US-Vizepräsident Joe Biden streichelte beim Abschiedsbesuch in Kiew noch einmal die gekränkten Seelen der antirussischen Betonköpfe. Angesichts der künftigen Regierung Trump wagen sich mittlerweile aber auch gemäßigte Kräfte in Kiews Elite aus der Deckung.
«Dies ist mein fünfter Besuch in der Ukraine nach der ‘Revolution der Würde'», sagte Joe Biden am Montag auf einem Presse-Briefing nach Gesprächen mit dem ukrainischen Ministerpräsidenten Wladimir Grojsman und dem Präsidenten Petro Poroschenko in Kiew. Wie es genau zwischen den USA und der Ukraine nach dem Amtsantritt von Trump weitergeht, konnte man der Rede des scheidenden Vizepräsidenten nur in Andeutungen entnehmen.
Er hoffe, dass auch die nächste US-Administration «Unterstützer und Partner der Ukraine» sein werde, sagte Biden. Die Ukraine habe einen schwierigen Weg vor sich, der «mit dem Flug zum Mond vergleichbar» sei. Biden lobte die von der ukrainischen Regierung in den letzten drei Jahren durchgeführten Reformen. Als Erfolg nannte er unter anderem die elektronischen Einkommenssteuer-Erklärungen und die Einrichtung eines Anti-Korruptions-Büros. Wenn die Ukraine den von ihr beschrittenen Weg weiterverfolge, würde sie von den Amerikanern unterstützt werden.
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— RT Deutsch (@RT_Deutsch) 18. Januar 2017
Vieles sei aber noch zu tun. Biden appellierte in seiner Rede zum Thema Korruption jedoch nicht an die Regierung, sondern an die Bürger. Diese müssten gegen Korruption und für Transparenz kämpfen und Beamte vor Gericht bringen, die sich mit staatlichen Geldern bereichern.
Korruption sei eine «Frage der nationalen Sicherheit», denn Russland nutze die Korruption, um «die Ukraine verletzlich zu halten».
Der US-Vizepräsident rief dazu auf, die Direktiven des IWF zu befolgen. Dann werde die Ukraine zu einem Land, in dem investiert werde. Fast zeitgleich wurde bekannt, dass der IWF von der Ukraine fordert, das Rentenalter heraufzusetzen. Die Moskauer Nesawisimaja Gaseta zitierte eine anonyme Quelle mit der Einschätzung, Biden habe dem ukrainischen Ministerpräsidenten dazu geraten, die Forderung der Kreditgeber zu erfüllen, «so unpopulär sie auch ist».
Biden riet, die ukrainische Armee weiter den NATO-Standards anzupassen. Russland müsse das Minsker Abkommen einhalten. Die Umsetzung des politischen Teils des Minsker Abkommens, also Wahlen in Donezk und Lugansk, sei erst möglich, wenn «Russland und seine Günstlinge» in der Ost-Ukraine «ihre militärischen Aktionen einstellen». Erst dann könne man von der Ukraine erwarten, dass sie ihre im Minsker Abkommen festgelegten politischen Verpflichtungen erfülle. Die Krim müsse wieder unter die «Kontrolle der Ukrainer» kommen.
Kiewer Politologen raten zu mehr Flexibilität
Biden hat mit seiner Rede in Kiew sicher dem ukrainischen Präsidenten aus dem Herzen gesprochen. Es war die gewohnte Rede eines Falken. Doch große Hoffnungen, dass die neue US-Regierung Kiew in seinem kompromisslosen Kurs gegenüber den abtrünnigen Gebieten in der Ost-Ukraine unterstützt, konnte Biden dem Gastgeber nicht machen. Das Angebot Trumps an Russland, die Sanktionen rückgängig zu machen, wenn Russland sein Atomwaffen-Arsenal reduziere, zeige, «was das Schlüsselinteresse der USA nach Meinung von Trump gegenüber Russland ist», konstatierte Alena Getmanschuk, die Leiterin des Kiewer Instituts für internationale Politik.
ige ukrainische Politologen warnen mittlerweile, die Ukraine könnte sich vom Westen isolieren, sollte sie an einer kompromisslosen Haltung in der Frage der Ost-Ukraine und der Krim festhalten. Man müsse neue zeitgemäße Wege beschreiten und könne nicht immer nur die gleichen Positionen — nur noch schriller – vertreten, warnen ukrainische Experten.
Der Leiter des Kiewer Zentrums für politische Forschungen, Wladimir Fesenko, schrieb in seinem Blog, das «anklägerische Pathos der Vertreter einer kompromisslosen Haltung» erinnere ihn «an die traurig-berühmte Formel aus der Zeit des Großen Terrors in der UdSSR – ‘Wer nicht für uns ist, ist gegen uns'». Es bestehe in der Ukraine die Gefahr, dass man «die zu Feinden und Verrätern erklärt, die das nicht sind, insbesondere die, welche es wagen, von Kompromissen bei der Regelung des Konflikts im Donbass zu sprechen».
