Der Waffenstillstand in Syrien droht von einer Miliz zu Fall gebracht zu werden, die von Verbündeten Deutschlands aufgerüstet und auf Druck auch der Bundesregierung in die Genfer Syrien-Verhandlungen eingebunden wurde.
Berichten zufolge nimmt die Miliz Ahrar al Sham zur Zeit an einer Militäroffensive des Al Qaida-Ablegers Al Nusra teil. Während für Al Nusra der Waffenstillstand nicht gilt, ist Ahrar al Sham in ihn einbezogen. Die Miliz ist von Berlins NATO-Partner Türkei sowie von Qatar, einem zentralen Verbündeten der Bundesrepublik in Mittelost, finanziert und aufgerüstet worden. Außenminister Frank-Walter Steinmeier hat sich energisch dafür eingesetzt, sie in die Oppositionsdelegation bei den Genfer Verhandlungen aufzunehmen, obwohl sie seit Jahren eng mit Al Nusra (Al Qaida) kooperiert. Eine neue Analyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) bestätigt, dass die militärische Kooperation auf großer ideologischer Nähe beruht. Auch sei Ahrar al Sham in Massaker an der alawitischen Minderheit involviert gewesen. Die Miliz werde oft als «syrische Taliban» bezeichnet, berichtet ein führender deutscher Salafismus-/Jihadismus-Experte. Wie er erklärt, stärkt, «wer sie aufwertet, indirekt … al Qaida». Dies trifft enge Verbündete Berlins sowie das Auswärtige Amt.
Waffenstillstand gebrochen
Der UN-Sonderbeauftragte für Syrien, Staffan de Mistura, stuft die für diese Woche angekündigte Runde der Genfer Syrien-Verhandlungen als «entscheidend» ein. Man werde die Gespräche «vor allem auf den politischen Übergang, auf die Regierungsführung und auf die Verfassungsprinzipien» fokussieren, erklärte de Mistura am gestrigen Montag nach einem Zusammentreffen mit Syriens Außenminister Walid al Muallim in Damaskus. Er hoffe auf eine «konstruktive» und «konkrete» Debatte. Berichten zufolge hat Muallim erklärt, die syrische Regierung sei zu Gesprächen über eine politische Lösung ohne Vorbedingungen bereit.[1] Allerdings ist unklar, ob der Waffenstillstand, der bislang mit Abstrichen eingehalten wird, weiter Bestand hat. Laut Beobachtern hat der Al Qaida-Ableger Al Nusra, für den der Waffenstillstand nicht gilt, eine neue Offensive gestartet. Diese führt er gemeinsam mit verbündeten Rebellenmilizen, darunter die Miliz Ahrar al Sham.[2] Ahrar al Sham allerdings ist offiziell in den Waffenstillstand eingebunden und hat sogar an den Genfer Verhandlungen teilgenommen. Bei der gemeinsamen Offensive von Al Nusra, Ahrar al Sham und weiteren Milizen kamen in den vergangenen zwei Tagen in Aleppo 35 Kämpfer ums Leben. Nimmt Ahrar al Sham weiterhin an der Offensive teil, stünde der Waffenstillstand womöglich vor dem Aus.
Syriens Taliban
Die militärische, aber auch die politische Praxis von Ahrar al Sham ist Gegenstand einer aktuellen Untersuchung, die die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) soeben veröffentlicht hat. Autor ist Guido Steinberg, ein Mitarbeiter der SWP, der als einer der führenden deutschen Kenner des Salafismus und des Jihadismus im Nahen und Mittleren Osten gilt. Steinberg ordnet Ahrar al Sham klar dem salafistischen Spektrum zu.[3] Wie er erläutert, will die Miliz, die mit bis zu 20.000 Kämpfern als die stärkste unter den Aufständischen in Syrien gilt, dort «einen islamischen Staat» errichten, «der auf dem islamischen Recht, der Scharia, beruhen soll». Sie stehe ideologisch dem syrischen Ableger von Al Qaida, der Al Nusra-Front, «sehr nahe». Mit Al Nusra kooperiert sie kontinuierlich bereits seit 2012 und ist mit ihr seit 2015 im Rahmen des Bündnisses Jaish al Fatah («Armee der Eroberung») fest zusammengeschlossen. «Die ideologische Nähe und fast schon symbiotische Zusammenarbeit mit der Nusra-Front haben bewirkt, dass die Ahrar ash-Sham häufig als ‘syrische Taliban’ bezeichnet werden», berichtet Steinberg: «Ebenso wie die afghanischen Taliban sind die Ahrar zwar eine insgesamt nationalistische Gruppierung, haben aber auch einen starken Flügel, der eher al-Qaidas internationalistischem Jihadismus zuneigt.»
