Am 23. Januar 2017, mehr als vier Jahre nach der Tat, hätte der Prozess gegen den 34-jährigen türkischen Staatsangehörigen Ömer Güney in Paris beginnen sollen. Bereits wenige Tage nach der Ermordung dreier Aktivistinnen der in der Türkei und der EU verbotenen «Kurdischen Arbeiterpartei» (PKK), darunter deren Mitgründerin Sakine Cansiz, war Güney unter dringendem Tatverdacht festgenommen worden.
Morde an Pariser PKK-Aktivistinnen: Ömer Güney nimmt sein Geheimnis mit ins Grabhttps://t.co/KgUuxyaitrpic.twitter.com/WDgfeGJUYH
— RT Deutsch (@RT_Deutsch) 2. Januar 2017
Videoaufzeichnungen hatten gezeigt, dass Güney sich zum Zeitpunkt der Tat in jenem Gebäude aufgehalten hatte, in dem die drei Frauen ermordet worden waren. Im Zuge seiner ersten Vernehmungen wartete er mit einem falschen Alibi auf. Güney war Fahrer von Cansiz, die trotz ihrer Tätigkeit für die verbotene Kurdenorganisation in Frankreich Asyl genoss. Zum Zeitpunkt der Tat hatte der türkische Geheimdienst MIT bereits damit begonnen, im Auftrag des damaligen Premierministers Recep Tayyip Erdogan mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan über eine Beendigung des bewaffneten Konflikts in der Südosttürkei zu verhandeln.
Die Polizei ging anfangs von einem internen Konflikt aus. Die Friedensverhandlungen waren innerhalb der PKK nicht unumstritten, zumal viele Kader befürchteten, keine Perspektive im zivilen Leben zu haben. Auch wurden Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Organisation über finanzielle, personelle oder familiäre Angelegenheiten nicht selten mit der Waffe ausgetragen.
Schon bald ließen die Ermittlungen gegen Güney, der in den Niederlanden und in Frankreich mehrfach wegen der Teilnahme an verbotenen PKK-Aufmärschen festgenommen worden war, jedoch erhebliche Ungereimtheiten erkennen. Für einen PKK-Kader ungewöhnlich, soll er nach seiner Verhaftung im Zusammenhang mit dem Mordverdacht eine Kontaktaufnahme mit dem türkischen Konsulat verlangt haben.
Außerdem soll der offiziell von Transferleistungen in nicht einmal vierstelliger Höhe lebende türkische Staatsangehörige mehrfach in die Türkei geflogen sein, alleine neun Mal im Jahr 2012, also im Jahr vor dem Mord am 9. Januar 2013. Zum Telefonieren habe er drei unterschiedliche Mobilnummern benutzt und von einer dieser Nummern ausschließlich zu einer einzigen türkischen Nummer.
Weitere Recherchen ergaben — und diese wären auch für Cansiz und ihr Umfeld nicht schwierig anzustellen gewesen -, dass es sich bei Ömer Güney mitnichten um einen sozialistischen kurdischen Autonomiekämpfer gehandelt hatte. Vielmehr kam der vermeintliche PKK-Aktivist aus einer stramm nationalistischen Familie in Sivas, einer Hochburg der so genannten «Idealistenbewegung», auch als «Graue Wölfe» bekannt.
Auch im bayerischen Schliersee, wo Güney gelebt hatte, bevor er nach Paris übersiedelte, hatte er bereits regelmäßig Kontakt zu nationalistischen Aktivisten aus dem Umfeld der MHP. Auf seinem Facebook-Account machte er aus seiner Gesinnung auch kein Geheimnis.
Bis heute beschäftigt die Ermittlungsbehörden ebenso wie die Medien jedoch die Frage, inwieweit Güney mit dem türkischen MIT in Verbindung stand und ob dieser in irgendeiner Weise einen Auftrag erteilt haben könnte, die PKK-Politikerinnen aus dem Weg zu räumen. Der Tatverdächtige selbst wird dazu keine Angaben mehr machen können: Er wurde am 16. Dezember tot in seiner Zelle aufgefunden. Auf einen unnatürlichen Tod gibt es bis dato keine Hinweise, bereits seit Jahren war allen Verfahrensbeteiligten bekannt, dass Güney an einem Gehirntumor litt und sein Ableben nur noch eine Frage der Zeit wäre.
