Ein neues „Weißbuch“ soll die Debatte über die Zukunft der EU beschleunigen. Das Papier, das Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am gestrigen Mittwoch vorgestellt hat, skizziert fünf Szenarien einer möglichen Entwicklung der Union; sie sollen in den Vorbereitungen für den EU-Sondergipfel am 25. März berücksichtigt werden.
Das „Weißbuch“
Mit dem „Weißbuch“, das EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am gestrigen Mittwoch vorgestellt hat, will Brüssel die Debatte über die Zukunft der EU beschleunigen. Das „Weißbuch“ präsentiert fünf Szenarien für die Entwicklung des Staatenbundes, die sich, wie Juncker erläutert, „weder gegenseitig ausschließen noch erschöpfend“ sind.[1] Das Papier soll zunächst in die Vorbereitungen für den EU-Sondergipfel am 25. März einfließen, mit dem der sechzigste Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge begangen wird; es soll darüber hinaus aber auch die Entscheidungen über die Zukunft der EU steuern, die spätestens Ende des Jahres erwartet werden.
Nur Binnenmarkt oder umfassende Union?
Die Bandbreite dessen, was die Kommission diskutieren lassen möchte, erstreckt sich von einer Reduktion der EU auf den Binnenmarkt bis zu einer massiven Ausweitung der EU-Kompetenzen. Die Reduktion auf den Binnenmarkt („Szenario eins“) hätte zur Folge, dass die Kapazitäten der EU für ein koordiniertes Handeln sehr begrenzt wären, heißt es im „Weißbuch“; eine gemeinsame Außen- und Militärpolitik etwa wäre nicht mehr möglich. Ergänzend stellt die Kommission fest, es sei auch ein „Weiter so“-Szenario („Szenario zwei“) denkbar, das den Status Quo der vergangenen Jahre fortschreibe; in diesem Fall sei mit mühsamen Entscheidungsprozessen auf den meisten Politikfeldern, mit nur geringen Korrekturen in der Währungsunion und mit einer schwachen Außen- und Militärpolitik der Union zu rechnen. Ein Gegenbild bietet „Szenario fünf“, das eine Vergemeinschaftung sämtlicher Politikfelder auf allen Ebenen beschreibt. In diesem Falle könnte die Währungsunion ausgebaut werden; Brüssel hätte deutlich stärkere Rechte, in die Innenpolitik der Mitgliedstaaten zu intervenieren; vor allem aber wäre es möglich, eine sehr schlagkräftige Außenpolitik zu betreiben und bei Bedarf jederzeit und in beliebiger Intensität mit einer EU-Armee in aller Welt zu intervenieren.
Mehr Militär
Szenario fünf gilt aufgrund der seit je vorhandenen, zuletzt teilweise noch deutlich gewachsenen Widerstände in diversen Mitgliedstaaten gegen Einmischungen aus Brüssel als kaum durchsetzbar. Als sozusagen mittlere Lösungen schlägt das „Weißbuch“ deshalb zwei Szenarien vor, die eine verstärkte Zusammenarbeit entweder nur weniger Mitgliedstaaten oder nur auf wenigen Politikfeldern beinhalten. „Szenario drei“ sieht vor, dass diverse „Koalitionen der Willigen“ die im Vertrag von Lissabon vorgesehene Option auf eine „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ nutzen, also etwa im Bereich der inneren Repression oder in der Außen- und Militärpolitik enger kooperieren. Gestützt auf eine stark verschmolzene Rüstungsindustrie könnte die EU dann in der Weltpolitik weitaus mehr Macht entfalten als bisher. „Szenario vier“ behandelt die Möglichkeit, die EU insgesamt auf deutlich weniger Politikfelder zu konzentrieren, dafür aber in den verbliebenen Bereichen geschlossen und energisch voranzuschreiten. So könnte Brüssel sich etwa aus der Regionalförderung, aus der Gesundheits- und aus der Sozialpolitik weitgehend zurückziehen und stattdessen seine Kapazitäten in der Flüchtlingsabwehr, der inneren Repression und der Außen- und Militärpolitik deutlich ausweiten. Auch mit diesem Szenario schüfe Brüssel sich die realistische Option, machtpolitisch massiv auszugreifen.
