden nach Europa auslösen.
Am 3. September 2015 markiert die Veröffentlichung des Fotos eines ertrunkenen kurdischen Kindes den Beginn einer umfangreichen Migrationswelle von der Türkei in die Europäische Union, vor allem nach Deutschland. In den ersten Wochen beglückwünschen sich die deutschen Führungspersonen für diesen starken Zustrom neuer Arbeitskräfte, für die in ihrer Schwerindustrie großer Bedarf ist, gleichzeitig äußern die Medien Mitleid mit den Flüchtlingern, die vor der syrischen Diktatur fliehen würden. Mehr noch, am 29. September nimmt die französische und die deutsche Führung das Mitgefühl für die Flüchtlinge in den Mund, um die Subventionsmöglichkeiten für die Fortsetzung des Krieges durch Ausschüttung von drei Milliarden Euro an die Türkei zu prüfen; ein Geschenk, das der Öffentlichkeit als humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge präsentiert wird.
Ende September 2015 beginnt Russland seinen Militäreinsatz gegen Terroristen aller Schattierungen. Folglich sieht Recep Tayyip Erdoğan sein Projekt verpuffen. Da bewegt er Salih Muslim dazu, eine Operation zur Zwangskurdisierung Nordsyriens zu starten. Kurdische Brigaden vertreiben die arabischen und assyrischen Lehrkräfte von den Schulen und ersetzen sie durch kurdische Lehrer. Die Syrer lehnen sich dagegen auf und wenden sich an die Russen, die die Lage beruhigen, nicht ohne die spätere Föderalisierung Syriens ins Gespräch zu bringen. Nach Frankreich sucht man vergeblich.
Am 13. November nimmt die Türkei, verärgert über die Kehrtwende von François Hollande, Frankreich als Geisel und gibt die Attentate in Paris in Auftrag, die 130 Tote und 413 Verletzte zum Ergebnis haben.
Damals schrieb ich: „Die aufeinander folgenden französischen Regierungen haben Bündnisse mit Staaten geschmiedet, deren Werte im Widerspruch mit jenen der Republik sind. Sie verpflichteten sich allmählich geheime Kriege für sie zu liefern, bevor sie sich zurückzogen. Präsident Hollande, sein Stabschef General Benoit Puga, sein Außenminister Laurent Fabius und sein Vorgänger Alain Juppé sind heute Gegenstand einer Erpressung, der sie nur werden entkommen können, indem sie zeigen, wie sie das Land irregeführt haben.“ [1]
In Angst und Schrecken versetzt kommt Paris überstürzt auf den Juppé-Plan von 2011 zurück. Mit London bringt es am 20. November den Sicherheitsrat zur Annahme der Resolution 2249. Unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Daesch geht es darum, die Eroberung Nordsyriens zu rechtfertigen, um dort endlich das Pseudo-Kurdistan zu schaffen, wohin Recep Tayyip Erdoğan „seine“ Kurden vertreiben kann. Doch die Vereinigten Staaten und Russland ändern den Text leicht ab, so dass Frankreich und Großbritannien nicht eingreifen können, ohne durch Syrien dazu eingeladen worden zu sein; eine Situation, die durchaus an den verpassten Kolonialeinsatz von 1956 erinnert, als die französisch-britischen Truppen versuchten, mit der Unterstützung Israels den Suezkanal und die Türkei zu besetzen, aber sich angesichts des Stirnrunzelns der Vereinigten Staaten und Russlands zurückziehen mussten.
