«Kommersant»: Brüssel schimpft auf Italienisch

Dir EU-Parlamentsabgeordneten wählen heute einen neuen Vorsitzenden. Der Ausgang der Abstimmung ist ungewiss, es gibt jedoch zwei Favoriten, schreibt die Zeitung „Kommersant“ am Dienstag.

Die Nominierung des Sozialdemokraten Gianni Pittella sorgte bereits für großen Ärger zwischen den Parlamentsgruppen, wobei die Koalition der Zentristen zu zerfallen droht. Es stellte sich heraus, dass die Anführer der größten Fraktionen zuvor ein geheimes Abkommen unterzeichnet hatten, wobei sich die Sozialdemokraten verpflichteten, den Vertreter der Europäischen Volkspartei bei der Wahl zu unterstützen.

Durch die Nominierung Pittellas wurde dies verletzt. Der neue Vorsitzende des EU-Parlaments soll bei einer direkten geheimen Abstimmung gewählt werden. Insgesamt gibt es sieben Kandidaten, darunter der ehemalige belgische Premier Guy Verhofstadt. Allerdings beanspruchen auch der Vertreter der rechtszentrischen Europäischen Volkspartei, Antonio Tajani, und der Vorsitzende der linkszentrischen Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten (S&D), Gianni Pittella, das Amt des EU-Parlamentspräsidenten. Antonio Tajani ist ehemaliger Kommissar für Unternehmen und Industrie, doch viele sind wegen einem seiner früheren Posten skeptisch – er war Sprecher des skandalösen italienischen Premiers Silvio Berlusconi. Auch seine Verbindungen zum Diesel-Gate könnten gegen ihn sprechen. Tajani war EU-Verkehrskommissar und 2008-2010 für die Kontrolle von Schadstoffausstößen zuständig, als Autos hergestellt wurden, bei denen die angegeben Ausstöße um das Vielfache unterbewertet waren.

Bereits vor wenigen Monaten hatte niemand Zweifel daran, dass der nächste EU-Parlamentsvorsitzende ein Kandidat der Europäischen Volkspartei sein wird. Im Laufe von Jahrzehnten wurde dieser Posten nacheinander von Vertretern der zwei größten Fraktionen besetzt – der Europäischen Volkspartei und der Progressiven Allianz der Sozialisten und Demokraten. „Meine Fraktion ist die größte im EU-Parlament. Deswegen fordern wir, den nächsten Vorsitzenden zu stellen“, sagte der Chef der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber, im vergangenen Herbst und gab damit zu verstehen, dass die Parteimitglieder bereit sind, den Nachfolger für den amtierenden Parlamentschef Martin Schulz aufzustellen. Allerdings hinderte dies Pittella nicht daran, bereits im November seine Kandidatur anzukündigen und damit das Ende der Kooperation mit den europäischen Konservativen zu markieren. „Meine Kandidatur ist die Antwort auf notwendige Änderungen im EU-Parlament und in allen europäischen Institutionen“, sagte der Vorsitzende der Progressiven Allianz der Sozialdemokraten und Demokraten. „Ich bin bereit zur Zusammenarbeit mit allen politischen Gruppen außer Fremdenhassern“, sagte Pittella. Ihm zufolge ist die Reform der europäischen Institutionen der einzige Weg, um effektiv auf die modernen Herausforderungen für das einheitliche Europa zu reagieren.

„Deswegen wäre es dumm, die Parlamentsarbeit im Rahmen derselben Formel des Konsens´ mit der Europäischen Volkspartei fortzusetzen.“ Zudem befürchten Sozialdemokraten ein „rechtes Monopol“ in der EU – die Posten des EU-Kommissions- und EU-Ratschefs besetzen bereits Mitglieder der Europäischen Volkspartei. Jetzt will Pittella linke und grüne EU-Abgeordnete für sich gewinnen. Als Antwort auf den Kurswechsel der Sozialdemokraten veröffentlichte die Europäische Volkspartei ein geheimes Abkommen, das am 24. Juni 2014 – also eine Woche nach der Wahl des neuen EU-Parlaments – unterzeichnet wurde. Laut diesem Dokument verpflichteten sich die Seiten, die Kandidaten auf folgende Weise zu unterstützen – in der ersten Hälfte der Parlamentsamtszeit wurde die Wahl des sozialdemokratischen Kandidaten Martin Schulz garantiert, wobei sich die Sozialisten im Gegenzug verpflichteten, anschließend einen konservativen Bewerber zu unterstützen.

Laut Weber war die Veröffentlichung des Abkommens die letzte Chance, die ehemaligen Verbündeten dazu zu bewegen, für Tajani zu stimmen. Der Bruch mit dieser Tradition könnte ihm zufolge die Stabilität des EU-Parlaments als Institution ins Wanken bringen – über die absolute Mehrheit verfügt keine einzige politische Gruppe. Um einen Konsens zu finden, hätten sich die führenden Parteien an Populisten und Radikale wenden müssen „Die Idee dieses Abkommens war Partnerschaft gegen Extremismus. Ohne Kooperation der proeuropäischen Kräfte wird der Einfluss der Radikalen zunehmen“, warnte Manfred Weber. Inzwischen besteht die Frage nicht nur darin, wer der neue Vorsitzende wird, sondern auch, womit sich der jetzige EU-Parlamentsvorsitzende Martin Schulz befassen wird. Nach der Rückkehr in seine Heimat wird er in den Wahlkampf einsteigen. Ihm werden Spitzenposten prophezeit – möglich seien das Außenministeramt bzw. die Kanzlerkandidatur der Sozialdemokraten.

Quelle: Sputnik