Wodurch das IS-„Kalifat“ ermöglicht wurde – und was danach kommt

 

Im Hinblick auf die Berichte über den Tod des IS-„Kalifen“ Abu Bakr al-Baghdadi beschäftigen sich sowohl russische als auch deutsche Medien mit den Hintergründen und möglichen Auswirkungen für den Anti-Terror-Kampf.

Die russische Onlinezeitung vz.ru vertritt den Standpunkt, wonach das gegenwärtige Chaos im Nahen Osten auf die US-Militäreinsätze im laufenden Jahrhundert zurückzuführen sei:

„Die Besatzung des Irak entbehrte jeglicher rechtlicher, moralischer oder politischer Grundlage. Alle verstanden, dass Washington bloß eine vollständige Kontrolle über eines der maßgeblich wichtigen Nahostländer anstrebte, in dem ein von den USA unabhängiges Regime regierte, das dazu noch panarabische Ambitionen hatte.“

„Die USA waren unfähig, dieses Chaos zu besiegen“

„Nach der Besatzung hatten die USA die zentrale Macht im Irak vernichtet – zum Teil bewusst, zum Teil weil es ihnen an Durchblick mangelte. Sie überhörten die Warnungen, dass der Zerfall des Irak auf den Zerfall des ganzen nahöstlichen ‚Kartenhauses‘ hinauslaufen werde“, so die russische Onlinezeitung.

Sie schreibt weiter: „Es ist nicht mehr wichtig, ob die USA ein gelenktes Chaos im Nahen Osten angestrebt hatten oder bloß im Sinne des Versuch-und-Irrtum-Prinzips vorgegangen waren – das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Die Büchse der Pandora geöffnet, die Kräfte des Chaos losgelassen, einen islamischen Widerstand und einen arabischen Aufstand verursacht – man kann das bezeichnen, wie man will. Seit 2003 entbrannte im Irak ein Bürgerkrieg mit religiösen, ethnischen und weiteren Aspekten – und gleichzeitig ein Krieg gegen die Okkupanten, der ebenfalls einen religiösen Hintergedanken hatte.“
„Die USA erwiesen sich als unfähig, dieses Chaos zu besiegen. Im Ergebnis zogen sie es vor, den Irak zu verlassen, wobei sie dort eine Marionettenmacht und Tausende Berater hinterließen. Doch alle Probleme und Widersprüche blieben bestehen – ebenso wie Fehde, Spaltung und faktischer Zerfall des Irak“, so der Kommentar.

„Im Sommer 2014 erklärt sich (…) al-Baghdadi nach der Eroberung von Mossul zum Kalifen des mittlerweile als weltweit bezeichneten ‚Islamischen Kalifats‘ (…) Ins ‚Kalifat‘ strömten Islamisten aus der ganzen Welt – sowohl Hunde des Krieges als auch Romantiker; sowohl Terroristen als auch Kämpfer für islamisches Glücklichsein und gegen die westliche Okkupation. Wurde das Kalifat zu einem Instrument der Terroristen? Ja, obwohl dies eine ziemlich starke Simplifizierung ist: Islamistische Terrornetzwerke hatten auch vor der Gründung des Kalifats agiert, sie werden das auch nach seinem Untergang tun. Was es ihnen aber wirklich ermöglichte, waren unschätzbare Kampferfahrungen und eine riesige Werbekampagne für einen ‚Dschihad gegen die Kreuzzügler‘ – und dadurch auch Dutzendtausende neue Anhänger“, postuliert vz.ru.

„Transformation in einen IS 2.0“

„Die Welt“ schreibt in ihrer Onlineausgabe: „Weder der mögliche Tod von al-Baghdadi noch der Verlust weiterer Landstriche in Syrien und Irak bedeuten aber ein baldiges Ende des IS. Vielmehr ist die Terrororganisation schon seit geraumer Zeit in eine neue Phase eingetreten, die für den Westen und mit ihm verbündete islamische Länder noch gefährlicher sein könnte. Denn solange es das Kalifat gab, in dem sich die Mehrheit der IS-Kämpfer sammelte, konnte der Kampf gegen den IS in einem weitgehend eingegrenzten Gebiet geführt werden. Mit dem Fall des Kalifats ist eine Transformation in einen IS 2.0 zu erwarten. Manche aus Europa stammenden Kämpfer werden in ihre Heimatländer einsickern, andere in arabischen Ländern untertauchen und dort aus dem Untergrund agieren.“

Weiter heißt es in dem Bericht: „Der IS hat sich ja seit geraumer Zeit schon auf den möglichen Fall des Kalifats vorbereitet und Ableger in vielen Ländern der muslimischen Welt gegründet oder sich mit lokalen extremistischen Organisationen verbündet. Der Tod al-Baghdadis wäre zwar ein wichtiger Rückschlag für den IS und könnte Nachfolgekämpfe mit sich bringen. Und die Rückeroberung von IS-Gebieten in Irak und Syrien bedeutet, dass die Organisation wertvolle Ruhe- und Rückzugsräume verliert. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass damit auch die vom IS ausgehende Gefahr gebannt wäre.“

 

Quelle: Sputnik