Der britische Brexit und Deutschlands «Tränen»: Worauf ist die Strategie der US-Dominanz in der EU aufgebaut?

 

In der EU wird weiterhin über mögliche Perspektive des Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union diskutiert. Im vergangenen Monat wurde, während eines Besuchs der zweiten Person des deutschen Politikpersonals, des Finanzministers Wolfgang Schäuble in London, die Frage gestellt, was Deutschland tun wird, wenn Großbritannien am 23. Juni in einem Referendum abstimmen würde, aus der Europäischen Union auszuretten. Und es schien so, dass hier der Minister seine Seele öffnete: «Wir werden weinen», sagte er. Und das sagte ein Deutscher aus dem Land, in dem vor hundert der Jahren geflügelte Slogan geboren wurde: «Gott, bestrafe England!»

 

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Wie echt aufrichtig war der 73-Jährige, erfahrenste Politiker in seiner Antwort? Ist da wirklich ein Gefühl der Bitterkeit bei der Beurteilung der möglichen Perspektiven, wenn Deutschland einsam an der Spitze der informellen Hegemonie in der EU bleibt? Die offizielle Position der führenden deutschen Politikern jetzt: Der britische Austritt kann verheerende Folgen nicht nur für Deutschland, sondern für das gesamte Konzept jenes integrierten Europas haben, das Berlin schon ein Vierteljahrhundert beharrlich zu bauen versucht.

 

Die Christdemokraten glauben, dass die Mitgliedschaft Deutschlands in der EU es von seiner militaristischen und nationalistischen Vergangenheit befreien würde. Ein Austritt Großbritanniens wäre ein Zeichen für die gesamte Außenwelt dafür, dass die Demontage der EU begonnen. Drei Monate vor dem britischen Referendum sagte die Bundeskanzlerin Angela Merkel, dass es im Interesse Deutschlands ist, dass Großbritannien «ein aktives Mitglied in einer starken und erfolgreichen europäischen Union bleibt». Wahrscheinlich ist diese Position mit den Amerikanern vereinbart und diese Haltung wird noch einmal vom US-Präsident Barack Obama während seines bevorstehenden Besuches in Großbritannien ausgesprochen bekräftigt werden.

 

Zu beachten ist, dass der Prozess der europäischen Integration in den letzten Jahren immer irgendetwas abwechselnd oder alles auf einmal bedrohte. Die Perspektive eines Vereinten Europas sei behindert: Da sind die Griechische Verschuldung, die fiskalische Krise und die Krise der gemeinsamen Währung, der Aufstieg der Rechtsextremen und die beispiellose Flüchtlingskrise, die ukrainische Krise und die angespannten Beziehungen mit Russland. Und jetzt auch noch ein britisches Referendum mit dem möglichen Ergebnis eines Beschlusses über den Austritt Großbritanniens aus der EU!

 

Das britische Referendum ist für Deutschland gefährlich schon allein mit den Wortlaut der Frage, mit dem Präzedenzfall, der Möglichkeit, dass die anderen Länder einen ähnlichen Weg gehen könnten, Großbritannien folgend. Aktuelle Schwankungen der öffentlichen Meinung in Großbritannien um «Ja» und «Nein» zwingen jedoch Deutschland in Ruhe einen Blick auf die Perspektive der möglichen Einsamkeit in der Führung der EU zu werfen. Im großen europäischen Spiel nach dem zweiten Weltkrieg wurde Deutschland auf Anweisung der Sieger aus den USA gezwungen, freiwillig von der Hegemonie in Europa zurückzutreten.

 

Großbritannien war unter diesen Bedingungen diejenige Macht, ein akzeptabler Kompromiss sowohl für Deutschland als auch die USA. Deutschland will nun nicht in der formalen Position als Hegemon allein dastehen. Natürlich will es eine führende Rolle in Europa spielen, aber es will dies nicht alleine tun. Neben Deutschland waren die wichtigsten Akteure bei den Bemühungen zur Stärkung der kontinentalen Einheit in Europa Frankreich und Großbritannien. Nachdem Frankreich unter dem Präsident François Hollande in einen Teufelskreis der tiefen politischen und wirtschaftlichen Rezession geraten ist, blieb Großbritannien in der europäischen Union das einzige Großmacht-Gegengewicht für Berlin.

 

In politischer Hinsicht ist Großbritannien ein gewichtiges Land. Es hat die zweitgrößte Volkswirtschaft in Europa. Die Finanzkrise des Euro hat die Briten nicht betroffen und das britische Pfund steht fest. In London befindet sich das Finanzzentrum von Weltrang, der mit seinen Möglichkeiten das deutsche übertrifft. Großbritannien hat den Platz eines ständigen Mitglieds im UN-Sicherheitsrat, verfügt über ein großes Arsenal an Atomwaffen und seine eigenen integrativen Beziehungen als Alliierter Washingtons, kann die EU und die NATO hier umgehen. Nach dem 11. September sagte der damalige US-Präsident George W. Bush vor dem Kongress: «Amerika hat keinen Freund, der besser und wahrer als Großbritannien ist».

