Die Hyperglobalisierung bedroht die Welt: Teufelskreis oder Titanic-Kurs?

 

 

Von Verena Tobler Linder

 

1. Stand der Dinge: Neu-alte Verstrickungen und eine erste Form neoliberaler Gerechtigkeit?

Seit den 80er Jahren ist klar: Immer mehr Menschen verlassen den wirtschaftlich und politisch ge-beutelten Süden, um Arbeit und Zuflucht in den westlichen Konsumparadiesen zu suchen. Wie bei der einstmaligen Auswanderung der Europäer in die USA, handelt es sich um Einwegmigration. Unter welchen Titeln auch immer die Betreffenden heute in Europa immigrieren: Sie wollen hier bleiben und ihre Familien nachholen. Viele engagieren sich für das Recht auf freie Migration – eine Frage der Ge-rechtigkeit? Sehen wir genauer hin, ist doch der Westen auf vielfache Weise mit der neuen Einweg-migration verstrickt. Seit Jahrhunderten hat er zum eigenen Vorteil die wirtschaftliche Ungleichent-wicklung befördert. Denn unsere Wirtschaft funktioniert nur, so lange das Kapital zirkulieren und dorthin fliessen kann, wo Profit anfällt. Die neoliberale Hyperglobalisierung erfordert nun, dass nicht nur Güter, Finanzen, Dienstleistungen, sondern auch Arbeitskräfte sich grenzenlos frei bewegen. „Freie Migration“ bringt dem transnationalen Kapital doppelten Profit: Treten Arbeitskräfte in gren-zenlose Konkurrenz, sinken die Löhne – vorab für die wenig Qualifizierten; gleichzeitig fallen die Kosten für Erziehung, Bildung, Ausbildung nicht mehr am Kapitalstandort, sondern in den Herkunfts-ländern an. Beides erleichtert die Kapitalkonzentration im supranationalen Hochoben: Reiche und Su-perreiche werden allerorts noch reicher und mächtiger, während die Armen weltweit ärmer und schwächer werden — viele relativ, manche absolut.
Besonders raffiniert interveniert George Soros, der dank Spekulation zum Multimilliardär geworden ist. Über sein Open-Society-Projekt lässt er jährlich zig Millionen in Regime-Change-Operationen fliessen – u. a. in Jugoslawien, Ägypten, Tunesien und in der Ukraine . Kommt es zu einem Regierungs-wechsel, bricht sich das transnationale Kapital regelmässig die Filetstücke aus der betreffenden natio-nalterritorialen Wirtschaft heraus. Weil der superreiche Menschenrechtsmäzen mit seinen Zahlungen aber keine Regierungen herbeizaubern kann, die in der Lage sind, den territorialen sozialen Ausgleich zu finanzieren, ist für weitere soziale Polarisierung gesorgt: die Unzufriedenen beginnen abzuwandern. Als schlauer Fuchs will Soros dem Finanzkapital eine dritte Profitquelle erschliessen: Er setzt auf die Migration und schlägt vor, die Ausgaben, die in der EU für die Integration der Neulinge anfallen, auf Pump zu finanzieren: eine Lösung, an der das Finanzkapital nicht nur verdienen, sondern — dank Verschuldung und Ratingprozessen — die Staaten sogar noch gängeln kann.
