Mehr als eine Woche nach dem terroristischen Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin hat die Debatte um ein mögliches Versagen der Sicherheitsbehörden auch den Verfassungsschutz erreicht.
Mittlerweile mehren sich die Anhaltspunkte dafür, dass der Inlandsgeheimdienst das konkrete Gefahrenpotenzial, das von dem am tunesischen Dschihadisten Anis Amri ausgegangen war, in einer möglicherweise sogar grob fahrlässigen Weise unterschätzt hat.
«Mein Auftrag ist es, zu töten»: #Amri kündigte V-Leuten ohne Konsequenzen Anschläge an | #Breitscheidplatzhttps://t.co/ee7t8fxvIVpic.twitter.com/cVhvpgHl4q
— RT Deutsch (@RT_Deutsch) 28. Dezember 2016
Der 24-Jährige Islamist, der am 23. Dezember bei einem Schusswechsel mit der Polizei in der Nähe von Mailand ums Leben kam, steht im dringenden Verdacht, am 19. Dezember in terroristischer Absicht einen gestohlenen Lkw auf den Weihnachtsmarkt gelenkt und dabei 12 Menschen getötet zu haben. Darüber hinaus wurden 56 Menschen zum Teil schwer verletzt.
Amri, der 2011 infolge des «Arabischen Frühlings» aus Tunesien nach Italien gekommen war und dort schon früh durch ein erhebliches Gewaltpotenzial auffiel, reiste 2015 erstmals nach Deutschland ein. Zuvor hatte er in Italien wegen mehrerer Straftaten, darunter auch Gewaltverbrechen, eine vierjährige Gefängnisstrafe verbüßt. Eine Abschiebung nach Tunesien scheiterte an der Weigerung seines Heimatlandes, ihn zurückzunehmen, weshalb die Behörden ihn unter der Auflage, Italien zu verlassen, aus der Abschiebehaft entließen. Amri kam dieser Aufforderung nach und stellte in Deutschland unter falschen Angaben zu seiner Identität einen Asylantrag.
Bereits kurz nach seiner Einreise sollen deutsche Sicherheitsbehörden mithilfe ihrer V-Mann-Strukturen auf die radikal-islamischen Neigungen des Neuankömmlings aufmerksam geworden sein. Amri scheint gezielt die Einbindung in das Netzwerk rund um den extremistischen «Deutschsprachigen Islamkreis Hildesheim» (DIK) gesucht zu haben. Dessen Prediger Abu Walaa gilt als einer der führenden Anwerber von Terroristen für den «Islamischen Staat» und wurde im November 2016 in Untersuchungshaft genommen. Im Zuge der Razzia wurde auch ein Dortmunder Dschihadist festgenommen, bei dem Amri zeitweise gewohnt haben soll.
Ein Informant des nordrhein-westfälischen LKA soll seine Partner in der Behörde über die Rolle des späteren mutmaßlichen Berlin-Attentäters informiert haben. Amri habe bereits damals einen starken Drang zur aktiven Ausübung des «Heiligen Kriegs» gezeigt. Er hat Medienberichten zufolge an einem Training für potenzielle Syrien-Kämpfer teilgenommen und mehrfach über mögliche Attentate gesprochen haben. Eine Ausreise unterblieb, nachdem sich in seinem Umfeld die Auffassung durchgesetzt hatte, dass Terroranschläge in Deutschland dieser vorzuziehen seien.
Auch «Report München» zitierte am Freitagabend aus Dokumenten von V-Leuten, die ihre Vorgesetzten darüber in Kenntnis gesetzt hatten, dass es sich bei Anis Amri um eine tickende Zeitbombe handeln könnte. Einem Aktenvermerk des Düsseldorfer LKA zufolge habe bereits Ende 2015 eine «Vertrauensperson» Kontakt zu dem potenziellen Terroristen hergestellt. Schon damals habe Amri angekündigt, in Deutschland mithilfe von Kriegswaffen Anschläge begehen zu wollen. Eine Polizeiquelle soll ihn auch gefragt haben, ob er Waffen besorgen könne. Innerhalb des Netzwerks um «Abu Walaa» sollen mindestens zwei V-Leute eingesetzt worden sein.
