Siegesparade und Unsterbliches Regiment: Staatstreuer Militarismus oder aufrichtiges Gedenken?

Die Aktion Unsterbliches Regiment zum 9. Mai findet neben Russland noch in 64 weiteren Ländern statt. Sie dient dem Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg. Auch Militärparaden finden statt. Nicht immer zur Freude moralisierender deutscher Bedenkenträger.

Die Kommentare einiger Leser unter der Reportage des freien RT-Deutsch-Autors Ulrich Heyden, die am 10. Mai des letzten Jahres bei Telepolis erschienen war, veranlassen uns dazu, in diesem Jahr dem Massenumzug unter dem Namen «Unsterbliches Regiment» einen speziellen Artikel zu widmen. Bei einigen Kommentatoren, die den Eindruck zu erwecken trachteten, pazifistischem Gedankengut verpflichtet zu sein, hatte nicht zuletzt der Anblick in historischen Militäruniformen gekleideter Kleinkinder zu bisweilen fast claudiarothesk anmutender Empörung Anlass gegeben. Die Rede war unter anderem von einer skurrilen Form des Militarismus.

Auch das Ausmaß der Militärparade zur Siegesfeier am 9. Mai, die in Moskau jedes Jahr stattfindet und zunehmend spektakulärer ausfällt, wirkt für viele in Deutschland befremdlich. Diese werden immer wieder zum gefundenen Fressen der Mainstreammedien, die dann regelmäßig über «Putins Muskelspiele» oder «von oben verordneten Patriotismus» schreiben — wohlgemerkt in einem Land, in dem die Bundeskanzlerin am Wahlabend mit verächtlicher Geste die eigene Fahne beiseitelegt und in dem vor jedem Fußball-Großturnier Politiker vor schwarz-rot-goldener Autobeflaggung warnen. Ob und inwieweit diese Kritik über die in Deutschland allgegenwärtige zweckgerichtete Hypermoral hinaus einen berechtigten Kern aufweist und worin diese Art des Gedenkens im heutigen Russland wurzelt, wollte RT Deutsch herausfinden.

Eine kleine Studie dazu lieferte das Portal Russia Beyond the Headlines (RBTH). Es mag paradox klingen, aber in der UdSSR, die den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg errungen hatte, fielen die Paraden wesentlich bescheidener aus als im heutigen Russland, schreibt Portal. Und sie waren deutlich seltener. Nachdem im Juni 1945 auf dem Roten Platz die erste Siegesparade abgehalten worden war, bei der sowjetische Soldaten die eroberten Truppenfahnen der Nazis vor dem Mausoleum auf einen Haufen warfen, gab es zwanzig Jahre lang überhaupt keine Paraden.

Wie der Historiker Denis Babitschenko bemerkt, befürchteten sowohl Josef Stalin als auch dessen Nachfolger Nikita Chruschtschow eine politische Stärkung der Befehlshaber des Großen Vaterländischen Kriegs und vermieden es deshalb, die Aufmerksamkeit auf diese wie auch auf andere Kriegsveteranen zu lenken. Bis 1965 war der Tag des Sieges nicht einmal ein offizieller Feiertag.

Der erste sowjetische Staatschef, der den Tag des Sieges umfangreich, auf staatlicher Ebene und im gesamten Land feiern ließ, war Leonid Breschnjew. Er war von 1966 bis 1982 der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR. Aber auch damals fanden die Paraden nur zu runden Jahrestagen statt. Die letzte sowjetische Parade wurde 1990 abgehalten. In den ersten Jahren des neuen Russlands setzte die Tradition zunächst aus, erst 1995 wurde sie wieder aufgenommen. Ihr heutiges Ausmaß erreichte sie jedoch erst nach der Jahrtausendwende.

Die Bedeutung liegt im Einheitsgedanken

Der Tag des Sieges sei für das heutige Russland eine der wenigen wirksamen Klammern, die das aus mehr als 190 Ethnien bestehende und noch in den 1990er Jahren vom Zerfall bedrohte Land zusammenhielten, meint der Historiker Dmitrij Andrejew.

Der Tag des Sieges und die entsprechende Gedenkkultur erzeugen einen Impuls der nationalen Einheit und Verständigung», sagte Andrejew im Gespräch mit RBTH.

Die Parade, das Feuerwerk, der Umzug des Unsterblichen Regiments – all diese Rituale fördern die Idee der kollektiven Erinnerung und der Einheit. Die Regierung ist bestrebt, diese Rituale bestmöglich als identitätsstiftende Maßnahmen für das Volk zu bewahren. Deshalb auch die groß angelegten Feierlichkeiten zum Tag des Sieges, deren wohl wichtigster Bestandteil die Militärparade ist.