Gerade das facht umso mehr Spekulationen an in einer Zeit, da deutsche Politiker und Medien das Thema «Türkische Geheimdiensttätigkeit auf deutschem Boden» für sich entdeckt haben. Sogar von «Todeslisten» ist die Rede, die türkische Agenten mit nach Deutschland bekommen sollen. Jedenfalls seien aber in Deutschland bis zu 6.000 türkische Staatsangehörige als Informanten des MIT tätig, wobei nicht zuletzt Moscheevereine der DITIB, Reisebüros, Unternehmerverbände oder soziale Einrichtungen als Rekrutierungsbasis dienen. Allerdings soll in Zeiten eines besseren Einvernehmens zwischen den Diensten durchaus auch schon einmal der BND den Kollegen aus Ankara mit Informationen unter die Arme gegriffen haben.
Aus dem PKK-Umfeld werden wiederum Vorwürfe erhoben, die Einleitung des Hauptverfahrens gegen den Tatverdächtigen sei bewusst verzögert worden in der Erwartung, dass dieser die gerichtliche Beweisaufnahme nicht mehr erleben würde.
Während in ihrem Umfeld die Rede davon ist, dass die Staatsanwaltschaft definitiv von einer Beteiligung des MIT ausgeht, und die Süddeutsche Zeitung einen Zwischenbericht vom Juli 2015 zitiert, in dem es heißt, «vieles lässt vermuten», dass der MIT «in die Anstiftung zu den Morden und deren Vorbereitung verwickelt» gewesen wäre, spricht die regierungsnahe türkische Sabah lediglich von «nicht substantiierten Medienberichten» hinsichtlich einer Geheimdienstverwicklung, für die die Staatsanwaltschaft keine Grundlage gefunden habe.
Die türkische Regierung macht einmal mehr die «Fethullistische Terrororganisation/Parallelstaatsstruktur» (FETÖ/PDY) des Predigers Fethullah Gülen für die Ermordung der PKK-Mitgründerin verantwortlich. Diese habe durch die Tat die Friedensgespräche zwischen der Regierung und Öcalan unterminieren wollen, nachdem dem «Parallelstaat» angehörige Staatsanwälte bereits im Jahr 2012 den damaligen Leiter des MIT, Hakan Fidan, zum Verhör vorladen haben lassen – und auf diese Weise erstmals den Argwohn Erdogans dem elitären Netzwerk gegenüber erweckt haben sollen. Einen Geheimdienstchef im Zusammenhang mit einer Untersuchung gegen die PKK vor den Staatsanwalt zu zitieren, das war aus Sicht der Regierung ein Affront.
Auch wenn türkische Politik nach innen wie außen immer wieder einer eigentümlichen Logik folgen mag, die Nichttürken bisweilen verschlossen bleibt: Tatsächlich musste es aus Sicht der Regierung und des MIT als geradezu widersinnig erscheinen, nur einen Monat nach dem offiziellen Beginn der Friedensgespräche diese bereits wieder zu torpedieren. Dies umso mehr, als dieser Schritt in der türkischen Öffentlichkeit äußerst kritisch aufgenommen wurde und der regierenden AKP bei künftigen Wahlen Stimmen kosten konnte.
In diesem Sinne erscheint es tatsächlich nicht als unwahrscheinlich, dass eine aus dem Staatsapparat herausoperierende «Parallelstruktur» öffentliche Einrichtungen genutzt haben könnte, um mittels des Auftragsmordes an den PKK-Politikerinnen gegen die Aussöhnung zu arbeiten. Diese könnte tatsächlich von Mitgliedern des Gülen-Netzwerks gebildet worden sein – wogegen spricht, dass die Bewegung damals noch mehrheitlich loyal gegenüber Erdogan agiert hatte und sich der umstrittene Prediger entgegen früherer chauvinistischer Tiraden damals selbst öffentlich für den Friedensprozess aussprach.