Zwischen Februar und März 2016 habe zudem ein «geheimer Informant des Verfassungsschutzes» Amri von Dortmund nach Berlin gefahren. Dabei soll der Extremist abermals betont haben, dass es eine religiöse Pflicht der Muslime sei, Ungläubige zu töten. «Im Sinne von Allah zu töten», sei sein Auftrag, zitiert der «ARD Brennpunkt» aus dem Aktenvermerk.
Im März 2016 begannen die Sicherheitsbehörden, Amri als «islamistischen Gefährder» verdeckt zu observieren und seine Kommunikation zu überwachen. Das LKA in NRW ermittelte gegen ihn wegen des Verdachts der «Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat». Auch im Zusammenhang mit dem Verkauf von Drogen und sogar im Zusammenhang mit einer Messerstecherei in einer Neuköllner Bar im Juli 2016 fiel der Verdächtige auf – zu einem Zeitpunkt, da auch ein erster Abschiebebescheid gegen ihn erging. Einen Grund, Amri aus dem Verkehr zu ziehen, sahen die Behörden jedoch auch vor diesem Hintergrund nicht.
Im September stellten die Ermittlungsbehörden die Observierungsmaßnahmen gegen Anis Amri ein. Der Generalstaatsanwaltschaft zufolge hätten diese «keine Hinweise» erbracht, um » den ursprünglichen Vorwurf zu verifizieren oder diesen oder einen anderen staatsschutzrelevanten Tatvorwurf zu erhärten», weshalb es für deren Verlängerung auch keine Grundlage mehr gegeben habe.
Dass Amri statt illegaler Instrumente einen herkömmlichen Lkw als mögliche Anschlagswaffe benutzen könnte, hatten die Ermittler offenbar nicht auf dem Schirm. Dies überrascht vor dem Hintergrund, dass radikal-islamische Terroristen bereits mehrfach die tonnenschweren Gefährte in dieser Weise zweckentfremdet hatten. In Syrien und im Irak verwendeten Gruppen wie der IS oder Al-Nusra mit Sprengstoff beladene Lastkraftfahrzeuge hauptsächlich als Vorhut bei der Erstürmung von Militärbasen, in Israel gehören Angriffe auf Passanten mithilfe von Kraftfahrzeugen zum Repertoire palästinensischer Terroristen. Vor allem aber hätten die Behörden gewarnt sein müssen, seit am 14. Juli ein radikaler Islamist in Nizza mit einem Lkw in eine Menschenmenge raste.
Auch der Kölner Express wirft dem Verfassungsschutz Versagen vor. Noch am 19. Dezember, dem Tag des Anschlags auf den Weihnachtsmarkt, will ein Informant — selbst Kriegsflüchtling — die Berliner Polizei vor gefestigten Strukturen des IS in Berlin gewarnt und mutmaßliche Mitglieder an den Staatsschutz gemeldet haben.
Der Informant sprach von einer hohen, religiös unterfütterten Motivation, Anschläge zu begehen, die diese Leute kennzeichne. «Youssef», wie die Zeitung ihn nennt, mahnt:
«Berlin ist voll mit IS-Menschen, aber keiner sieht sie.»
Die Beamten sollen jedoch «nur Papiere ausgefüllt», statt den Warnungen nachzugehen. Der Inlandsgeheimdienst erklärte bis zuletzt:
«Gegenwärtig stellen wir in Berlin keine IS-Strukturen fest.»
Zahlreiche Hinweise auf vermeintliche IS-Kämpfer hätten sich, so der Verfassungsschutz, als «nicht relevant» herausgestellt.