 

Seit der Wiedervereinigung Deutschlands ist es so gelaufen, dass die Deutschen mit dem Beschleunigen des Projekts der europäischen Integration begonnen haben, in der Annahme, dass die Union als der einzige langfristige Weg zum europäischen Frieden und Wohlstand funktionieren wird. Großbritannien im Gegenteil, diente und dient lange Zeit als Bremse des europäischen Prozesses, leistet Widerstand gegen Versuche, den Kontinent vollständig politisch und wirtschaftlich zu einen.

 

Eine ähnliche Situation zeigt sich auch im äußeren symbolischen Ausdruck. Die Kuppel des wiederhergestellten Reichstagsgebäudes in Berlin ist mit den europäischen Sternen geschmückt, während vor dem Gebäude des britischen Parlaments der britische Union Jack in stolzen Einsamkeit weht.

 

Die Präsenz Großbritanniens in der europäischen Union ist von großer Bedeutung, und es wird zu spüren sein, falls es austritt. Doch Ängste über den möglichen Verlust Großbritannien für die EU beschränken sich nicht nur auf Europa. In der vergangenen Woche warnte der internationale Währungsfonds (IWF), dass der britische Austritt aus der EU zu schweren regionalen und globalen Schäden gegenüber den etablierten Handelsbeziehungen führen kann. Die Handelsbeziehungen sind weitgehend der Schlüssel zum Verständnis dieser Situation. Großbritannien ist am Globalmarkt interessiert.

 

Gleichzeitig ist London an der finanziellen Unabhängigkeit der Finanz-City und seines gleichberechtigten Zugangs zu den finanziellen Möglichkeiten in der Eurozone interessiert. Zugleich hat das exportorientierte Deutschland Interesse an der Festigung seines Absatzmarktes in der EU. Die Hegemonie Deutschlands in der EU hat in erster Linie eine Handels-Orientierung. Der Zustand des Binnenhandels in der EU ermöglicht es, den tieferen Sinn des Dilemma im Falle eines Brexits zu verstehen.

 

Für das Jahr 2016 ist Deutschland als Hauptziel für die Exporte der meisten EU-Mitgliedstaaten vorgesehen. Nach Angaben von Eurostat für das Jahr 2015, war Deutschland der erste Partner in puncto Export für: Frankreich (16%), Italien (12%), Belgien (17%), die Niederlande (24%), Luxemburg (22%), Österreich (29%), Dänemark (18%), Finnland (14%), die Tschechische Republik (32%), Polen (27%), Ungarn (28%), die Slowakei (23%), Slowenien (19%), Rumänien (20%) und Bulgarien (13%).

 

Der deutsche Markt ist im Rahmen des gemeinsamen EU-Markts Priorität für diese Länder. Nur für Spanien steht Deutschland an zweiter Stelle nach Frankreich mit 11%. In ähnlicher Weise für Griechenland, mit 7%.

 

Typisch ist, dass für Deutschland selbst der Hauptpartner für den Export die USA (10%) sind und erst dann Frankreich (9%). Ebenso stehen für Großbritannien auf dem ersten Platz die USA (15%), Deutschland ist auf dem zweiten Platz mit 10%. Speziell mit dem Export sieht die Situation in Schweden aus. Dort ist Hauptpartner Norwegen (10%).

 

Was die Einfuhr deutscher Waren in die europäischen Ländern betrifft, so ist Deutschland in der überwiegenden Zahl der Fälle Partner Nummer Eins für die EU-Länder. Der Deutsche Import hat Vorrang und steht auf dem ersten Platz der Außenhandelsumsatz: Großbritannien (15%), Frankreich (19%), Italien (15%), Spanien (14%), Griechenland (11%), Niederlanden (15%), Österreich (42%), Schweden (18%), Dänemark (20%), Finnland (17%), der Tschechischen Republik (30%), Polen (28%), Ungarn (26%), der Slowakei (19%), Slowenien (16%), Rumänien (20%), Kroatien (15%), Bulgarien (13%). Für die Einfuhren nach Belgien steht Deutschland an zweiter Stelle nach den Niederlanden.