Wir haben es mit der ersten Form neoliberaler Gerechtigkeit zu tun: Die Menschen im sozialen Unten werden einander weltweit gleichgestellt, während nach oben immer mehr hierarchisiert, zentralisiert, feudalisiert wird. Alle Macht für transnationale Konzerne und Aktionäre, für internationale Institutio-nen und die im sozialen Hochoben agierenden Personen — samt Erben: Friede den Palästen, Krieg den Hütten!
Die Verstrickung von neoliberalen Interessen und Globalisierung ist noch in anderer Hinsicht janus-köpfig. Während Soros Proteste „vor Ort“ scheinbar friedlich unterstützt und finanziert, greift der Westen neu auf alte Strategien zurück, wie er sie gegenüber wirtschaftlich und technologisch schwä-cheren Regionen über Jahrhunderte praktizierte. Im Werk „King Cotton“ zeigt der Historiker Beckert am Beispiel der Textilindustrie auf, wie der Kriegskapitalismus funktioniert hat: Weite Teile der Welt wurden kriegerisch erobert, zu Kolonien degradiert, deren Einwohner in den frühkapitalistischen Produktionsprozess gezwungen – sei’s über Sklaverei, sei’s über Zwangsarbeit. Bald wurde diese Machtergreifung vom Westen rassistisch, bald über Missionarismus und christliche Werte legitimiert. Pankaj Mishra schildert das im Buch „Aus den Ruinen des Empires“ eindrücklich aus der Warte von Betroffenen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die westlichen Machthabern „Krieg“ zunächst vermieden: Er war unnötig! Denn beim Wiederaufbau Europas wurden relativ hohe Wachstumsraten erzielt, und die Ent-kolonialisierung brachte den Westmächten, dank Produktivitätsvorsprüngen und hoch qualifizierten Arbeitskräften, für einige Dekaden günstige Bedingungen auf dem Weltmarkt.
Inzwischen hat sich dreierlei geändert: Erstens kommen mit dem Eintritt der BRIC-Staaten in die Weltwirtschaft neue bevölkerungs- und technologiepotente Konkurrenten dazu. Der Kampf um Ein-flusssphären, Märkte und Ressourcen verschärft sich: Deutschland wird nun am Hindukusch verteidigt. Der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei, ein CSU-Mann, plädierte jüngst im Europarat für eine schlagkräftige Armee, um «ein starkes durchsetzungsfähiges Europa» aufzubauen. Zwei-tens sind es selten mehr die Arbeiter, die politische Umwälzungen herbeiführen: Es sind die Konsu-menten. Getrieben vom grenzenlosen Konsumwünschen streben sie eine Regime-Change-Politik an und aspirieren auf eine rasch wachsende Wirtschaft – die DDR lässt grüssen! ….. und der Kapitalismus floriert. Drittens legitimiert der Westen seine Machtansprüche gegenüber der restlichen Welt nicht mehr damit, die dortigen Menschen seien zum Christentum zu bekehren. Nein, die neuen Kriege wer-den im Namen von Menschenrechten und Demokratie geführt. Der oben erwähnte CSU-Mann im Ori-ginalton: «Es geht heute nicht mehr um eine deutsche Leitkultur, sondern eine europäische Leitkultur. Diese europäische Leitkultur müssen wir verteidigen und, wenn möglich, global behaupten».