Kritik und Zustimmung

Dennoch beklagen sich zuweilen auch die Moskauer selbst über die Parade in ihrer Stadt.

Man kommt nicht nah genug heran, um überhaupt etwas zu sehen» beanstandete etwa der Blogger Ilja Warlamow und fragt weiter: «[Die Parade] wird nicht für die Menschen veranstaltet, sondern für die Fernsehkameras. Warum werden zum Beispiel keine Tribünen für die einfachen Leute aufgestellt?»

Warlamow kritisiert die Regierung zudem dafür, dass sie den Tag des Sieges, ein Fest der Erinnerung und der Trauer, mit der «Demonstration von militärischer Stärke» in einen Topf werfe.

Nichtsdestoweniger gefällt der überwiegenden Mehrheit der Russen – nach einer Umfrage des Lewada-Zentrums 96 Prozent – die Parade.

In meiner Kindheit haben wir uns mit unseren Eltern die Parade jedes Jahr angesehen», erinnert sich die Moskauerin Julia Kowaljowa.

Es sieht toll aus, wie die Soldaten so exakt im Gleichschritt marschieren. Und die Militärtechnik und die ‘Hurra’-Rufe! Stolz ergreift die Massen und erzeugt das Gefühl von Geborgenheit. Es ist eine gute Tradition, die gepflegt werden sollte», sagt die 24-Jährige.

Unsterbliches Regiment: Die Anfänge

Es ist mittlerweile auch bekannt, wie die Millionenbewegung Unsterbliches Regiment entstand. Die Idee dazu reicht ebenfalls weit in die Geschichte der Sowjetunion zurück. Die früheste Aktion dieser Art fand bereits im Jahre 1965 statt. Damals gingen die Lernenden einer Schule in Nowosibirsk durch die Straßen der Stadt mit den Fotos der Veteranen in der Hand. Vereinzelt gab es auch später ähnliche kleinere Märsche in verschiedenen Städten, darunter auch in Jerusalem im Jahre 1999.

In seiner heutigen Form ist der Marsch jedoch rund 3.500 Kilometer östlich von Moskau entstanden, im sibirischen Tomsk, als eine Graswurzelinitiative. Die Süddeutsche Zeitung sprach jüngst mit den Initiatoren der Bewegung.

Der Journalist Sergej Lapenkow war es, der ursprünglich die Idee hatte, gemeinsam mit zwei Freunden. Sie wollten eine Form finden, die Erinnerung an die Veteranen auch über deren Tod hinaus lebendig zu halten. Im Jahr 2012 riefen sie erstmals in Tomsk zu einem Gedenkmarsch auf. Sie erwarteten ein paar hundert Teilnehmer. Es kamen am Ende 6.000. Seitdem haben mehr als hundert Städte in Russland das Konzept übernommen. Lapenkow:

Im Unsterblichen Regiment, so wie wir es verstehen, ging und geht es vor allem um das persönliche Gedenken an einen konkreten Menschen. Deshalb ist es auch völlig unwichtig, wie viele Menschen teilnehmen.

Die Tomsker Erfinder des Unsterblichen Regiments hielten sich bewusst von Behörden fern und verzichteten darauf, Strukturen aufzubauen. Die Veranstaltung sollte überparteilich, unpolitisch und fern von staatlichem Einfluss sein — eine Herzensangelegenheit eben.

Das Unsterbliche Regiment als Teil eines globalen Trends

Man hätte ahnen können, dass so ein Auftritt die Staatsmacht nervös macht, sagt Sergej Kolotowkin, einer der Organisatoren in Omsk — eine so große Bewegung, die sie nicht selbst kontrolliert:

Wir haben das Unsterbliche Regiment als ein Projekt zur persönlichen Erinnerung gegründet. Es ging uns nicht darum, große Demonstrationen anzuführen oder zu zeigen, wie stark wir sind. Für mich geht es um das Gedenken an meinen Großvater. Aber wenn 100.000 mitmachen, ist es das Gedenken von 100.000 Menschen. Es geht nicht darum, Macht zu demonstrieren.

Die Grundregeln des Unsterblichen Regiments verbieten jede Politik und kommerzielle Absichten. «Es ist ein Projekt, das die Menschen unabhängig von ihrer Weltanschauung, ihrer politischen Einstellung oder ihrem Glauben zusammenbringt», sagt Kolotowkin. Das Verbindende ist das Gedenken an die Vorfahren.

