Offenbar noch in Silvesterlaune hat der Vorsitzende der ALDE-Fraktion im Europaparlament, Guy Verhofstadt, die westlichen Demokratien zum «Heiligen Krieg» gegen die Desinformation aufgerufen. Dabei legte er eine Neudefinition von Freiheitsrechten und das Verbot russischer Medien in Europa nahe.
Der Morgen nach einer Silvester-Party ist mitunter schwer zu überstehen. Ja, sogar gefährlich. Vor allem, wenn man dafür bekannt ist, eine große Klappe zu haben, und vergisst, nachzulesen. Vielleicht ist genau das Guy Verhofstadt passiert, als er sich am 3. Januar 2017 der französischen Zeitung Le Monde anvertraut hat.
Vergessen wir nicht, dass der einstige belgische Premierminister als einer der führenden Köpfe im Europäischen Parlament gilt, wo er den Vorsitz der liberalen Fraktion innehat. Er ist vor allem dafür bekannt, für alle Probleme eine Lösung parat zu haben: «Wir brauchen mehr Europa.»
Dieses Mal jedoch hat er sich einem anderen Thema gewidmet, das eng mit Europa verbunden und genauso neuartig ist. Der letzte Satz seines Artikels zielt auf die Priorität ab, deren Beherzigung er von der EU fordert: «2017 müssen wir direkt gegen ihn vorgehen und seine Taktiken vereiteln.» Der angesprochene Kontrahent ist natürlich der russische Präsident.
Wir müssen aufrüsten und entsprechend vorgehen, denn «dieses Jahr werden wir uns alle der Tragweite der von Putin ausgehenden großen Herausforderung für die westliche Demokratie voll und ganz bewusst sein». Vorerst gibt es zwar noch keine EU-Panzer, Raketen und Bomber – und Guy Verhofstadt beklagt diese Tatsache weiß Gott sehr! –, es geht also hier nicht um eine militärische Offensive, sondern um einen Medienkrieg.
Natürlich hegt Herr Verhofstadt keinen Zweifel am Ursprung der Hackerangriffe auf die Server von US-Politikern, vermeintlicher oder tatsächlicher falscher Informationen und anderer schändlicher Propaganda, die dem nächsten US-Präsidenten den Weg ins Weiße Haus geebnet hätten, und auch in diesem Jahr riskieren niederländische, französische und jetzt auch deutsche Bürger, zu deren Geisel zu werden: […] das FBI und die CIA kamen zu dem Schluss, dass Russland eine Kampagne […] geführt hat, die die US-Präsidentschaftswahl zugunsten von Donald Trump entschieden hat.
Wenn diese beiden von Grund auf unterschiedlichen, neutralen Quellen dies bestätigen, kann an der Richtigkeit dieser Darstellung kein Zweifel bestehen.
Nach dem gewonnenen Brexit-Votum sind die Russen, die «den UKIP-Politikern während der Hauptsendezeiten im vom russischen Staat finanzierten Sender Russia Today Raum zur freien Meinungsäußerung einräumten», mittlerweile sogar Wiederholungstäter. Dabei lernt man beiläufig, dass der Sender zum Massenmedium mit Hauptsendezeiten geworden ist.
«In der Europäischen Union sind Tausende von gefälschten Nachrichten-Websites entstanden, viele von ihnen mit fragwürdiger Herkunft», so der Autor weiter. «Fragwürdig», folglich russisch. Wohlgemerkt: «tausende». Und das ist noch nicht alles: Der Kreml hat mehrere hundert Millionen Dollar zur Finanzierung von Propaganda-Tools wie der ‘Presse’-Agentur Sputnik ausgegeben.
Das Wort «Presse» wird dabei natürlich in Anführungszeichen gesetzt, weil die einzige mögliche Übersetzung des Begriffs «Journalismus» auf Russisch selbstverständlich «Propaganda» ist.
Die Mission dieser Propaganda ist genauso einfach wie abscheulich: «Die Untergrabung des Vertrauens in die Demokratien des Westens». Eine wahrhaft abstoßende Absicht, vor allem, wenn man sich vergegenwärtigt, wie grenzenlos die Bewunderung der Menschen in allen vier Ecken der EU den jeweiligen Regierungen und noch mehr Brüssel gegenüber wäre, wie inbrünstig Millionen und Abermillionen Sympathieträgern wie Schulz, Merkel, Lambsdorff, Brok oder Verhofstadt huldigen würden, gäbe es da nur nicht diesen verteufelten Einfluss Moskaus.
Was diese Einflussnahme noch schlimmer macht, ist, dass sie auch noch «revisionistisch» ist, warnt uns Guy Verhofstadt. Weil sie bestätigt, dass «allein Russland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat». Leider hat uns die Abendzeitung eine Fußnote mit Verweisen auf eine solche Erklärung unterschlagen – obwohl diese hilfreich gewesen wäre, vor allem, wenn man bedenkt, dass Wladimir Putin im Jahr 2014 am 70. Jahrestag der Landung der Alliierten in der Normandie teilgenommen hat. Im Jahr 2015 hingegen hielt es kein westliches Staatsoberhaupt für angemessen, anlässlich des 70. Jahrestages des Sieges über Nazi-Deutschland und der Rolle der Sowjetunion dem Roten Platz mal einen kurzen Besuch abzustatten.
Noch schlimmer sind diese insgeheim von Moskau unterstützten «Verschwörungstheorien», die «den Westen beschuldigen […], den Krieg in der Ukraine zu schüren». Es ist schon seltsam, dass wir uns noch relativ wach jener westlicher Führer erinnern, die auf den Maidan-Platz in Kiew drängten, um die Demonstranten zum Aufstand aufzuwiegeln. Nicht nur erstrangige Persönlichkeiten waren darunter, sondern auch ein gewisser Guy Verhofstadt, der am 21. Februar 2014 eine Ansprache an die Menge hielt, in der es hieß: Ihr seid es, die europäische Werte verteidigt, […] wir stehen hinter eurer Sache, hinter eurem Kampf.
Wenige Tage später wurde der rechtmäßig gewählte ukrainische Präsident gewaltsam aus dem Land vertrieben.
Wenn es um die vermeintliche oder tatsächliche Einmischung in die Angelegenheiten der eigenen Länder geht, ist unser Mann weitaus heikler: Die EU und die NATO […] müssen Putin signalisieren, dass jegliche Intervention des Auslands in die Landeswahlen ernsthafte Folgen für die Wirtschaftsinteressen Russlands haben kann.
Am Ende seiner Ausführung wartet der Gute allerdings mit einer geradezu revolutionären Idee auf, die ans Eingemachte geht: Der Westen sollte sich für die Freiheit der Medien einsetzen, ihre Verantwortung belohnen und rechtliche Mittel zur Schließung der Kanäle der systematischen Fehlinformationen bereitstellen.
Wenn diesen Worten Taten folgen sollen, dann muss die Pressefreiheit durch die Finanzierung verdienstvoller Medien und das Verbot missliebiger Medien gefördert werden. Freiheit als Konzept individueller Abwehrrechte gegen den Staat hat in Zeiten der russischen Bedrohung eben ausgedient. Nach dem neuen, sozusagen zeitgemäß adaptierten Verständnis der westlich-liberalen europäischen Demokratien soll sie offenbar künftig stattdessen als das Privileg verstanden werden, das «Richtige» äußern und die «richtigen» Informationen empfangen zu dürfen.
Das ist wahrscheinlich das, was der Autor als die «Verteidigung europäischer Werte» bezeichnet. Das hat zumindest den Vorteil, dass sich auf diese Weise Aufschluss über deren wahre Natur erlangen lässt.