2. Die Einwegmigration von Süd nach Nordwest: ein Teufelskreis?

Einwegmigration und neoliberale Migrationspolitik werfen ihre Schatten hier und dort. Hier bringen sie im multikulturellen sozialen Unten der Wohlfahrtsstaaten zunehmend Konfliktstoff. Europa ist in zwei Lager gespalten: auf der einen Seite jene, die offene Grenzen einfordern und zu neoliberaler So-lidarität mit den Menschen aufrufen, die sich in unsere Konsumparadiese aufmachen; auf der andern Seite jene, die am liebsten die Grenzen dicht machen und die Neulinge aussperren würden. Auch dort befördern neoliberale Migrationspolitik und Abwanderung die sozioökonomische Polarisierung. „Vor Ort“ allerdings kippt die wirtschaftliche Armut rasch in Elend und Anomie, so dass die Einwegmigra-tion von Süd nach Nord erst recht zum Normalfall wird.

Doch wer verlässt den Süden? Zuerst die mehr oder weniger qualifizierten Abkömmlinge der Mittel-schicht. Später stossen ungebildete Schichten nach: das Reisegeld vom Clan bereitgestellt oder auf Pump finanziert – etwas, das in langjährige Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnisse münden kann. Flüchtlinge, Armuts- und Arbeitsmigration sind kaum mehr auseinanderzuhalten: in die westlichen Wohlfahrtsstaaten reisen alle ein, weil sie sich hier für sich und ihre Familien ein besseres Leben er-träumen. Und als BürgerInnen armer Staaten haben sie samt und sonders recht: die Unterschiede zwi-schen der hiesigen und der dortigen sozioökonomischen und politischen Situation sind enorm.
Allerdings ist das extrem individualistisch und erzliberal gedacht. „There is no such thing as society“! mit diesem Satz hat Margret-Thatcher 1987 die neoliberale Politik begründet und dazu aufgerufen, die gesellschaftlichen Strukturen auszublenden. Um in solcher Situation nicht mit Schuldgefühl, Verleug-nung oder Wunschdenken zu reagieren, bräuchte Europas Linke dringend mehr Verstand: einen Ver-stand, der die Notwendigkeit zur Hilfe an Individuen und zu Strukturveränderungen zusammensehen kann.
Immerhin erkennen wenigstens einige liberale Wirtschaftswissenschafter und Philosophen, dass die neue Einwegmigration das sozioökonomische Gefälle zwischen und innerhalb der Staaten und damit auch den Migrationsdruck laufend verstärkt: Wir haben es mit einem Teufelskreis zu tun!
Ich fasse die drei wichtigen Argumente von Collier und Nida-Rümelin zusammen:
• Die armen Länder verarmen noch mehr: Die Emigration nimmt ihnen die Kraft, sich eigenständig zu entwickeln. Denn es wandern nicht nur die Brains, sondern die Jungen ab, darunter die Begabtesten und die Tüchtigsten — jene, die überdurchschnittlich qualifiziert und ehrgeizig sind.
• Die laufende Immigration lässt in Europa zwar die Wirtschaft wachsen, befördert aber gleichzeitig die wirtschaftliche Polarisierung, zerstört den nationalterritorialen Zusammenhalt sowie die hiesigen Solidarinstitutionen samt der nötigen Solidarbereitschaft: Denn die Neulinge von den weltwirtschaftli-chen Rändern treten mit den Ärmsten und Schwächsten unter den Einheimischen in Konkurrenz: Ar-beitsplätze, Wohnraum, Sozialhilfe werden knapp. Viele bringen zudem andere Sozialmodelle mit und Ordnungsvorstellungen, die mit den unsrigen oft in heftigen Konflikt geraten. In solcher Situation kann das es Kapital gleichzeitig Steuerabgaben, Sozialbeiträge und in den unteren Chargen die Löhne ab-bauen.
• Die Wohlstandskluft wird mit Geldtransfer in die armen Länder n i c h t abgebaut: Entwicklungshilfe, z. B. in Form von Budgetsupport, konzentriert die Macht und Herrschaft im sozialen Oben und be-günstigt die Korruption. Bestenfalls kann Entwicklungszusammenarbeit — z. B. mit Ausbildungspro-grammen — eine Voraussetzung für wirtschaftliche Entwicklung bereitstellen. Sogar die Mittel, welche die MigrantInnen nach Hause schicken, werden „vor Ort“ selten produktiv investiert, sondern von vie-len Familien für den Konsum verbraucht oder aber als Reisegeld für jene genutzt, die ebenfalls in den Norden wollen.
