Nikolai Patruschew, Sekretär des Sicherheitsrats Russlands, geht in einem Interview mit Sputnik auf Probleme der internationalen Sicherheit und speziell auf Perspektiven der russisch-amerikanischen Beziehungen ein, die sich der letzten Zeit zugespitzt haben. Wie er feststellt, kann der US-Raketenschild strategische Objekte in Russland gefährden.
Herr Patruschew, wie würden Sie die Situation im Sicherheitsbereich beschreiben, die sich heute in der internationalen Arena und in einzelnen Regionen, in denen die meisten Probleme entstehen, herausgebildet hat?
Die Lage in der Welt wird nicht einfacher. Die Konkurrenz um den globalen Einfluss und um die Nutzung der globalen Ressourcen steigt. Die überaus großen Ambitionen mehrerer Länder provozieren immer neue Herausforderungen und Bedrohungen im Sicherheitsbereich in verschiedenen Regionen der Welt und wurden bereits zu einem großen Hindernis bei der Aufnahme bilateraler und multilateraler Anstrengungen, die auf die Regelung der Krisensituationen gerichtet sind.
Als Sicherheitsbedrohungen für das Land bezeichnen wir weiterhin den Ausbau des Gewaltpotentials der Nato und die Verleihung globaler Funktionen an diese Organisation, die Annäherung der Militärinfrastruktur der Allianzmitglieder an die Grenzen Russlands, den Ausbau der neuen Waffentypen sowie die Schaffung eines globalen Raketenabwehrsystems.
Eine beispiellose Bedrohung für den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit bleibt der Terrorismus, darunter in Form der internationalen Terrororganisation „Islamischer Staat im Irak und der Levante“. Zur Arena des Kampfes gegen ISIL wurden Syrien, der Irak, Libyen, der Jemen, Afghanistan und mehrere andere Länder.
Die Russische Föderation nimmt auf Bitte der legitimen syrischen Regierung seit Herbst 2015 aktiv an der Vernichtung der Terroristen in Syrien teil. Dabei liegt auf der Hand, dass unsere Handlungen allein in dieser Richtung nicht ausreichen würden. Der Kampf gegen dieses Übel erfordert gemeinsame Anstrengungen der ganzen internationalen Gemeinschaft. Wir haben dies bereits mehrmals gesagt und sind zur Fortsetzung der Kooperation mit allen interessierten Seiten bereit. Es bleibt weiterhin der Spannungsherd auf der Koreanischen Halbinsel bestehen. Die Handlungen der Führung Nordkoreas werden von den USA zu eigenen Zielen genutzt. Unter dem Vorwand des Schutzes vor der nordkoreanischen militärischen Bedrohung bauen sie die Präsenz in Nordostasien aus und spitzen die Atmosphäre durch das Demonstrieren von Stärke, intensive Militärübungen mit der südkoreanischen und der japanischen Seite sowie dem Streben, Elemente ihres globalen Raketenabwehrsystems zu stationieren, zu.
Die Zahl der regionalen Brandherde wurde vor zwei Jahren durch die Ukraine erhöht. Washington und Brüssel leisteten aktive Mitwirkung beim Organisieren des verfassungswidrigen Staatstreichs in Kiew. Im Ergebnis schwelt im Osten des Landes der Bürgerkrieg, den die ukrainischen Behörden nicht beenden wollen, indem sie die übernommenen Verpflichtungen sabotieren.
Sie beschrieben eine komplizierte Situation in der Welt. Schafft es Russland, vor dem Hintergrund der zunehmenden Herausforderungen und Bedrohungen auf hohem Niveau zu bleiben?
Unabhängig davon, wie die aktuelle Situation in der Welt bleibt, setzt Russland kontinuierlich seine Vision der globalen Sicherheit um. Ihr Wesen ist einfach – die Hoheit des Völkerrechts, Vorrang der friedlichen Lösung von Auseinandersetzungen im Rahmen der existierenden Struktur der internationalen Organisationen mit der Uno an der Spitze, Unzulässigkeit von Abkommen hinter den Kulissen und einseitigen Handlungen, der Blockpolitik, Inakzeptanz der Einmischung in innere Angelegenheiten der souveränen Staaten. Es wird eine koordinierte Arbeit zur Feststellung der Herausforderungen und Bedrohungen für die nationale Sicherheit geführt. Es wird ein Dialog im Rahmen der GUS, OVKS, SOZ und BRICS geführt. Wir bringen unseren Partnern unsere Vision der aktuellen Situation nahe und intensivieren den Informationsaustausch zwischen Sicherheitsdiensten, entwickeln neue Formate und Richtungen der Arbeit.