Widerstände aushebeln
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat bereits Anfang Februar eine Umgestaltung der EU gemäß „Szenario drei“ gefordert. Die Entwicklung der vergangenen Jahre habe gezeigt, dass es stets „eine EU mit verschiedenen Geschwindigkeiten geben“ werde, „dass nicht alle immer an den gleichen Integrationsstufen teilnehmen werden“, erklärte Merkel.[2] In der vergangenen Woche hat sich Kommissionspräsident Juncker ihrer Forderung angeschlossen. „Es ist nicht mehr zeitgemäß, wenn wir uns vorstellen, dass alle dasselbe zusammen tun“, äußerte Juncker und sprach sich für eine „strukturiertere Konstruktion“ aus: „Sollte es nicht so sein, dass diejenigen, die schneller vorankommen wollen, dies tun können, ohne die anderen zu beeinträchtigen?“[3] Hintergrund ist unter anderem, dass der Aufbau der von Berlin geforderten EU-Militärstrukturen immer noch auf Widerstände trifft. So sperren sich mehrere EU-Staaten dagegen, dass eine „militärische Planungs- und Führungseinheit“, die in Brüssel zur Steuerung von Ausbildungseinsätzen der EU etabliert werden soll, perspektivisch zu einem EU-Hauptquartier aufgewertet wird.[4] Die stärkere Nutzung von „Koalitionen der Willigen“ würde es erleichtern, solche Widerstände zu überwinden. „Wir brauchen ein europäisches Hauptquartier für zivile und militärische Einsätze“, hat am gestrigen Mittwoch Elmar Brok bekräftigt. Brok leitete knapp 13 Jahre lang den Auswärtigen Ausschuss des Europaparlaments und gehört dem Gremium bis heute an.[5]
Geld sparen.
Zumindest Elemente von „Szenario vier“ werden derzeit von Österreichs Außenminister Sebastian Kurz energisch gefordert. Kurz verlangt nicht nur Maßnahmen gegen die Überregulierung der EU und macht sich für eine Verkleinerung der Kommission stark; er will auch das Aufgabenspektrum der Union reduzieren. So solle die EU sich aus der Gesundheitspolitik zurückziehen, erklärt der Wiener Außenminister; auch müsse die „Schaffung einer Sozialunion“ umgehend gestoppt werden.[6] Die Forderung erfolgt auch mit Blick darauf, dass mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU der Unionshaushalt erhebliche Einbußen erleidet; die Mittel müssen in Zukunft entweder von anderen Staaten aufgebracht oder gekürzt werden. Österreich gehört zu den Nettozahlern – ebenso wie Deutschland, auf das laut Angaben von EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger vermutlich Mehrkosten in Höhe von mindestens einer Milliarde Euro zukommen. „Szenario vier“ böte die Option, dies zu verhindern – auf Kosten ärmerer Mitgliedstaaten, die auf einen Teil ihrer Zuschüsse aus Brüssel verzichten müssten. Zugleich ermöglicht das Szenario eine aggressivere Außen- und Militärpolitik der EU: Wie Kurz erklärt, müsse die Union – parallel zur Reduktion ihrer Aufgabenfelder – manche Tätigkeiten intensivieren, darunter die Abschottung der Außengrenzen gegen Flüchtlinge und der Aufbau multinationaler Streitkräfte. Erst kürzlich hat Werner Amon, Generalsekretär der ÖVP, der auch Kurz angehört, erklärt, es könne „keine Frage“ sein, dass „eine politische Union auch außen- und sicherheitspolitisch eng kooperieren muss“; das beinhalte auch „eine gemeinsame Verteidigungspolitik und damit eine EU-Armee“.[7] Mit dieser Forderung liegt die ÖVP auf einer Linie mit Berlin.
Quelle: Defensor Pacis