Branko Milanovic meint in „Global Inequality“ lakonisch: „I conclude with something that resem-bles a slogan: either poor countries will become richer, or poor people will move to rich countries.“
Viele liberale Ökonomen sind sich einig: ohne Politikänderung nimmt die Einwegmigration weiter zu. Doch nur die Migration zu unterbinden, wäre unmenschlich und kontraproduktiv: Es liefe auf eine glo-bale Kastengesellschaft mit viel Gewalt hinaus, auch da sind sich die liberalen Autoren einig — zum Glück!
Meine persönliche Einschätzung der Situation: Wer die Ursachen für den Exodus aus dem globa-len Süden angehen will, hat die ungleichen Strukturen abzubauen. „Struktur“ bezeichnet die macht-mässige Gliederung einer Gesellschaft, „Macht“ den Grad, in dem technologische, wirtschaftliche, po-litische, rechtliche und soziale Faktoren zusammenwirken – den einen zum Vorteil, anderen zum Nach-teil.
Eine kurze Illustration, in welcher Weise die Strukturungleichgewichte hier und dort korrespondieren: Dass sich in unseren Wohlfahrtsstaaten ein Szenario nach dem Muster „Ihr da oben, wir da un-ten!“ herausbilden würde, war abzusehen — inzwischen von der Rechten propagiert und so schamlos wie strukturblind ausgenutzt. Doch ist die Linke ebenso strukturblind, wenn sie Probleme und Konflik-te um die neue Einwegmigration einfach als Erfindung von fremdenfeindlichen Einheimischen und Po-litikerInnen abtut.
Acuh in den armen und halbarmen Staaten nehmen die strukturellen Ungleichgewichte zu. Nicht we-gen den Interventionen eines George Soros: der weiss die wachsenden Spannungen nur geschickt zu nutzen. Die wirtschaftlichen und soziokulturellen Verwerfungen bringen „vor Ort“ oft bürgerkriegs-ähnliche Zustände oder münden sogar in failed states. Denn während die dortige Ober- und Teile der Mittelschicht längst in die globale Kapitalzirkulation integriert sind, bleibt das Gros der Bevölkerung ohne formelle Erwerbsarbeit und damit ausgeschlossen von staatlich organisierter Solidarität, von mo-derner Rechtsstaatlichkeit, oft sogar von staatlichem Schutz. Oder umgekehrt: Rechtsstaatlichkeit und staatlich organisierte Solidarinstitutionen setzen voraus, dass die Sozialbeziehungen mehr oder weniger durchmonetarisiert sind. Das heisst: Die Bevölkerungsmehrheit muss eine formelle Erwerbsarbeit ha-ben — es sei denn, sie erhalte z. B. Renten aus Erdöleinnahmen. All jene Anderen aber, die von den Segnungen der Kapitalzirkulation ausgeschlossen sind, können „vor Ort“ nur dank vormodernen Soli-darmodellen überleben: Diese funktionieren auf der Basis von Verwandtschafts- oder Religionszuge-hörigkeit. Das heisst: Solidarität und Ausgleich sind nicht staatlich, sondern von der Tradition oder von der Religion vorgeschrieben, organisiert und legitimiert. Nota bene der Hauptgrund dafür, dass die neue Immigration hierzulande heftige Konflikte bringt. Weder bei den Reichen noch in den hiesigen Bildungsbürgerschichten, sondern in der Unterschicht prallen am Arbeitsplatz, im Quartier und in der Schule vormoderne und moderne Ordnungsvorstellungen aufeinander. Denn die Neulinge von den weltwirtschaftlichen Rändern, in Europa ins soziale Unten verwiesen, halten häufig an ihren traditiona-len Ordnungsvorstellungen fest – vorab an ihren verbindlichen und oft hoch ungleichen Geschlechts- und Generationenrollen. Das kann im multikulturellen Zusammenleben der Unterschichtsquartiere so nervig sein wie am Arbeitsplatz oder in der Schule. Zudem sind viele der traditionalen Rollenvorstel-lungen hierzulande gesetzeswidrig und Konflikte um sie werden u. U. gewaltsam ausgetragen: „vor Ort“ existiert das Gewaltmonopol des Staates oft nur auf dem Papier! Dass dieses Konfliktpotenzial inzwischen von einigen nüchtern erkannt und benannt wird, ist verdienstvoll. Leider schlagen aber vie-le Liberale — auf Teufel-komm-raus! — als Lösung weltweites Weiterwachsen vor. Notorisch übersehen wird die Klima- und Umweltfrage – und das ist prekär!