Massaker an Alawiten
Zwar habe die Führung von Ahrar al Sham «nie im Detail ausgeführt», wie der von ihr erstrebte Staat politisch «gestaltet werden» solle, erklärt Steinberg; doch wäre er wohl «stark autoritär geprägt»: Die «Ordnungsvorstellungen» der Miliz seien mit denjenigen des Al Qaida-Ablegers Al Nusra «weitgehend identisch». Keinerlei Zukunft dürften in einem von ihr geprägten Staat nichtsunnitische Minderheiten haben. In Verlautbarungen der Miliz scheine «immer wieder ihr Ressentiment gegenüber Christen, Alawiten und Schiiten durch», berichtet der SWP-Experte; das zeige sich «schon am Vokabular»: Die Führung von Ahrar al Sham benutze etwa für Christen «nicht das übliche arabische Wort …, sondern das unter Salafisten verbreitete abwertende ‘Nazarener'». Angehörige der alawitischen und der schiitischen Minderheit würden «geringschätzig als ‘Nusairier’ und ‘Rafida’ tituliert». Dass dies keineswegs nebensächlich sei, habe sich im August 2013 gezeigt, als ein Bündnis aufständischer Milizen mit maßgeblicher Beteiligung von Ahrar al Sham eine militärische Offensive im Küstengebirge gestartet habe, berichtet Steinberg. «In den alawitischen Dörfern, die sie in den ersten Tagen eroberten, verübten die Aufständischen zahlreiche Morde und sonstige Gräueltaten an unbeteiligten Zivilisten und nahmen mehr als 200 Geiseln, um sie in Verhandlungen mit der Regierung als Faustpfand zu nutzen». Bis heute sei «das Schicksal der meisten Geiseln» — Angehörige der alawitischen Minderheit — «ungeklärt».
Terrortaktiken
Steinberg beschreibt nicht zuletzt die militärischen Kooperationspraktiken von Al Nusra (Al Qaida) und Ahrar al Sham. Demnach leiten die Jihadisten von Al Nusra gewöhnlich «die Offensiven mit Selbstmordattentaten auf die Zugänge zu Stützpunkten und die Checkpoints des Regimes ein». Anschließend «folgen die zahlenmäßig weitaus stärkeren Einheiten der Ahrar und erobern Stützpunkte und Städte gemeinsam mit ihren Verbündeten». Die Verbindung von jihadistischem Terror und militärischem Vorgehen habe die Siege der Aufständischen gegen die Regierungstruppen auf breiter Front erst möglich gemacht. Dabei konnte sich zumindest Ahrar al Sham laut Steinberg bereits 2012 auf Hilfe aus dem Ausland verlassen: Die Türkei und Qatar — beide zentrale Verbündete auch der Bundesrepublik — hätten sie schon damals bevorzugt mit Geld und Waffen versorgt. Im Frühjahr 2015 sei die Unterstützung sogar noch ausgeweitet worden; das Bündnis aus Ahrar al Sham und Al Nusra sei, ausgestattet mit panzerbrechenden Waffen, «schnell zur ernsten Bedrohung» für die syrischen Regierungstruppen geworden, insbesondere im Küstengebirge, wo ein Milizenbündnis um Ahrar al Sham bereits 2013 Massaker an der alawitischen Minderheit begangen hatte. In dieser Situation habe Moskau begonnen, «von April 2015 an Truppen in Syrien zu stationieren und ab Ende September 2015 Luftangriffe gegen die Rebellen zu fliegen», konstatiert Steinberg.[4] Tatsächlich ist es durch Russlands Eingreifen gelungen, das Bündnis aus Al Qaida/Al Nusra und Ahrar al Sham wieder zurückzudrängen.
Eingebunden
Die Bundesregierung hat — gemeinsam mit den anderen Mächten des Westens — nicht nur geduldet, dass zwei ihrer engsten Verbündeten in der Region mit Ahrar al Sham einen Kooperationspartner von Al Qaida massiv fördern. Das Auswärtige Amt hat mit dafür gesorgt, dass Ahrar al Sham in die Oppositionsdelegation bei den Genfer Syrien-Verhandlungen aufgenommen wurde — entgegen der Forderung unter anderem aus Russland, Kooperationspartner von Al Qaida nicht an der Neugestaltung Syriens zu beteiligen (german-foreign-policy.com berichtete [5]). Steinberg versucht sich in seiner Analyse an einer Ehrenrettung der Berliner Politik: Es müsse Ziel sein, Ahrar al Sham per Einbindung von Al Nusra abzuspalten. Dennoch räumt er ein, dass, wer Ahrar al Sham «aufwertet, indirekt die Nusra-Front und damit al-Qaida stärkt», denn «das Bündnis zwischen Ahrar und Nusra ist intakt». Die aktuelle militärische Offensive von Al Nusra und Ahrar al Sham, der der Waffenstillstand zum Opfer zu fallen droht, bestätigt das.
Quelle: german-foreign-policy