Diese Äußerung war offenbar auch eine Anspielung auf die bekannte Rada-Abgeordnete und ehemalige Soldatin Nadeschda Sawtschenko, die von ihren konfrontativen Vorwürfen gegenüber Russland abgerückt ist und sich auf eigene Faust mit den «Präsidenten» der international nicht anerkannten «Volksrepubliken» Donezk und Lugansk getroffen hat.
Russland sei – so Politologe Fesenko – jetzt an Kompromissen mit dem Westen interessiert. Mithilfe des Westens und im Wege von Verhandlungen müsse die Ukraine jetzt Zugeständnisse von Russland oder zumindest «die Einstellung des Beschusses» in der Ost-Ukraine erreichen.
Multimilliardär Pinschuk ruft zu «schmerzhaften Kompromissen» auf
Der erste Vertreter aus der ukrainischen Elite, der öffentlich zu einer kompromissbereiteren Haltung aufrief, war der ukrainische Multimilliardär Viktor Pinschuk. Er musste wegen eines Ende Dezember im Wall Street Journal veröffentlichten Artikels in Kiew viel Kritik einstecken. In dem Artikel argumentiert der Oligarch, die Ukraine müssen nach dem Wahlsieg von Trump und dessen Ankündigungen, eine andere Politik gegenüber Russland zu machen, neue Antworten finden. Die Situation sei auch dadurch schwieriger geworden, dass auch in Europa Wahlsiege von «Anti-Establishment-Kräften» möglich sind, die «einen Deal mit dem Kreml machen wollen».
Die «instinktive Antwort» vieler Ukrainer auf die «neuen Bedingungen», so der Milliardär, sei es, «das Gleiche wie zuvor zu fordern, nur mit größerer Intensität und Dringlichkeit». Doch es könne sein, dass diese Haltung nicht zum Erfolg führt und die Ukraine die Krim und die Gebiete in der Ost-Ukraine nicht zurückbekommt. Um zu einem Frieden zu kommen, müsse die Ukraine «schmerzhafte Kompromisse» machen. Dazu müsse gehören, die angestrebte EU-Mitgliedschaft der Ukraine zeitweise und die NATO-Mitgliedschaft mittelfristig «zu streichen». Eine NATO-Mitgliedschaft könne zu einer internationalen Krise mit «unvorhersehbaren Auswirkungen» führen.
Die Krim werde sich von selbst der Ukraine anschließen, wenn die Ukraine «in 15 bis 20 Jahren» wirtschaftlich gesundet sei. Jeder Bewohner der Krim wolle dann in der Ukraine leben, «so wie die Ostdeutschen Teil Westdeutschlands werden wollten».
«Faire Wahlen» in der Ostukraine werde es erst geben, wenn die Ukraine dort die vollständige Kontrolle habe. Um aber die «friedliche Wiedervereinigung» zu erreichen, müsse Kiew einen Kompromiss machen und in Donezk und Lugansk lokale Wahlen zulassen.
Kritiker in Kiew meinten, der Brief des Milliardärs folge einem «russischen Szenario». Der Berater für internationale Beziehungen des Kiewer Zentrums Rasumowka, James Sherr, meinte auf der Website Chatham House, die Pinschuk vorgeschlagenen Kompromisse «könne Russland ausnutzen», um sich die Ukraine «unterzuordnen». Einseitige Zugeständnisse würden Russland nicht von diesem lange verfolgten Ziel abhalten.
Multimilliardär Pinschuk sah sich gezwungen, auf die Vorwürfe zu antworten. In einem Beitrag für die Ukrainskaja Prawda schrieb der Oligarch, er sei für die Mitgliedschaft der Ukraine in EU und NATO, zurzeit seien diese Ziele aber «nicht erreichbar». Spekulationen um die Mitgliedschaft in den genannten westlichen Organisationen könnten zur «Spaltung der ukrainischen Gesellschaft» führen. Die Ukraine könne sich dem Westen gegenüber weiter so verhalten, als ob nichts geschehen sei, «aber dann wird man uns nicht ernst nehmen».
Pinschuk will in dieser Woche auf dem Wirtschaftsgipfel in Davos ein Arbeitsessen veranstalten, zu dem er bekannte amerikanische und englische Politiker eingeladen hat, berichtet die Moskauer Nesawisimaja Gaseta. Wegen der Veröffentlichung im Wall Street Journal wolle kein Vertreter des offiziellen Kiew an dem Lunch teilnehmen, schreibt das Blatt.