3. Die zweite Form neoliberaler Gerechtigkeit: Ursache für einen Titanic-Kurs?

Viele liberale Ökonomen nehmen also inzwischen die strukturellen Ungleichgewichte ernst, blenden aber beharrlich den wichtigsten Strukturfaktor aus: den Zugriff auf die Ressourcen. Dabei ist die Tech-nologie, mit der wir Menschen uns Natur und Umwelt verfügbar machen, der historisch entscheidende Entwicklungsfaktor und betrifft das wichtigste, weil zukunftsentscheidende Strukturungleichgewicht.
Denn dass die Bevölkerungsmehrheit im globalen Süden sehr viel ärmer ist als wir, heisst konkret: ihr Zugriff auf die globalen Ressourcen ist limitiert. „Vor Ort“ lebt ein Grossteil der Menschen noch von der Muskelkraft und hat so nur einen räumlich und energetisch limitierten Zugriff auf die lokale Res-sourcen. Wer hingegen in einem westlichen Kapitalzentrum residiert, geniesst einen grenzenlosen Zu-griff auf die globalen Ressourcen. Auf Ressourcen, die allerdings nur phantasmagorisch grenzenlos sind. Längst konsumieren wir in den westlichen Wohlfahrtsstaaten ein Übermass an Ressourcen und verbrauchen dafür Unmengen an nicht-menschlicher Energie. Die folgende These gilt weltweit, wäre aber statistisch zu erhärten: Die heutigen Menschen bewegen sich von Orten mit niedrigem Energie- und unterdurchschnittlichem Ressourcenverbrauch an Orte mit überdurchschnittlich hohem bzw. unzu-lässigem Energie- und Ressourcenkonsum — vom Land in die fetten Städte, vom Süden in den grenzen-los gefrässigen Nordwesten.
Leider ist dieser elementare Zusammenhang von der disziplinär hoch fragmentierten Wissenschaft bis-lang noch kaum erforscht. Ich kann deshalb die zwei entscheidenden Faktoren nur mit ganz groben In-dikatoren erfassen. Erstens: Der durchschnittliche Bruttoenergieverbrauch pro Kopf und Jahr lag 2012 weltweit bei rund 22 000 kWh. Der Kontinent mit dem höchsten Pro-Kopf-Verbrauch ist Nord-amerika mit rund 80 000 kWh pro Kopf und Jahr. Das ist rund 10-mal mehr als in Afrika. Europa hat einen durchschnittlichen Pro-Kopf-Verbrauch von 38 000 kWh, in der Schweiz beträgt er 37 500 kWh. Zweitens: Als Mass für den Verbrauch an Biokapazität diene mir der ökologische Fussabdruck: 2012 wurden pro Person 2,7 ha verbraucht, dabei stünden für eine global nachhaltige Lebensweise le-diglich 1,8 ha zur Verfügung. Diese Flächenbeanspruchung ist zudem sehr unterschiedlich verteilt: Die geringste hatten Bangladesh mit 0,62 ha/Person, Osttimor mit 0,44 ha/Person, Puerto Rico mit 0,04 ha/ Person. Die EU beispielsweise benötigte 4,7 ha pro Person, kann aber nur 2,2 ha zur Verfügung stel-len, das heisst: die Biokapazität wurde mehr als doppelt überschritten. Deutschland verbraucht knapp das Zweieinhalbfache seiner vorhandenen Biokapazität; auch die Schweiz bräuchte mehr als zwei Pla-neten, wollten alle Menschen so leben wie wir. Vergleichbare Ungleichgewichte finden sich auch zwi-schen Stadt und Land.
Zurück zu den ImmigrantInnen: Weder ihre Träume noch der Versuch, diese zu realisieren, ist ihnen vorzuwerfen. In der kapitalgetriebenen Weltwirtschaft haben alle Menschen dieser Welt das Recht, so leben zu wollen und so zu leben, wie wir das in den nordwestlichen Konsumparadiesen vorleben und tun. Damit zur zweiten hoch problematischen Form neoliberaler Gerechtigkeit: Sie ist nur im Rahmen der grenzenlosen Wachstumswirtschaft vertretbar. Dabei wissen wir seit fünf Dekaden, dass das Wachstum an Grenzen stösst und der derzeitige Verbrauch ökologisch untragbar ist. Im reichen Wes-ten mögen jedoch nur wenige daran denken, dass sie den Gürtel künftig enger schnallen müssen. Statt dass wir uns am global und national zulässigen, sozial und ökologisch nachhaltigen Ressourcen- und Energiekonsum orientieren, treiben wir das Wachstum mit Volldampf voran – allem voran unser eige-nes. Schimmer noch: Die neoliberale Politik setzt in den USA und in der EU auf neue Kriege mit dem Ziel, den westlichen Lebensstandard, d. h. unseren bislang grenzenlosen Zugriff auf die Ressourcen zu verteidigen — inklusive die damit verbundenen Profitchancen für „unser“ Kapital.
Ebenso dramatisch: Ausgerechnet die grenzenlose Migration dient dazu, das System ewigen Weiter-wachsens zu erhalten. Zum einen kann der Kapitalismus dank der Einwegmigration laufend neue An-hängerinnen und konsumfreudige Unterstützer rekrutieren. Zum andern erlaubt die Immigration den europäischen Umweltsündern, ihr Abspecken auf den Sankt-Nimmerleinstag zu verschieben. Sogar Ablasshandel kommt wieder in Mode: Wir kaufen den unterversorgen Ländern Rechte ab, die uns den Überkonsum gestatten. Ablassverdächtig handeln aber auch jene, die mit ihrer Hilfe an ImmigrantIn-nen nur ihr schlechtes Gewissen beruhigen, ohne zu fragen, weshalb die Betreffenden ihr Land verlas-sen und ausgerechnet ins weit entfernte Europa vorstossen. Selbstverständlich sind Empathie und Hilfe nötig und unverzichtbar! Wenn sie uns jedoch dazu verleiten, auf die Suche nach sozial und ökolo-gisch nachhaltigen Formen des Wirtschaftens zu verzichten, haben wir es mit einer Katastrophe zu tun: Der altbekannte und kapitalimmanente Teufelskreis von ungleicher Entwicklung und Migration wird zum Titanic-Kurs.

