Europa – ein schreckliches Gemeinsames Haus

 

Bis zuletzt galt Europa als eine stille und ruhige Ecke, wo man Frieden und Wohlstand genießen konnte. In den letzten zwei Jahren kann man von der Alten Welt aber wohl nicht mehr sagen, das wäre eine Art Paradies auf Erden, schreibt die Online-Zeitung Lenta.ru am Freitag.

 

 

Frankreich, Belgien, Großbritannien, Deutschland oder auch Schweden werden in letzter Zeit regelmäßig terroristischen Angriffen ausgesetzt, bei denen Menschen sterben.

Die größte Herausforderung an die Europäer ist die Natur des modernen Terrorismus, die im Grunde einmalig zu sein scheint. Es gilt, dass der Terrorismus als Weg zum gewaltsamen Erreichen gewisser Ziele in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Russischen Zarenreich entstand. Aber Aktionen, die sich als Terrorismus bezeichnen lassen, gab es zu allen Zeiten, unter anderem auch in Europa. Kämpfer der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) sprengten Militärobjekte, aber auch übliche Pubs in Ulster oder auch in der Metropole und jagten die damalige Ministerpräsidentin Margaret Thatcher. Linke Gruppierungen in Italien und Deutschland entführten und töteten dortige Politiker. In Paris gab es Ende 1996 mehrere Anschläge in der U-Bahn. Auch Russland wurde in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren von mehreren schrecklichen Terrorattacken erschüttert.

Aber in allen Fällen verfolgten die Terroristen ganz konkrete Ziele: ob die Vereinigung Irlands, den Triumph der kommunistischen Ideen, die Befreiung Palästinas oder Russlands Verzicht auf einige Gebiete im Nordkaukasus.

Die aktuelle Situation in der Alten Welt ist aber unerhört: die Terroristen verfolgen kein Ziel. Die Angriffe gegen friedliche Zivilisten sind das Ergebnis der Beziehungen, aber keines konkreten Problems. Das mag schrecklich klingen, aber die europäischen Völker müssen jetzt einen hohen Preis für die langjährige Vernachlässigung des Problems der sozialen und kulturellen Schichtung zahlen. Um diese Frage jetzt in den Griff zu bekommen, genügt es wohl nicht mehr, nur die Effizienz der staatlichen Verwaltung über die kulturelle und religiöse Vielfalt zu steigern. Die Kontroversen zwischen den europäischen Gesellschaften und den Terroristen sind äußerst subjektiv: Die einen wollen einfach, dass die anderen nicht mehr leben. Und stellen dabei keine klaren Forderungen – vielleicht außer der Aufnahme der europäischen Provinzen in ein gewisses Kalifat.

Die Europäer stehen vor einer sehr schwierigen Wahl. Es ist offensichtlich, dass es auch neue Terroranschläge geben wird. Zwar könnten sie das so genannte „israelische Modell“ einschlagen, wobei die Gesellschaft sich allmählich an die permanente Präsenz der Terrorgefahr in ihrem Leben quasi gewöhnen müsste. Doch dann würde die Alte Welt auf ein nahezu existenziales Problem stoßen: Erstens müssten dann viele Bürgerrechte und —freiheiten wesentlich beschränkt werden – ohne das wäre eine effiziente polizeiliche Kontrolle über die Situation unrealistisch. Und während in einigen Ländern das relativ leicht gelingen dürfte, gelten persönliche Freiheiten in Ländern wie Belgien oder Holland als absolut höchster Wert, und damit könnte es Probleme geben. Doch dann wäre eine „Integration verschiedener Geschwindigkeiten“ wohl kaum möglich. Schon jetzt betrachten viele Franzosen ihr liberales Nachbarland als Gefahrenquelle. Und dann entsteht unvermeidlich das zweite Problem: Die innere Sicherheit kann nur auf dem nationalen Niveau gewährleistet werden.

Das Leben der eigenen Bevölkerung zu schützen, ist die allerwichtigste Aufgabe jedes souveränen Staates. Wenn er sie jemandem sonst überlassen würde, würde er dadurch seine eigene Untauglichkeit einräumen. Deshalb könnte auch sein, dass die europäischen Länder bald wieder die Grenzkontrollen innerhalb der EU einführen müssen. Schon im vorigen Jahr dauerte ein Flug von Paris nach Frankfurt 40 Minuten, die Grenz- und Sicherheitskontrolle aber gut zwei Stunden.  Und künftig könnte die Situation aus dieser Sicht noch schlimmer werden.

Aber noch mehr Fragen ruft der langfristige Aspekt dieses Problems hervor. Sollte diese Terrorwelle nicht nachlassen, könnte sich die ganze Konzeption bezüglich der Rolle der Alten Welt auf der Weltkarte verändern. Denn erst vor zehn oder 15 Jahren galt Europa als ein friedlicher Ort, wo man seine Ruhe und seinen hohen Wohlstand genießen könnte. Jetzt aber werden in diesem „Paradies auf Erden“ Bomben gesprengt und Passanten auf offener Straße erschossen. Und damit ist das kein „Paradies“ mehr. Was aber dann? Und angesichts dieser durchaus möglichen Transformation Europas eröffnen sich sehr beunruhigende Perspektiven.

 

Quelle: Sputnik