Besondere Aufmerksamkeit wird im Sicherheitsrat der Entwicklung der bilateralen und multilateralen Kontakte mit den konstruktiv gestimmten Partnern gewidmet. Vom Ausmaß unserer internationalen Verbindungen und ihrer Effizienz zeugen die Jahrestreffen der hohen Vertreter, die die Sicherheitsfragen betreuen.

In diesem Jahr fand in Tschetschenien das siebte solche Forum statt, an dem Delegationen aus 75 Staaten teilnahmen. Es wurden mehrere Vereinbarungen im Bereich des Kampfes gegen Terror, die Extremistenideologie, Drogenverkehr, grenzübergreifende Kriminalität, Bedrohungen der Informationssicherheit erreicht.
Unser Hauptziel ist die Gewährleistung der Interessen Russlands, Schaffung von Bedingungen für eine kontinuierliche sozialwirtschaftliche Entwicklung, Festigung der Souveränität und des Verfassungsbaus.
Russland hat die Einmischung in innere Angelegenheiten von souveränen Staaten vermieden und wird das weiterhin tun. Allerdings heißt das nicht, dass wir jemandem gestatten werden, in unser Land eigene Probleme zu exportieren. Solche Versuche werden hart und entschlossen gestoppt.
Die USA entwickeln weiterhin eine antirussische Rhetorik, leisten präzedenzlosen Druck auf die mit Russland befreundeten Länder. Elemente der US-Raketenabwehr werden in Polen, Rumänien und der Republik Korea stationiert. Kann die konstruktive Kooperation der USA und Russlands zu aktuellen Fragen der Gewährleistung der internationalen Sicherheit wiederaufgenommen werden?
Wir sind zum Zusammenwirken mit den USA als Partner auf Grundlage der Gleichberechtigung und der Achtung der gegenseitigen Interessen bereit. Bislang gehört Russland laut den USA zu den Hauptbedrohungen für die nationale Sicherheit der USA. Uns wundert, mit welchen Kriterien Washington denkt, indem Russland in eine Reihe mit ISIL und der Ebola-Epidemie in der Strategie der Nationalen Sicherheit der USA gestellt wird.
Der ehemalige CIA-Chef David Petraeus hat in einem Artikel in der angesehenen Zeitschrift „Foreign Policy“ Russland als „potentielle Existenzbedrohung“ für die USA bezeichnet. Natürlich, wenn in den Köpfen der US-Politiker solche Stimmungen dominieren, wenn diese Klischees via Medien auf die einfachen Bürger projiziert werden, kann kaum ein vollwertiger und allumfassender Dialog zu einem breiten Spektrum von Fragen aufgenommen werden. Die Wege zum Schutz vor einer angeblichen „russischen Bedrohung“ lösen Fragen aus. Sie erwähnten die Stationierung von Elementen des Raketenabwehrsystems nahe unseren Grenzen. Von diesen Anlagen können Marschflugkörper gestartet werden, in deren Reichweite sich viele Objekte der russischen strategischen Infrastruktur befinden. Die Amerikaner bestreiten natürlich eine solche Möglichkeit, doch können sie keine realen Argumente vorbringen.
Zuvor hatte Washington gesagt, dass das europäische Raketenabwehrsystem gegen den Iran gerichtet sei. Dann stellt sich die Frage – warum wurde der Stützpunkt im rumänischen Deveselu nach dem Fortschritt beim iranischen Dossier in Betrieb genommen?
Russland geht davon aus, dass in der modernen internationalen Situation ebenso kontrakonstruktiv der Weg der Isolierung sowie die Versuche zur Isolierung anderer Akteure sind.
Wie die Erfahrung der neusten Geschichte zeigt, werden die Beziehungen zwischen Russland und den USA früher oder später zu einem normalen Weg zurückehren – zumal entspricht ihr weiterer Verfall nicht den Interessen Moskaus und Washingtons.
In Erinnerung geblieben ist der Nato-Gipfel von Warschau. Kann man die dort getroffenen Entscheidungen als Revision der Militärdoktrin der Allianz betrachten, die auf die Neutralisierung des wachsenden Einflusses Russlands in den globalen Angelegenheiten gerichtet ist?
