Tränen in der Oper von Donezk — RT-Spezialreportage aus dem Donbass

Über 10.000 Menschen nahmen am Freitag in Donezk Abschied vom getöteten Feldkommandeur Michail Tolstych, auch Giwi genannt. Ulrich Heyden war für RT Deutsch vor Ort und hat Stimmen gesammelt aus einer Stadt zwischen Trauer, Resignation und Widerstandsgeist.

Ulrich Heyden, Donezk

Vor dem Opern-Theater von Donezk brandete immer wieder Händeklatschen und spontane Sprechchöre auf. „Giwi ist ein Held“ und „Danke, Danke“ schallte es aus der Menge. Für die Menschen in Donezk, die jede Nacht vor den Angriffen der ukrainischen Artillerie zittern müssen, ist der am Mittwoch bei einem Terroranschlag getötete Kommandeur des Bataillons Somali, Michail Tolstych, genannt auch Giwi, kein blutrünstiger Separatist, wie manche Zeitungen in Deutschland schreiben, sondern ein Beschützer.

Während eine nicht enden wollende Schlange von Menschen an dem Sarg von Michail Tolstych vorbeiging, spielte ein Streichorchester klassische Musik. Vor der Oper, in welcher der Sarg aufgebahrt ist, stehen Tausende Bürger der Stadt, um auf der Militär-Lafette mit welcher der Sarg zum Friedhof gefahren werden soll, Blumen niederzulegen. Eine Frau mit einem orangenen Filzhut meint, die westlichen Medien könnten jetzt nicht wieder behaupten, „dass man uns mit Maschinenpistolen hier zusammengetrieben hat“. Das hätten die westlichen Medien im Oktober geschrieben, als es im Zentrum von Donezk eine Trauerfeier für den ebenfalls durch einen Terroranschlag getöteten Feldkommandeur Arsen Pawlow, gab.

Die Stimmung in Donezk ist in diesen Tagen gedrückt. Am Freitag schlug eine ukrainische Uragan-Rakete in der Stadt ein und tötete zwei Menschen. Zwölf Bürger der Stadt wurden verletzt. Und am Mittwoch wurde nun schon der dritte populäre Feldkommandeur bei einem Terroranschlag getötet. Im Mai 2015 war der Feldkommandeur Aleksej Mosgowoi ermordet worden.

Die populären Feldkommandeure waren Helden, weil sie Erfolge in der Auseinandersetzung mit der ukrainischen Armee hatten und weil sie Hoffnung machten, dass der Krieg irgendwann zu Ende sein wird. Doch diese Hoffnung ist jetzt in die Ferne gerückt. Jede Nacht wummern die Explosionen am Stadtrand der Großstadt und sind auch im Zentrum zu hören. 600.000 Menschen, Frauen, Kinder, alte Menschen, Männer leben im Dauerstress.

War Giwi brutal?

War Giwi brutal?, frage ich der Reihe nach Trauernde vor dem Opern-Theater in Donezk. Im Internet kursierte im Januar 2015, während der Kämpfe um den Flughafen von Donezk, ein Video, wo man sah, wie Givi einen gefangengenommenen ukrainischen Kommandeur schlägt. Man sah auch, wie er Gefangene vor laufender Kamera zwang, ihre Schulterstücke zu essen.

Wjatscheslaw, ein alter Mann mit grauem Bart und Fellmütze, der sein Leben lang als Mechaniker und Ingenieur gearbeitet hat, antwortet auf meine Frage mit den Worten:

„Im Krieg kann man nur gut zu seinem eigenen Volk sein. Zu dem Feind kann man nicht gut sein. Erst wenn man die Feinde gefangen genommen hat, kann man demokratisch sein.“

Ich ahne: Jetzt wo Michail Tolstych tot ist, überwiegt die Trauer. Kritik ist jetzt nicht angesagt.

Der Krieg im Donbass macht selbst erfahrene alte Männer sprachlos. Der Rentner Wjatscheslaw, der früher als Ingenieur gearbeitet hat, zieht eine Parallele. Sein Urenkel sei zu Beginn des Krieges im Donbass geboren worden. Er selbst sei zu Beginn des Zweiten Weltkrieges geboren worden. Doch dieser Kampf jetzt sei „ein wilder, unerklärlicher Bürgerkrieg“.