Andererseits ist unklar, inwieweit zum damaligen Zeitpunkt noch nationalistische Netzwerke innerhalb des Staatsapparats eine Rolle spielten. Diese hätten zweifelsfrei ein starkes Motiv gehabt, den Friedensprozess zu unterminieren, allerdings steht in Frage, ob sie nach der Zerschlagung früherer existenter Strukturen im Zuge des Ergenekon-Prozesses noch Gelegenheit gefunden hätten, unbemerkt zu agieren.
Armeekreise könnten jedoch ebenfalls in Betracht kommen. Zumindest behauptete Güney Medienberichten zufolge wiederholt, zu diesen Kontakt zu haben. Dass es in der Armee ein kritisches Potenzial hinsichtlich der damaligen Aussöhnungspolitik Erdogans gegenüber gab, zeigte nicht zuletzt der Putschversuch vom Juli 2015, als einige der später Verhafteten die damals versöhnliche Kurdenpolitik Ankaras als Grund für ihre Revolte nannten.
Im Internet kursierten für kurze Zeit vermeintliche Mitschnitte von Gesprächen zwischen dem Tatverdächtigen und Geheimdienstangehörigen, in denen konkrete Schritte bezüglich Waffenbeschaffung und genauem Vorgehen abgesprochen worden sein sollen. Berichte darüber erschienen jedoch vorwiegend im Januar 2014 in Gülen-nahen Medien, die nach dem offiziellen Bruch zwischen der Regierung und dem Netzwerk eine heftige Pressekampagne führten, bei der auch illegal angefertigte oder gefälschte Dokumente veröffentlicht worden sein sollen.
Auch der französische Journalist Soren Seelow von Le Monde, der sich mit dem Fall befasste, äußerte sich gegenüber der halbstaatlichen türkischen Nachrichtenagentur den Verdacht, dass eine «Parallelstruktur» agiert haben könnte, um gezielt den Verhandlungsprozess zu gefährden. Der Journalist will in diesem Zusammenhang Anhaltspunkte dafür gefunden haben, dass es sich bei einem Ansprechpartner Güneys in der Türkei um Ömer Kozanli gehandelt haben könnte. Dieser galt als «Polizei-Imam der Gülen-Bewegung», die gezielt über Jahrzehnte hinweg die Polizei unterwandert haben soll.

Seelow bringt dabei aber auch einen potenziellen neuen Akteur ins Spiel, nämlich den deutschen BND. Le Monde zufolge habe Güney im Vorfeld des Mordanschlags «mehrfach» eine bestimmte Person in Deutschland kontaktiert, die sogar im Zuge der polizeilichen Ermittlungen in Verdacht geraten wäre, mit der Tat in Verbindung zu stehen. Die Polizei soll gegen diese sogar Ermittlungsmaßnahmen durchgeführt haben, Deutschland habe jedoch eine Auslieferung abgelehnt. Es stelle sich die Frage, ob es sich dabei um einen Informanten des deutschen internationalen Nachrichtendienstes gehandelt haben könnte. Immerhin soll Güney Bilder von etwa 300 Mitgliedern des «Kurdischen Informationszentrums» angefertigt haben, in dessen Pariser Räumlichkeiten der Mord geschah, mit der Absicht, diese an einen ausländischen Empfänger zu schicken. Dieser Aspekt wurde im Rahmen des Verfahrens jedoch nicht vertieft.
Der Anwalt der Opferfamilien, Jean-Louis Malterre, hatte bereits mehrfach eine umfassende internationale Untersuchung gefordert, die auch den Datenaustausch zwischen BND und MIT im Zusammenhang mit PKK-Aktivisten umfassen solle. Geschehen ist in dieser Richtung bis jetzt nichts Konkretes. Mit dem Ableben des Tatverdächtigen dürfte sich auch künftig der Ermittlungseifer in überschaubaren Grenzen halten.