Mossul: Amnesty International wirft Anti-IS-Koalition völkerrechtswidriges Vorgehen vor

Im Kampf um die irakische Stadt Mossul habe nicht nur die Terrormiliz «Islamischer Staat» Kriegsverbrechen begangen, so Amnesty International. Die NGO wirft der US-geführten Anti-IS-Koalition vor, tausende Zivilisten durch wahllosen Beschuss getötet zu haben.

Parallel zur offiziell verkündeten Befreiung der irakischen Großstadt Mossul aus den Händen des «Islamischen Staates» (IS) erhebt Amnesty International schwere Vorwürfe gegen alle am Konflikt beteiligten Parteien. Laut einem am Dienstag von der bekannten Nichtregierungsorganisation veröffentlichten Bericht habe die Terrormiliz gezielt Zivilisten aus dem Umland nach Mossul gebracht und diese dort als menschliche Schutzschilde missbraucht.

Ein Mann schilderte, wie er vom IS gezwungen wurde, aus einem Nachbardorf in die Großstadt umzusiedeln:

Sie wollten, dass wir zwischen ihnen und den Geschossen stehen. Immer, wenn die irakischen Truppen vorrückten, fiel der IS zurück – und zwang den Großteil der Zivilbevölkerung, ihm zu folgen.

Zudem hätte die Terrormiliz hunderte, wenn nicht gar tausende Menschen in Massenhinrichtungen getötet, als diese versucht hätten, aus Mossul zu fliehen. Um Bewohner an der Flucht zu hindern, hätten die Terroristen die Türen ihrer Häuser verschweißt oder mit Sprengfallen versehen.

«Wer blieb, der starb irgendwann infolge der Kampfhandlungen in seinem Haus», berichtete ein Einwohner gegenüber Amnesty. «Wer floh, der wurde aufgegriffen und getötet und als Abschreckung an einem Strommast aufgehängt.»

Vorwurf an Anti-IS-Koalition: Muster völkerrechtswidriger Angriffe

Amnesty International wirft jedoch auch der irakischen Armee und der US-geführten Koalition vor, beim Kampf um Mossul «wiederholt» gegen das humanitäre Völkerecht verstoßen zu haben. So hieß es in dem Bericht:

Amnesty International erkannte ein Muster bei den von Pro-Regierungskräften ausgeführten Angriffen, das auf die wiederholte Verletzung des Humanitären Völkerrechts hindeutet, wobei es sich in manchen Fällen um Kriegsverbrechen handeln kann.

Laut Amnesty waren zwei Faktoren hauptverantwortlich für die hohe Zahl getöteter und verletzter Zivilisten: Dass der IS Zivilisten an der Flucht aus den umkämpften Gebieten gehindert und diese als menschliche Schutzschilde missbraucht hat, und der Einsatz unpräziser Waffen in bevölkerungsreichen Gegenden durch die irakischen Streitkräfte und die US-geführte Anti-IS-Koalition. Tausende Zivilisten seien durch die Wirkung «unverhältnismäßig schwerer Waffen» aufseiten der Pro-Regierungskräfte getötet worden, die «wahllos» eingesetzt worden seien.

Regelmäßig hätten die Angriffe der Anti-IS-Koalition ihr Ziel verfehlt und stattdessen Zivilisten getroffen. Auch Angriffe, bei denen das militärische Ziel offenbar getroffen worden sei, hätten vermeidbare Verluste unter Zivilisten nach sich gezogen.

Es dürfe keine Straflosigkeit für die Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung Mossuls geben, sagte Lynn Maalouf, Nahost-Expertin der bekannten NGO. «Ganze Familien wurden ausgelöscht, und viele der Toten liegen nach wie vor unter dem Schutt der Stadt begraben.» Sie forderte eine unabhängige Untersuchungskommission.

West-Mossul liegt in Schutt und Asche

Besonders «desaströse» Folgen für die Zivilisten habe die Anwendung schwerer Waffen in West-Mossul gehabt. Nachdem der IS immer mehr Gebiete verloren hatte, füllten sich die von ihm noch kontrollierten Gebiete, darunter der Westteil der Stadt, zunehmend mit Zivilisten. Amnesty International dazu:

Die Streitkräfte der irakischen Regierung und der US-Koalition haben diese Gebiete unerbittlich mit Waffen unter Beschuss genommen, die eine großflächige Wirkung haben. Diese Angriffe richteten einen verheerenden Schaden an und töteten und verletzten tausende Zivilisten, die in der Falle saßen.

Es sei «unvorstellbar», dass der Anti-IS-Koalition die Taktik des «Islamischen Staates» entgangen war, Zivilisten in jenen Gegenden zu konzentrieren, die die Koalition unter Beschuss nahm.

Wie sehr West-Mossul gelitten hat, darüber gibt auch eine aktuelle Reportage der US-Zeitschrift The Atlantic Auskunft. Kaum ein Haus in dem Stadtteil stehe noch. Die Verwüstung dort sei ungleich größer als im Ostteil der Stadt, der «zur Hälfte» zerstört worden sei, zitiert die Zeitung einen Beamten der örtlichen Behörden. Der Zerstörungsgrad sei «nah an 99 Prozent», sagte ein Mitarbeiter einer Hilfsorganisation. Insgesamt seien drei Viertel der Straßen Mossuls, fast alle Brücken der Stadt sowie 65 Prozent des Stromnetzes durch die Kämpfe zerstört worden.

Sorgenvoller Blick in die Zukunft

Laut Amnesty befürchten viele Bewohner, dass die Stadt auch nach der Vertreibung des IS zukünftig von Gewalt geplagt werde. Diese Ängste seien wohlbegründet: Wenn die Pro-Regierungskräfte es versäumen, die Zivilisten in Mossul zu schützen, dann gibt es das reale Risiko, dass diese Schlacht nur ein weiteres Kapitel in einem scheinbar endlosen Kreislauf verheerender Kämpfe und Gräueltaten im Irak darstellt.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow bemängelte die Situation der Zivilisten in der Stadt nach der Vertreibung des IS. «Bislang ist nichts zur organisierten Rettung der Zivilisten geregelt. Alles war chaotisch und spontan», sagte der Chefdiplomat am Rande eines OSZE-Treffens im österreichischen Mauerbach. Die Zahl der Toten könne noch immer steigen. «Wir sind aber natürlich froh darüber, dass der IS besiegt wurde», sagte Lawrow der Agentur TASS zufolge.

Dokumentierte Fälle von Folter an willkürlich gefangen genommenen Personen durch die siegreichen Regierungskräfte tragen jedenfalls nicht zu einem Ende der Gewaltspirale bei.

 

 

Quelle: RT