Die 18-jährige Studentin Julia meint, auf meine Frage, wie man den Krieg beenden könne, „die Ukrainer müssen aufhören, wir haben den Krieg nicht begonnen.“ Sie verehre die Freiwilligen, welche den Donbass verteidigen, sagt die junge Frau. Sie wohne neben dem Flughafen und „Giwi“ habe diesen Flughafen gegen die ukrainischen Angreifer verteidigt. Julia hatte durch den Krieg auch einen ganz persönlich Verlust. Ihr Freund, sei bei den Kämpfen um Debalzewo getötet worden, erzählt Julia.

Granatwerfer oder Bombe?

Wie Michael Tolstych genau starb ist nicht bekannt. Zuerst hieß es, er sei durch einen Granatwerfer vom Typ „Schmel“ getötet worden. Am Freitag hieß es dann aus Kreisen der Ermittler in Donezk, möglicherweise sei der Feldkommandeur durch eine Bombe gestorben. Der Sprecher der Donezker Armee, Eduard Basurin, erklärte am Freitag, die Ermittler hätten die Namen der Täter festgestellt. Sie hätten in Kontakt mit dem ukrainischen Geheimdienst gestanden. Die Namen der Täter würden aber, um die Ermittlungen nicht zu gefährden, nicht bekannt gegeben.

Die Moskauer Kreml-kritische Nowaja Gaseta hatte behauptet, Michail Tolstych sei Opfer von Machtkämpfen in seinem Somali-Bataillon geworden. Das soll das Somali-Mitglied Igor Mylzew (Tarn-Name „Franzose“) Journalisten der Zeitung gesagt haben. Von Seiten der Ermittlungsorgane in Donezk hieß es jedoch, die Adresse unter welcher „Franzose“ den Journalisten seine Mitteilung machte, sei schon seit September 2016 nicht mehr im Netz erreichbar.

„Wir weichen zur sehr zurück“, sagt ein junger Passant in Donezk, mit dem ich ins Gespräch komme. Um die ukrainische Armee zu stoppen, müsse man das gesamte Donezker Verwaltungsgebiet erobern. Nur so seien die großen Städte gesichert. Doch für ein offensiveres militärisches Vorgehen gibt es aus Moskau kein grünes Licht. So müssen die Soldaten der international nicht anerkannten Volksrepubliken ihre Städte die nicht weit hinter der Demarkationslinie liegen, so gut es unter den gegebenen Umständen geht, verteidigen. Und dabei setzen sie jetzt auch „Grad“-Raketenwerfer ein.

In Donezk wohnen heute etwa 600.000 Menschen. Vor dem Krieg waren es fast eine Million. Warum nicht mehr zu der Trauerfeier gekommen sind, frage ich die Menschen vor der Oper. „Weil die Leute arbeiten oder studieren“, bekam ich zur Antwort. Ganz zufrieden stellte mich die Antwort nicht. Als ich dann durch die Stadt ging und Passanten nach ihrer Meinung über Giwi fragte, bekam ich auch ausweichende Antworten wie, „ich habe ihn nicht gekannt“ oder „wer in den Krieg zieht, geht das Risiko ein, getötet zu werden“.

Ein Schlosser, der gerade zu einer Reparatur unterwegs war, meinte, wenn er nicht hätte arbeiten müssen, wäre er ganz sicher zur Trauerfeier gekommen. Ein junger Mann, den ich beim Einkaufen traf, meinte, „warum sollen wir um Giwi besonders trauern? Fast täglich sterben hier Menschen. Giwi ist doch nichts Besonderes.“

Den ganzen Tag über habe ich keinen Geschützdonner gehört. Doch als es dunkel wird, geht das Wummern in 15 Kilometer Entfernung wieder los. Die ukrainischen Truppen schießen vorwiegend nachts. Auf diesen Sachverhalt angesprochen, sagte mir ein Mann auf der Trauerfeier:

„Sie wollen uns mürbe machen, aber das wird ihnen nicht gelingen.“