4. Ein Plädoyer für eine neue Weltwirtschaftsordnung

Teufelskreis und Titanic-Kurs können wir nur über eine andere Form der Globalisierung abwenden. Bevor ich über die neue Weltwirtschaftsordnung sinniere und auf die Migration zurückkomme: eine Rückbesinnung, um die Probleme ins richtige Licht zu rücken. Als gegen Ende des 20. Jahrhunderts Internet und Handy erfunden und verbreitet wurden, war mir klar: ein gewaltiger und weltweiter Um-bruch ist angesagt. Eine Umwälzung der Verhältnisse, wie sie im Übergang vom Mittelalter in die Neuzeit und mit der Erfindung des Buchdrucks in Gang kam. Ganz Europa wurde damals von langen und schweren Religionskriegen versehrt; Gemeinschaften und Staaten wurden revolutioniert und neu formiert. Getrieben von beidem: vom sich profanisierenden Wissen und vom Kapital, das — auf der Su-che nach Profit und Produktivitätsvorsprüngen — gezwungen ist, die Technik und das Wissen ständig umzuwälzen.
Damit sei nun auch die helle Seite des Kapitalismus unterstrichen: Er hat eine technologische Entwick-lung gebracht, die im Westen ein langes Leben und den Wohlfahrtsstaat ermöglicht und eine fantasti-sche Entfaltung von Wissenschaften und Künsten erlaubt hat. Inzwischen aber bringt uns der kapitalge-triebene Wachstumszwang immer näher an ein soziales und ökologisches Desaster — ein Kurswechsel ist dringend!
Doch um den eingeschlagenen Titanic-Kurs zu berichtigen, braucht es viel!
Deshalb nun das Plädoyer für eine neue Weltwirtschaftsordnung: Der Kurswechsel ist radikal!
Nur eine grobe Skizze kann ich liefern – voll mit Spekulativem, Irrtümern, Risiken, Naïvitäten.
Für die neue Weltwirtschaftsordnung braucht es vorab eine neue Politik-Kultur. Auf den Kurs in eine sozial und ökologisch nachhaltige Zukunft kommen wir nur, wenn wir Licht und Schatten zusammen-sehen: in Freund und Feind, im Eigenen und im Fremden. Schwarz-Weiss-Malerei und Lagerdenken bringen nicht weiter. Das Links-Rechts-Hickhack, das derzeit grassiert, dreht sich genauso im Kreis wie die Populismus-Beschimpfungen aus dem neoliberalen Hochoben. Alle drei Positionen sind in der Enge ausschliesslicher und kurzfristiger Eigeninteressen geboren. Und das derzeit so moralisierende Gerangel verunmöglicht den nötigen Weitblick und hindert uns daran, gemeinsam neue Wege zu su-chen und zu gehen.
Soviel ist sicher: Die Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Sie hat weder den grenzenlosem Profitinteressen noch der grenzenlosen Gefrässigkeit von KonsumentInnen zu dienen. Sie hat den Menschen zu ermög-lichen, ihre unelastischen Bedürfnisse zu befriedigen. Und das können sie auf diesem Planeten derzeit nicht mehr überall: Was die einen zu viel haben, haben andere zu wenig.
Geld und Markt sind wunderbare Erfindungen, ohne sie können wir vermutlich nicht mehr überleben. Aber wenn wir sie als „grenzenlos“ konzipieren, werden ihre Auswirkungen verheerend. Geld diente dem Tauschen, zu Kapital wurde es erst, als es wachsen musste. Und so sind die heutigen Grossmärkte immer weniger vom Tausch und der Vielfalt inspiriert, sondern vorab von Gier und Einfalt getrieben.