Im Sicherheitsrat der Russischen Föderation wurden die in der polnischen Hauptstadt angenommenen Programmdokumente sowie die damit verbundenen Veranstaltungen analysiert. Auf dieser Grundlage kann man eine scheinbar überraschende Schlussfolgerung ziehen – es handelt sich nicht um eine ernsthafte Revision der Militärdoktrin der Nato. Es liegt nur eine Anpassung der Dokumente an die Realien der Strategie, die von der Nato seit dem Ende des Kalten Kriegs durchgeführt wurde, vor. Der Gipfel zeigte eindeutig, dass die Allianz nie auf Doktrinen verzichtete, die sich in der Zeit der Konfrontation von zwei Supermächten bildeten.
Sehen Sie sich die Begriffe an, die von Brüssel genutzt werden. „Abschreckung“, „Einschüchterung“, „Abstoßen“ – entspricht dieses Vokabular der Gestalt einer Organisation von globalem Ausmaß und multilateralen Kompetenzen, die von Brüsseler Propagandisten entwickelt wird? Solche Konzepte passen eher zu einem traditionellen militärpolitischen Block, dessen Vorrang die Unterordnung der schwächeren Staaten dem Willen des Stärkeren zur Erfüllung der ihm passenden Aufgaben ist.
Die Szenarien, die der Block bei Manövern übt, bringen nicht den Antiterrorkampf bzw. die Beseitigung der Folgen von Naturkatastrophen in den Vordergrund, wobei die Muster des „Kalten Krieges“ wiederholt werden, auch wenn in einer bescheideneren Form.
Brüssel bevorzugt, das nicht zu bemerken, dass die euroatlantische Sicherheit von viel greifbareren und realeren Bedrohungen bedroht wird, als ein „Hybrid-Krieg“, der angeblich von Russland geplant wird.
Punkt 1 der Erklärung zur transatlantischen Sicherheit, die in Warschau vom Rat der Staats- und Regierungschefs der Nato angenommen wurde, verweist ab den ersten Worten auf die Hauptbedrohung – Russland, das angeblich „die Grundlagen der europäischen Ordnung“ untergraben hat. Der ISIL wird nämlich nur in Punkt 8 erwähnt, und auch nur im Kontext des Einsatzes der Flugzeuge der funkelektronischen Aufklärung AWACS. Unter den entstandenen Bedingungen nutzt Russland weiterhin die Dialogplattform des Russland-Nato-Rates, arbeitet an bilateralen Abkommen zur Verhinderung von Vorfällen auf hoher See und im Luftraum. Ich bin davon überzeugt, dass es mit gemeinsamen Anstrengungen der Weltgemeinschaft im Ergebnis geschafft wird, eine effektive Architektur einer einheitlichen und untrennbaren Sicherheit zu schaffen, bei der militärpolitische Blöcke sich als nutzloser Anachronismus erweisen werden.
In letzter Zeit ist immer mehr von einer Verschlechterung der Situation in der Sicherheitssphäre in Afghanistan und von ihrem negativen Einfluss auf die zentralasiatischen Staaten und dementsprechend vom Auftauchen zusätzlicher Bedrohungen für die Russische Föderation die Rede. Wie schätzen Sie die Situation in Afghanistan ein und wie reagieren Sie darauf?
„In Afghanistan ist eine Stärkung der Positionen der Terroristen und eine Zunahme des illegalen Drogenhandels zu verzeichnen, der bekanntlich eine ihrer Hauptfinanzierungsquellen ist. Neben den afghanischen Taliban agieren im Lande die Taliban aus Pakistan, regionale extremistische Organisationen – solche wie die Islamische Bewegung Usbekistans, aber ebenso internationale Gruppierungen – der IS und die Al-Qaida. In den nördlichen Provinzen haben die Extremisten Brückenköpfe eingerichtet, die eine unmittelbare Bedrohung für unser Land und die Staaten Zentralasiens darstellen.
Wir verfolgen diese destruktiven Prozesse und bemühen uns, ihnen zuvorzukommen. Diese Arbeit führen wir im bilateralen wie im multilateralen Format durch. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem Ausbau der Zusammenarbeit in den regionalen Organisationen. Die erforderlichen Maßnahmen hauptsächlich militärischen Charakters werden im Rahmen der OVKS ergriffen. Das Zusammenwirken beim Anti-Terror- und Anti-Drogen-Kampf erfolgt im Rahmen der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ). Zudem führen wir auf der Ebene des Sicherheitsrates der Russischen Föderation russisch-afghanische Konsultationen, an denen Vertreter einer ganzen Reihe interessierter Behörden beider Länder teilnehmen. Wir erörtern aussichtsreiche Projekte, die den Wiederaufbau der Wirtschaft Afghanistans fördern sollen. Wir bereiten bilaterale Dokumente zu Sicherheitsfragen und zur Vertiefung der allseitigen Zusammenarbeit zur Unterzeichnung vor.“
Allein militärische Operationen auf afghanischem Boden sind unzureichend. Man muss die tiefliegenden Ursachen für die Radikalisierung der afghanischen Bevölkerung verstehen – die grobe ausländische Einmischung, die akute innenpolitische Krise, die Arbeitslosigkeit, das Fehlen einer zugänglichen Ausbildung. Zur Überwindung dieser negativen Faktoren ist die Konsolidierung der Weltgemeinschaft auf UN-Ebene erforderlich.
