Das Kriegsgericht für Ex-Jugoslawien in Den Haag hat gestern den Führer der serbischen Nationalisten Vojislav Seselj sensationell für unschuldig erklärt, schreibt die Zeitung «Kommersant» am Freitag.
Die Staatsanwaltschaft hatte ihn zahlreicher Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit während der Kriegshandlungen in Kroatien und Bosnien in den Jahren 1991 bis 1995 beschuldigt und eine Haftstrafe von 28 Jahren gefordert. Das Tribunal für Ex-Jugoslawien wies jedoch alle neun Anklagepunkte zurück. Diesen zufolge hatte Seselj bewaffnete Formationen angeführt, die das Ziel verfolgt hatten, den Staat Großes Serbien zu bilden, dem neben Serbien auch Montenegro, Mazedonien und große Teile Kroatiens und Bosniens angehören sollten. Außerdem soll er seine Kämpfer zu Tötungen friedlicher Einwohner aufgerufen bzw. provoziert haben.
Im Jahr 2014, schon nach dem Beginn des Strafprozesses, gestattete das Tribunal Seselj, auf sein Urteil in der Heimat zu warten: Bei dem Angeklagten war zuvor Krebs entdeckt worden. Ihm wurden allerdings jegliche politische Aktivitäten untersagt. Zudem wurde er verpflichtet, unverzüglich nach Den Haag zurückzukehren, sobald das nötig sein sollte. Nach seiner Rückkehr nach Belgrad erklärte Seselj jedoch, er würde keine dieser Forderungen erfüllen. Und nun wurde er offiziell freigesprochen.
Die gestrige anderthalbstündige Rede des Richters Jean-Claude Antonetti klang wie ein Schuldspruch, allerdings nicht für den Angeklagten, sondern für die Ankläger. Er nannte die Anklage „inkonsequent“ und das Vorgehen der Staatsanwälte „maximalistisch“ und rechtfertigte Seselj nach allen neun Punkten. Zunächst erklärte Antonetti, dass der Angeklagte keine bewaffneten Formationen angeführt habe. Dann stellte er fest, dass Seselj keine Verbrechen gegen die Menschlichkeit sowie keine Kriegsverbrechen wie Morde, Gewaltanwendung, Deportierung und Beraubung von Zivilisten begangen habe. Und schließlich beschloss das Gericht, dass es zwischen den martialischen Aufrufen des Radikalenführers und den von Serben begangenen Verbrechen keine Verbindung gebe. Auffallend ist auch die Feststellung des Gerichtsvorsitzenden, dass das Projekt Großes Serbien „keine kriminellen, sondern politische Ziele verfolgt“ habe. Acht von neun Beschlüssen traf das Gericht nicht einstimmig: Zwei Richter waren dafür und einer dagegen.
Die Staatsanwaltschaft schloss gestern nicht aus, Einspruch einzulegen, weil im Laufe der Gerichtsverhandlungen „eine Reihe von Fehlern“ begangen worden sei. Vojislav Seselj erklärte seinerseits, er werde möglicherweise vom Kriegsgericht für Ex-Jugoslawien eine weitere Entschädigung in Höhe von zwei Millionen Euro verlangen (zuvor hatte er bereits zwölf Millionen Euro verlangt). „All die Jahre habe ich sehr gelitten, als ich auf das Urteil wartete“, betonte er und stellte gleichzeitig fest, dass es in Den Haag inzwischen „zwei ehrliche Richter“ (Jean-Claude Antonetti und Mandiaye Niang) gebe, „die gezeigt haben, dass Professionalismus und Ehre wichtiger als jeglicher politischer Druck sind.“
Russlands Vizepremier Dmitri Rogosin begrüßte den Freispruch für Seselj. „Ich gratuliere meinem Freund zu diesem Sieg“, schrieb er auf Twitter. „Aber wer könnte denn seine im Gefängnis (…) verlorengegangene Gesundheit wieder verbessern?“
Auf dem Balkan wurde der Freispruch für Seselj unterschiedlich wahrgenommen. „Das ist eine Schande! Das Kriegsgericht in Den Haag und die Staatsanwaltschaft sind gescheitert“, erklärte der kroatische Ministerpräsident Tihomir Oreskovic. „Ich verstehe nicht, wie jemand, dessen Teilnahme an der Aggression auf dem Territorium von Bosnien und Herzegowina bewiesen worden war, freigesprochen werden konnte“, stimmte sein bosnischer Amtskollege Denis Zvizdic zu. Der Präsident der Republika Srpska, des Staatsgebildes auf dem Territorium von Bosnien und Herzegowina, Milorad Dodic, äußerte sich noch schärfer: Den Freispruch für Seselj nannte er „einen neuen Beweis für die rechtliche Ehrenlosigkeit, zu der das Tribunal in Den Haag seit Jahren beiträgt“.
In Serbien sprach man gestern viel davon, dass das Urteil eine wichtige Rolle im Vorfeld der für den 24. April angesetzten vorzeitigen Parlamentswahl spielen könnte. „Jetzt werden die Radikalen mit einem besseren Ergebnis rechnen“, findet der Direktor des balkanischen Zentrums für Regionalismus, Alexander Popow. Laut bisherigen Umfragen könnte Seseljs Partei auf etwa sechs Prozent der Stimmen hoffen. Vor einigen Tagen erklärte Seselj aber, er rechne mit 20 Prozent.
Egal wie, aber der radikale Nationalismus, den der inzwischen ehemalige Angeklagte Seselj verkörpert, könnte in die serbische Politik zurückkehren, was aber neue Erschütterungen für den Balkan bedeuten könnte.
Quelle: Sputniknews