Ökologisch nachhaltiges Wirtschaften kann m. E. nur innerhalb von Grenzen passieren. Ein Blick auf andere oder frühere Gesellschaften zeigt, dass die vorhandene, weltweit so unterschiedliche Fau-na und Flora auf dem Land und im Wasser nur im Rahmen von Grenzen in einer Weise respektiert werden, die es der Natur erlaubt, sich so zu regenerieren, dass auch künftige Generationen sie genies-sen und nutzen können. Die neue Weltwirtschaftsordnung hat Wirtschaftsräume bzw. Märkte deshalb sowohl ökologisch als auch sozial nachhaltig einzuhegen. Es braucht Territorialeinheiten mit Grenzen und Zugehörigkeiten, damit das räumliche Zusammenleben soweit normiert werden kann, dass Men-schen für die humanen und restnatürlichen Ressourcen in ihrem Umfeld die nötige Sorge und Pflege aufbringen. Ähnliches gilt für die Politik: Nur wenn jene, die Entscheide fällen, diese eigenständig fi-nanzieren und deren Folgen gemeinsam erfahren, erleiden oder geniessen, lässt sich ein politisches Gemeinwesen transparent und erfolgreich organisieren. Um echt partizipatorische Demokratien einzu-richten, sind die Territorialeinheiten weltweit auf eine Volkswirtschaft angewiesen, die ausreichend Arbeitsplätze und Steuern generiert, damit die autonom gesteuert und nachhaltig gestaltet werden kann. Überschüsse werden nicht mehr ins transnationale Hochoben abgeführt, sondern lokal genutzt: Sie fal-len entweder bei lokalen bzw. territorial verwurzelten Unternehmungen als Löhne und zum Reinvestie-ren an oder aber als Abgaben für Gemeinschaftsaufgaben. Die neue Wirtschaftsordnung verbietet Fi-nanzspekulation: Die Geldmenge entspricht den Gütern und Dienstleistungen, die in der Realwirtschaft der entsprechenden Territorialeinheit produziert werden. Territorialeinheiten, über die ganze Welt ver-teilt, kommen so in die Lage, sich mit eigenen Mitteln bzw. aus eigener Kraft als Rechtsstaat zu orga-nisieren, sich für die für sie wichtigen Menschenrechte zu entscheiden und diese dann auch einzuhal-ten.
Selbstverständlich sind auch transnationale Problemlösungsinstitutionen nötig, soweit es um Klima-schutz und jene soziokulturellen, politökonomischen und ökologischen Fragen geht, die nur im globa-len Verbund zu lösen sind. Und selbstverständlich gibt es Güter, die global gehandelt werden: seltene Erden, bestimmte Metalle etc. Auch überregionale Märkte sind möglich, soweit das ökologisch oder sozialpolitisch Sinn macht und nicht den Hors-Sol-Aktionären transnationaler Konzerne dient oder ein-zelnen superreichen Familienclans wie z. B. den Albrechts oder der Schwarz-Gruppe in Deutschland.
Der wichtigste Grund für territoriale Einheiten mit Grenzen: Das globale System muss als Ganzes wie-der fehlerfreundlich werden. Verantwortliches Handeln, das Risiken einschliesst, setzt Fehlerfreund-lichkeit voraus. Und das gewaltige Vorhaben, die alte Weltwirtschaft umwelt- und menschenfreund¬lich umzubauen, bringt viele Risiken. Fehlerfreundlichkeit meint: „eine besonders intensive Hinwendung zu und Beschäftigung mit Abweichungen vom erwarteten Lauf der Dinge. Dies ist eine in der belebten Natur überall anzutreffende Art des Umgangs mit der Wirklichkeit und ihren angenehmen und unan-genehmen Überraschungen». Damit ein System fehlerfreundlich ist, braucht es: Redundanz, Viel-falt, Barrieren bzw. Grenzen. Im Zusammenwirken erlauben die drei Faktoren, dass lebende Systeme auf überraschende Ereignisse fehlerfreundlich reagieren können. Eine Fehlerfreundlichkeit nota bene, die ein weites Feld zum gemeinsamen Lernen eröffnet: Wir sind also auch aus diesem Grund auf Viel-falt statt Einfalt angewiesen! Ich frage mich, ob wir in unzähligen, aber „im Prinzip“ geschlossenen Kreisläufen denken sollten? „Im Prinzip“ heisst: Die Kreisläufe können geöffnet und zusammengeführt werden, wenn das klimaneutral und ökologisch nachhaltig passiert. Denn die bislang prinzipielle Of-fenheit hat uns eine Grenzenlosigkeit vorgetäuscht, die es nicht gibt. Eine Grenzenlosigkeit, die — von kapitalgetriebenen Technologie entfesselt — die unsere menschliche Gefrässigkeit mobilisiert und schliesslich in ein Anthropozän gemündet hat, in dem der Mensch zwar vermeintlich alles für sich hat, aber gleichzeitig auch alles zerstört.
