Ankara kündigt einen Wechsel seiner Flüchtlingspolitik an und weigert sich, neue Zuwanderer aus dem benachbarten Syrien aufzunehmen. Als Alternative fordert die Türkei die Unterbringung der Flüchtlinge auf syrischem Territorium, nämlich in den so genannten Deeskalationszonen, die sie dort gemeinsam mit Russland und dem Iran einrichtet.
Wie syrische Flüchtlinge in der Türkei leben und welche Rolle sie in ihrer Politik spielen, darüber schreibt die Zeitung «Kommersant» am Dienstag.
„Wir werden diese Willkür in Syrien und im Irak stoppen. Auf einem Territorium von 2000 Quadratkilometern haben wir Sicherheitsräume eingerichtet und alle terroristischen Elemente vernichtet, damit unsere syrischen Brüder in Frieden und Sicherheit leben“, erklärte Präsident Recep Tayyip Erdogan Ende der vorigen Woche in der Stadt Harran, die an der Grenze zu Syrien und nur 100 Kilometer von Rakka, der selbsternannten „Hauptstadt“ des so genannten «Islamischen Staates», entfernt liegt.
Vertreter der türkischen Behörden, die von «Kommersant»-Journalisten befragt wurden, betonen, dass Ankara auf die Schaffung von Bedingungen für die Unterbringung der Flüchtlinge in ihrem eigenen Land und nicht außerhalb setze. „Viele Menschen ziehen es vor, in der Heimat zu bleiben“, sagte der Leiter der Abteilung für Ausnahmesituationen (AFAD), Mehmet Halis Bilden. „Deshalb richtet die Türkei sichere Räume ein, damit Menschen aus vom Krieg erfassten Gebieten in eine andere Region, nicht aber ins Ausland ziehen.“
Der Sinneswandel in Ankara lässt sich ganz leicht erklären: In den 23 türkischen Flüchtlingslagern, wo laut jüngsten Angaben 274.000 Zwangsumsiedler leben, gibt es keinen Platz mehr. Aber insgesamt befinden sich in der Türkei ganze 3,5 Millionen (laut Ankara) bzw. 2,5 Millionen (laut internationalen Organisationen) Syrer.
Dennoch werden die Türken die bestehenden Flüchtlingslager ausbauen – wegen der hohen Geburtsraten bei den Flüchtlingen, räumte der AFAD-Chef ein. Allein im Lager Kahramanmaras, das 2016 eröffnet wurde, sind schon nahezu 2000 Babys zur Welt gekommen.
Die Hilfsgelder für die Flüchtlinge in diesem Lager betragen 100 türkische Lira pro Person – je 50 Lira von der AFAD und vom Türkischen Roten Kreuz. Damit bekommt jede Flüchtlingsfamilie etwa 400 bis 500 Lira. Für die Strom- und Wasserversorgung müssen die Flüchtlinge nicht zahlen, doch die Preise im benachbarten Supermarkt sind nicht gerade niedrig.
Hinzu kommt, dass die Zwangsumsiedler kostenlos medizinisch versorgt und auch ausgebildet werden. 99 Prozent der Flüchtlingskinder gehen laut der AFAD zur Schule, auch wenn nur relativ wenige von ihnen in den oberen Klassen lernen.
In Istanbul leben schätzungsweise 500.000 syrische Umsiedler, vor allem im Bezirk Yusuf Pasha, wo auch Einwanderer aus Palästina, Jemen, Irak und anderen arabischen Ländern wohnen.
Ein syrischer Einwanderer namens Hassan, mit dem ein «Kommersant»-Korrespondent sprach, erzählte, dass seine Lebensbedingungen durchaus gut seien, weil er gut ausgebildet sei, eine Wohnung und einen Job habe. Hassan räumte allerdings ein, dass viele seine Landsleute viel schlechter leben würden, egal was die AFAD behaupte.
Was die mögliche Heimkehr nach Syrien angeht, so sagte Hassan, die größte Voraussetzung dafür sei der Rücktritt des Präsidenten Baschar al-Assad. „Ich muss ehrlich sagen: Ich war Soldat der Regierungstruppen, und zwar Pilot. Wir hatten auch Kontakte mit russischen Spezialisten. (…) Aber ich bin vor drei Jahren geflüchtet, denn die Situation in der syrischen Armee ist äußerst schwer: Die Bedingungen sind schwer, und die Besoldung ist äußerst gering.“
Die Flüchtlingsfrage sei schon längst einer der wichtigsten geopolitischen Faktoren. „Recep Tayyip Erdogan nutzt dieses Problem bei seinen Streitigkeiten mit Europa geschickt aus“, sagte der Abgeordnete des türkischen Parlaments von der oppositionellen Demokratischen Volkspartei, Garo Paylan. „Das ist ein wahres Einflussinstrument. Deshalb drückt der Westen ein Auge zu bei Menschenrechtsverletzungen in der Türkei, unter anderem auch, was den Druck auf unsere Partei betrifft.“ Unter anderem würden viele Parteimitglieder beschuldigt, Kontakte zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu unterhalten, die in der Türkei als terroristische Organisation gelte.
„Die Vorgehensweise der Türkei gegenüber syrischen Flüchtlingen ist ganz anders als die des Libanons, Jordaniens oder des Iraks“, erläuterte der Politologe Oytun Orhan vom Zentrum für strategische Nahost-Forschungen (ORSAM) in Ankara. „In diesen Ländern kommt ihre mögliche Integration nicht einmal infrage. In der Türkei ist die Situation aber anders: Hier ist man sogar dazu bereit, dass manche Flüchtlinge nicht mehr heimkehren, selbst wenn der Krieg vorbei ist. Manche von ihnen haben sich in unsere Gesellschaft bzw. unsere Wirtschaft integriert“, so der Experte.
„Oppositionsparteien erklären, Präsident Erdogan lasse die Syrer einbürgern, weil sie seine Partei unterstützen und seine loyalen Wähler werden könnten. Dabei betrachten die Behörden die Syrer als eine Art Brücke zwischen der Türkei und dem künftigen Syrien, die Ankara viele politische und wirtschaftliche Bonus bringen könnte.“
Quelle: Sputnik