Wie schätzen Sie die Situation in Syrien und die Perspektiven der Syrien-Regelung insgesamt ein?
Syrien ist Opfer der ‚doppelten Maßstäbe‘ im Kampf gegen den Terrorismus geworden, die der Westen und einzelne regionale Akteure anlegen, welche eigene Interessen verfolgen. Der Verlierer bleibt in diesem Spiel das syrische Volk.
Wir rufen dazu auf, gerade die humanitären Aspekte des syrischen Konflikts allem voranzustellen. Das Katastrophenschutzministerium Russlands und das Verteidigungsministerium Russlands liefern der syrischen Bevölkerung ständig humanitäre Hilfsgüter.
Neben dem IS stellt die Gruppierung ‚Dschabhat al-Nusra‘ eine wesentliche Bedrohung dar, die von der Weltgemeinschaft als terroristisch eingestuft ist. Laut einer Information der Uno kämpfen mehr als die Hälfte der Kämpfer in Aleppo in ihren Reihen. Die Umbenennung in ‚Dschabhat Fatah al-Scham‘ hat sie nicht in eine ‚moderate Opposition‘ verwandelt. Egal wie die bewaffnete Gruppierung sich auch nennen mag, wenn sie terroristische Methoden nutzt, ist ihr Platz nicht am Verhandlungstisch – sie unterliegt der Vernichtung.
Das Kernproblem auf dem Weg zur Liquidierung der ‚Dschabhat al-Nusra‘ ist die Notwendigkeit, die sogenannte moderate Opposition von ihr zu trennen. Aber ungeachtet aller russisch-amerikanischen Absprachen zu dieser Frage demonstrierte Washington die Unfähigkeit, aber vielleicht auch den nicht vorhandenen Wunsch, die uns gegebenen zahllosen Versprechungen zu erfüllen. Im Unterschied zu Moskau erfüllt die amerikanische Seite ihre Verpflichtungen nicht.
Die jüngsten Beispiele bestätigen dies. Ungeachtet der Tatsache, dass die syrische Regierung ihre Truppen von der Castello-Straße zurückgezogen hatte, haben die von Washington unterstützten ‚gemäßigten oppositionellen‘ Gruppierungen keine ähnlichen Schritte unternommen, und sie lassen auch die UN-Hilfskonvois nicht passieren.
Wir erinnern uns, wie die Amerikaner am 17. September, angeblich aus Versehen, wie sie später sagten, syrische Regierungstruppen angegriffen hatten, die vom IS bei Deir ez-Zor eingekesselt waren. Die diese ganze Zeit faktisch im täglichen Regime anhaltenden Verhandlungen mit der russischen Seite wurden von Washington genutzt, um Zeit zu schinden, die für die Umgruppierung der Kämpfer erforderlich war. Heute sehen wir das Ergebnis: Immer mehr Gruppierungen auf syrischem Territorium, mit denen die USA gearbeitet haben, verschmelzen mit der ‚Dschabhat al-Nusra‘.
Endlich haben die USA einen Schlussstrich unter ihre Politik der „doppelten Maßstäbe“ gezogen, als sie buchstäblich vor wenigen Tagen die Einstellung des Dialogs mit Russland zur Syrien-Problematik erklärten.
Wir geben indes die Hoffnung nicht auf, dass der konstruktive Standpunkt in Washington dennoch die Oberhand gewinnen wird. Wir sind auf der Ebene der Militärbehörden bereit, mögliche zusätzliche Maßnahmen zur Normalisierung der Lage in Aleppo zu erörtern.
Der Terrorismus hat noch nie Staatsgrenzen anerkannt. Das, was heute in Syrien, im Irak, in Libyen, im Jemen und in Afghanistan geschieht, kann sich morgen in anderen Ländern wiederholen.
Quelle: Sputniknews