 

Der Binnenhandel-Indikator der EU zeigt die Tatsache auf, dass bis zum Jahr 2016 die EU Deutschland-zentrisch geworden ist. Jedoch erscheint das Niveau der wirtschaftlichen Dominanz Deutschlands noch nicht groß genug für seine politische Hegemonie. In den Ländern des alten Europa herrscht Deutschland per Handel jetzt absolut in der Tschechischen Republik und in Österreich. Die Länder des neuen Europa (mit Ausnahme der baltischen Staaten) also Polen, Ungarn, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Bulgarien, Kroatien sind in höherem Maße als die Länder des alten Europa durch ihre Handelsbeziehungen an Deutschland gebunden.

 

In der Praxis muss ihre Abhängigkeit von Deutschland noch höher als die nationalen Indikatoren sein, wenn man bedenkt, dass ein erheblicher Teil der Exporte dieser Länder auf Basis lokaler multinationalen Unternehmen deutschen Ursprungs erfolgt, oder durch Unternehmen, wo zumindest deutsches Kapital verwaltet wird.

 

Die Situation mit dem Handel in der EU verdeutlicht weitgehend die besondere Position Großbritannien zur EU-Integration; schließlich sind britische Hauptpartner für den Export die USA und Schweden, die weiterhin im Mittelpunkt der skandinavischen Mini-Gemeinschaft in der EU bleiben. Aber Deutschland ist auf dem Vormarsch, und deutsche Importe haben Vorrang vor den anderen, selbst in Großbritannien und Schweden.

 

Wenn man sich weiter den regionalen Vergleich anschaut, muss man sagen: vor allem die Wirtschaft des so genannten neuen Europas (Staaten der ehemaligen Zone des sowjetischen Einflusses), orientiert sich an der EU: betragen 76% bis 85% des Exports und von 76 bis 79% der Einfuhren. Durch die deutsche Handels-Partnerschaft werden die Länder des Neuen Europa nicht nur wirtschaftlich Deutschland-zentrisch, sondern auch in höchstem Maße EU orientiert.

 

Also kann festgestellt werden, dass in wirtschaftlicher Hinsicht das Konzept Mitteleuropa genau das ist, wofür Deutschland teilweise in den Weltkriegen kämpfte. Die USA haben Deutschland anstatt Souveränität ein weites Tätigkeitsfeld angeboten und Deutschland nutzt das erfolgreich. Genau hier, in Mitteleuropa, befindet sich das Zentrum der deutschen wirtschaftlichen Hegemonie in Europa. Von hier gehen weitere Kreise geringeren Einflusses aus. Großbritannien liegt in Bezug auf diese konzentrischen Kreise an der Peripherie.

 

Die Handelsstatistik der europäischen Union illustriert auch die Tatsache, dass nämlich Großbritannien in der EU die geringste Verbundenheit mit der EU hat. Nur 44% der Ausfuhren und 54% der Importe sind mit der EU verbunden. Hier kann man feststellen, dass etwa die Hälfte der Wirtschaft Großbritanniens durch Handelsbeziehungen mit der EU verbunden ist. Dies ist zwar viel für Großbritannien, aber wenig im Vergleich mit den anderen Mitgliedstaaten der EU.

 

In der Praxis muss es im Sinne von Perspektiven der Handelsbeziehungen Großbritanniens mit der EU eine Entscheidung zwischen entweder der Zunahme seines wirtschaftlichen Potenzials, speziell in Hinblick auf Europa, in Anbetracht der Tatsache geben, dass der Deutsche Export weiter seinen Anteil auf dem britischen Markt erhöht oder dem Versuch der EU (den möglichen Abbruch der innereuropäischen Beziehungen ein wenig zu relativieren) die europäische Einflussnahme auf den britischen Markt zu erweitern und sich gleichzeitig auf die anderen nicht-europäischen Länder im Handel hinzubewegen.

 

Trotz der besonderen britischen Position in der EU ist Europa zunehmend wirtschaftlich verbunden mit Deutschland.

 

Doch Tatsache ist, dass eigentlich der Partner Nummer eins für die britischen und deutschen Exporte nicht irgendein europäisches Land, sondern die Vereinigten Staaten sind. Das zeigt vor allem die amerikanische Herrschaft in Europa, die gleichzeitig auf zwei wesentliche Strukturen in der EU gründet, auf Großbritannien und Deutschland.

 

Politische Herrschaft muss sich auf Wirtschaftspolitik stützen. Die US-Strategie in der EU bevorzugt genau diese Methode der Dominanz: Mit Abstützung auf Deutschland und Großbritannien.

 

Auch wegen dieses Umstandes (es gibt auch andere Überlegungen) ist es für die Vereinigten Staaten von Vorteil, dass Großbritannien in der EU bleibt. Und der US-Präsident wird versuchen es mit anderen Worten den britischen Wählern in London zu erklären.

 

 

Quelle: www.eadaily

Übersetzung: fit4Russland