Und jetzt zurück zur Einwegmigration: Um als Familiy of Men auf diesem Planten mit seiner schönen und für uns unverzichtbaren nicht-menschlichen Natur zu überleben, haben wir gemeinsam dafür zu sorgen, dass in Nord und Süd ein menschenwürdiges Leben möglich wird. Dazu braucht es in Nord uns Süd intensive Lernprozesse. Und wenn unsere Welt zum gemeinsamen Werk- und Lernplatz wer-den soll, sind wir auch auf eine ganz andere, neue Migrations- und Flüchtlingspolitik angewiesen. Nut-zen wir die laufende Migrationsbewegung als Chance, um die Zwänge in Richtung Einwegmigration umzukehren. So lange das Reichtums- und Konsumgefälle enorm ist, gilt „Migration auf Zeit“ – die Menschen kehren „im Prinzip“ an die ihnen vertrauten Orte zurück. Doch für eine menschenwürdige Rückkehr braucht es u. a. dreierlei: Erstens ist dafür zu sorgen, dass in den Herkunftsländern die Pro-duktivität zunimmt, so dass „vor Ort“ Verbrauch und Konsum, monetäre Vernetzung und Abgaben wachsen können. Zweitens sind Investitionen nötig, die den Surplus „vor Ort“ steigern, um ihn im Inte-resse der dort ansässigen Menschen zu nutzen. Drittens macht es Sinn, wenn MigrantInnen, so lange sie bei uns sind, Arbeits-, Ausbildungs-, Trainingsprogramme absolvieren. Ich bin sicher: jene, die derzeit bei uns Zuflucht oder Arbeit suchen, sind bereit, bei diesem Projekt mitzumachen. Aus Armut und politisch zerrütteten Verhältnissen in unsere Wohlfahrtsstaaten geflohen, werden sie zurückkehren, wenn sich die Verhältnisse „vor Ort“ zum Bessern wenden. Gleichzeitig sind wir in Europa gefordert: Wenn die Situation im Süden besser werden soll, steht den dortigen Menschen dafür ihr gerechter An-teil an Ressourcen- und Energieverbrauch zu. Das heisst: die Energie- und Ressourcen-Budgets unse-rer Wohlfahrtsstaaten sind nach unten zu korrigieren. Ich bin sicher: Viele werden hierzulande umden-ken! Sobald uns das Wohlergehen der Bevölkerungen im Süden über Menschen vermittelt ist, die wir konkret vor uns haben, werden wir Mittel und Wege finden, um unsere Gürtel „konstruktiv“ enger zu schnallen. „Konstruktiv“ meint: ohne die hiesigen wirtschaftlich Armen und Schwachen zu belasten.
Aber statt sich damit zu begnügen, nur jene, die hilflos im Mittelmeer schwimmen, auf das Upperdeck der Titanic zu hieven, gilt es, eine komplexitätsgerechte Moral zu entwickeln: eine, die sich nicht in Empathie und Hilfe an Individuen ergötzt und erschöpft. Eine neue und zusätzliche Moral also, die sich langfristig und strukturbezogen auf gesellschaftliche Veränderungen und auf den Umbau der glo-bal und territorial so ungleichen Machtstrukturen konzentriert. Eine Moral, die sich — statt nur an Schuldgefühlen und Empathie – auch an Strukturen und Mitverantwortung orientiert. So kann das Ge-fälle, das die Menschen derzeit dazu treibt, ihre Heimat zu verlassen, sukzessive und in Kooperation ausgeglichen werden. Nutzen wir die derzeitige Einwegmigration also als Lernchance, um eine Kultur der Konvivialität zu schaffen: eine Kultur, die den Menschen allerorts, in Nord und Süd, eine soziale und ökologische, selbstbestimmte und gemeinschaftlich definierte Koexistenz und Kooperation erlaubt.

 

Quelle: Rubikon

 

 

 

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