Als Wladimir Putin im Jahr 2015, zum 70. Jahrestag des Sieges über Nazideutschland, am Marsch mit dem Bild seines Vaters in Matrosenuniform auf dem Roten Platz teilnahm, redeten westliche Medien über eine vermeintliche Vereinnahmung der Volksbewegung durch den Kreml. Dazu haben die Urheber ihre eigene Meinung.

Selbst wenn die Bewegung heute teilweise von staatlichem Hurra-Patriotismus befallen sei, glaubt Kolotowkin, dass sie weiter Gutes bewirken kann.

Wenn einer durch das Unsterbliche Regiment sein altes Familienalbum wieder hervorholt, das er vielleicht zehn Jahre lang nicht mehr angeschaut hat, wenn er bedauert, dass er nicht mehr Fragen gestellt hat, als dieser Großvater noch am Leben war: Dann erwacht in ihm der Wunsch, diese Geschichten an seine Kinder weiterzugeben. Und vielleicht will er auch mehr über seinen Großvater erfahren und beginnt, nachzuforschen.

Der Soziologe und Historiker Mischa Gabowitsch, der am Potsdamer Einstein-Forum forscht, sieht das Unsterbliche Regiment als Teil eines globalen Trends. «Kriegsgedenken als Event» heißt sein neues Buch, in dem er gemeinsam mit Kollegen den Wandel der Gedenkkultur in den postsowjetischen Gesellschaften und in Osteuropa untersucht hat.

«Da gibt es unglaubliche Änderungen», stellt Gabowitsch fest. Er legt in diesem Zusammenhang großen Wert darauf, zwischen Erinnerung und Gedenken zu unterscheiden. Ob sich die Heldentaten der Panfilowzy — ein oft als Mythos gehandelter Vorfall aus der Geschichte der Moskau-Verteidigung — so zugetragen haben oder nicht, sei eine Frage für Historiker.

Unabhängig davon gebe es einen Wandel der Art und Weise, in der des Krieges gedacht werde: «Früher gab es Sammelgräber, alles war anonym, es gab eine Parade, da wurden die Opfer nicht erwähnt.» Es gehe dagegen heute darum, das Gedenken auf die Ebene der Familie zu bringen:

Das ist in den letzten Jahrzehnten in fast allen Ländern der Welt passiert.

Dass das Gedenken vom Staat nachträglich eingerahmt wird, sei im Übrigen nichts Neues. Ähnliches sei schon nach dem Krieg passiert, als die Soldaten in ihre Dörfer und Städte zurückkehrten und zunächst auf eigene Initiative Gedenkorte einrichteten. Wie etwa die ausgemusterten Panzer, die heute noch an vielen Ortseingängen stehen. Als die Kommunistische Partei erkannte, dass es bei Menschen ein Bedürfnis nach Gedenken gibt, übernahm sie die Initiative.

Auch wenn der Staat sich die Kontrolle über das Gedenken zurückgeholt habe, könnten die Initiatoren des Unsterblichen Regiments einen Erfolg verbuchen, findet Mischa Gabowitsch.

Es hat den Staat gezwungen, sein eigenes Repertoire zu transformieren. Putin stellt sich bei der Parade nicht nur auf die Tribüne, sondern läuft auch an deren Spitze mit.

Dass 70 Jahre nach dem Krieg überall auf der Welt dieser Wandel zum persönlichen Gedenken stattfindet, führt der Berliner Forscher auf den Generationenwechsel zurück: Immer weniger Menschen, die den Krieg erlebt haben, sind noch am Leben. Ihre Kinder aber wollen die Erinnerung an ihre Kinder weitergeben.

«Die Enkel sind am aktivsten in dieser Gedenkbewegung», sagt Gabowitsch. Vielleicht, weil die Kinder den Veteranen emotional zu nah waren und Rücksicht auf die Gefühle ihrer Eltern nahmen:

Die Enkel aber wollen etwas herausfinden.

Wenn sich jemand in der Geschichte der russischen Philosophie auskennt, könnten ihm Parallelen auffallen zwischen dem Anliegen der Nachfahren, die Erinnerung an die verstorbenen Kriegsteilnehmer lebendig zu halten, und den Grundideen des russischen Philosophen des späten 19. Jahrhunderts, Nikolaj Fjodorow. Der dem Russischen Kosmismus zugerechnete Denker träumte von einer Zeit, in der alle Vorfahren auferstehen und die Erde wieder bevölkern. Sich auf diese vorzubereiten, sollte das Ziel des gemeinsamen Tuns aller Menschen auf der Erde sein.