In den fünfeinhalb Monaten des russischen Einsatzes in Syrien hat die Verschlechterung der türkisch-russischen Beziehungen kein Ende genommen. Der Anschlag im Sinai auf den Metrojet-Flug 9268, die Anschuldigungen von Wladimir Putin auf dem G20-Gipfel in Antalya, die Zerstörung der Suchoi Su-24 und die russischen Sanktionen gegen die Türkei, die Veröffentlichung der Luftaufnahmen des Schöpfrades von Tanklastern, die das durch Daesch gestohlene Öl auf den Weg durch die Türkei brachten usw. Nachdem Russland in Betracht gezogen hatte, gegen die Türkei in den Krieg zu treten, entschied es sich schließlich für ein subtileres Vorgehen und für die Unterstützung der PKK gegen die Regierung Erdoğan. Sergej Lawrow gelang es, seinen US-amerikanischen Partner davon zu überzeugen, die von der Türkei ausgehende Destabilisierung zu nutzen, um einen Umsturz des Diktators Erdoğan zu organisieren. Die türkische Regierung sieht die Bedrohung durch Russland und durch die USA zugleich und versucht, neue Verbündete zu gewinnen. Am 5. März begibt Ahmet Davutoğlu sich nach Teheran, während der iranische Außenminister Mohammad Javad Zarif am 18. März nach Ankara reist. Aber die Islamische Republik will sich nicht mit den beiden Großen überwerfen.
Am 14. März kündigt Wladimir Putin den Rückzug der russischen Kampfflugzeuge an, das Projekt Pseudo-Kurdistan wird also wieder möglich. Aber Moskau und Washington sind einen Schritt voraus: Sie beginnen indirekt Waffen an die PKK zu liefern.
Pech, dass nun die Europäische Union nichts mehr von der Kolonisierung Nordsyriens hören will. Die Mehrheit der Mitgliedstaaten folgt der Außenpolitik, die seit fünf Jahren von Paris – mit dem mangelnden Erfolg, an den man gewöhnt ist – aufgelegt wird. Um ihren Ärger hervorzuheben haben einige Staaten, darunter Belgien, türkischen Kurdenführern politisches Asyl gewährt. Ihre schlechte Stimmung drücken sie beim EU-Türkei-Gipfel am 17. und 18. März aus, in dessen Verlauf sie dazu gezwungen werden, endgültig die Subventionierung Ankaras mit drei Milliarden Euro jährlich zu beschließen.
Ich habe das Verhalten der europäischen Eliten angeprangert, die durch ihre antisyrische Besessenheit blind sind und denselben Fehler wie 1938 wiederholen. Zu jener Zeit hatten sie im Wahn ihres Antikommunismus den Reichskanzler Hitler bei der Annexion Österreichs und in der Sudetenkrise (Münchner Verträge) unterstützt, ohne zu begreifen, dass sie die Hand bewaffneten, die sie schlagen würde [2].
Während des EU-Türkei-Gipfels, also unabhängig von den Entscheidungen, die dort getroffen würden, hält Präsident Erdoğan aus Anlass des 101sten Jahrestags der Schlacht von Çanakkale („die Dardanellenschlacht“; der Sieg des Osmanischen Reiches über die Allierten) und zum Gedächtnis der Opfer des einige Tage zuvor in Ankara verübten Anschlags eine Fernsehrede. Er erklärt: „Hier gibt es keinen Grund, dass die Bombe, die in Ankara explodiert ist, nicht in Brüssel explodiert oder in einer anderen europäischen Stadt (…) Hier appelliere ich an die Staaten, die ihnen die Arme aufmachen, die direkt oder indirekt terroristische Organisationen unterstützen. Sie füttern eine Schlange in Ihrem Bett. Und diese Schlange, die Sie füttern, kann Sie jederzeit beißen. Vielleicht bedeuten die Bomben, die Sie in der Türkei auf Ihren Fernsehschirmen explodieren sehen, nichts für Sie; aber wenn die Bomben beginnen, in Ihren Städten zu explodieren, werden Sie sicherlich verstehen, was wir fühlen. Aber dann wird es zu spät sein. Hören Sie auf, Aktivitäten zu unterstützen, die Sie nie in Ihrem eigenen Land tolerieren, außer wenn sie gegen die Türkei sind“ [3].
Vier Tage später wird Brüssel von den Anschlägen getroffen, 34 Tote und 260 Verletzte sind das Ergebnis. Und auf dass man dies nicht für einen Zufall hält, sondern für eine vorsätzliche Tat, begrüßt die türkische Presse am Tag darauf die Strafe, die Belgien zugefügt wurde [4].
Innerhalb der Türkei hat der Bürgerkrieg, seit Präsident Erdoğan ihn neu begonnen hat, bereits 3.500 Menschen das Leben gekostet.
Von Thierry Meyssan
Übersetzung: Sabine
Quelle: Voltairenet