US-Sanktionen gegen Russland: Ein beispielloser Kahlschlag. Was bedeutet das für Europa?

 

Berlin und Brüssel ziehen entschlossene Gegenmaßnahmen gegen den jüngsten US-Gesetzentwurf zur Verschärfung der Russland-Sanktionen in Betracht. Der Entwurf, der die russische Wirtschaft umfassend attackiert und einer ökonomischen Kriegserklärung an Moskau gleichkommt, trifft in erheblichem Maß auch deutsche Interessen — insbesondere die deutsch-russische Erdgaskooperation. Zudem droht er bestehende politische Spaltungen in der EU zu vertiefen. Außenminister Sigmar Gabriel hat bereits Mitte Juni entschiedenen Widerstand angekündigt; in Brüssel sind mittlerweile erste konkrete Schritte in Vorbereitung. Der Konflikt eskaliert zu einer Zeit, zu der sich der transatlantische Streit um mögliche US-Strafzölle ohnehin zu einem Wirtschaftskrieg zwischen der EU und den Vereinigten Staaten zu entwickeln droht. In Brüssel wird bereits ein Boykott von US-Agrarprodukten in Betracht gezogen. Berliner Regierungsberater diskutieren Maßnahmen, die «die Gewinne von US-Unternehmen spürbar reduzieren» und «eine große Anzahl von US-Arbeitsplätzen betreffen».
Verheerende Folgen
Der Gesetzentwurf, den das US-Repräsentantenhaus am Dienstag verabschiedet hat, ist laut dem Sprecher der Kammer, dem Republikaner Paul Ryan, «eines der am weitesten reichenden Sanktionspakete der Geschichte». Tatsächlich kommt er einer ökonomischen Kriegserklärung an Russland gleich. Während er — mehr oder weniger im Vorübergehen — auch Iran und Nordkorea mit neuen Strafmaßnahmen belegt, trifft er die russische Wirtschaft umfassend: Die Sanktionen richten sich gegen die russische Finanzbranche, Bergbau, Metallindustrie und Eisenbahn, vor allem aber gegen das Herz der russischen Volkswirtschaft — den Energiesektor. Grundsätzlich betreffen sie Firmen aus aller Welt, die belangt werden können, wenn sie sich in den genannten Branchen betätigen. In der Vergangenheit sind nach diesem Prinzip bereits deutsche Firmen in den USA zu empfindlichen Strafen verurteilt worden, weil sie sich nicht an nationale US-Sanktionen gegen Iran gehalten hatten. Würden auch die neuen Sanktionen international umfassend durchgesetzt, dann stünden Russland womöglich verheerende ökonomische Schäden bevor. Die Zustimmung des US-Senats gilt nur als Formsache. Aus dem Weißen Haus kommen widersprüchliche Signale; Präsident Donald Trump hat zuletzt seine Zustimmung in Aussicht gestellt. Legte er ein Veto ein, würde es aber ohnehin unweigerlich vom US-Kongress überstimmt.
«Nicht akzeptabel»
In Berlin stößt der Gesetzentwurf auf klare Ablehnung auf breiter Front — aus mehreren Ursachen. Hauptgrund ist, dass die Sanktionen die strategische Erdgaskooperation deutscher Konzerne mit Russland schwer träfen, sie tendenziell sogar zunichte machen könnten. Die Erdgaskooperation gestattet es Deutschland, ein Höchstmaß an Kontrolle über die eigene sowie die europäische Erdgasversorgung zu erlangen. Zugleich verschafft sie deutschen Konzernen, die auf dem weltweiten Erdölsektor nur eine untergeordnete Rolle spielen, eine führende Stellung zumindest beim Gas. Beides zählt zum Kernbestand deutscher Interessen und steht für die Bundesregierung nicht zur Disposition. Dies hat Außenminister Sigmar Gabriel bereits Mitte Juni in einer überaus scharfen Stellungnahme deutlich gemacht: Sanktionsdrohungen gegen deutsche Erdgaskonzerne werde man «nicht akzeptieren», erklärte er in einer gemeinsamen Stellungnahme mit dem österreichischen Bundeskanzler Christian Kern.
Gespaltene EU
Hinzu kommt, dass der Gesetzentwurf die EU zu spalten und damit die Berliner Dominanz über den Kontinent zu unterminieren droht. Unmittelbar betroffen wären die Planungen für die Pipeline Nord Stream 2, die parallel zur bisherigen Nord Stream-Röhre verlaufen soll. Beide zusammen könnten den überwiegenden Teil der russischen Erdgaslieferungen in die EU aufnehmen; weil sie direkt aus Russland durch internationale Gewässer nach Deutschland verlaufen, nähme die deutsche Kontrolle über die EU-Energieversorgung ganz erheblich zu. Nord Stream 2 wird allerdings von denjenigen EU-Mitgliedern, die am massivsten gegen Russland agitieren — vor allem Polen und die baltischen Staaten -, heftig bekämpft. US-Sanktionen gegen die Pipeline wären Wasser auf ihre Mühlen. Befeuert werden sie dabei von der Ukraine, die große Hoffnungen auf die Strafmaßnahmen gegen Russland setzt: Könnte Nord Stream 2 in Betrieb genommen werden, dann würde kein russisches Erdgas mehr durch ukrainische Röhren in Richtung Westen geleitet; Kiew verlöre Durchleitungsgebühren in Höhe von gut zwei Milliarden US-Dollar. Die Aussicht auf die neuen US-Sanktionen gegen Russland treibt Kiew noch stärker an die Seite Washingtons.
Ein beispielloser Kahlschlag
Berlin kommt im Machtkampf mit Washington zugute, dass der US-Gesetzentwurf einen bislang beispiellosen Kahlschlag in der gesamten EU-Energiebranche zur Folge hätte. So wären von Maßnahmen gegen Nord Stream 2 nicht nur die deutschen Unternehmen Wintershall und Uniper betroffen, sondern auch die drei anderen beteiligten Investoren — die österreichische OMV, die französische Engie und die britisch-niederländische Shell. Strafen zu erwarten hätte auch die italienische ENI, die zusammen mit der russischen Gazprom und der türkischen BOTAŞ die Blue Stream-Pipeline aus Russland durch das Schwarze Meer in die Türkei betreibt. Scheitern würden vermutlich das Flüssiggasterminal Baltic LNG, das Shell gemeinsam mit Gazprom im russischen Ust-Luga plant, und ein soeben erst von BP und Gazprom vereinbartes Großprojekt, das bis zu 20 Milliarden Kubikmeter Erdgas jährlich aus Russland nach Europa bringen soll. Der ehemalige deutsche Botschafter in den USA (2001 bis 2006) und gegenwärtige Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, hat kürzlich in einem Beitrag in der US-Presse darauf hingewiesen, dass sogar das Caspian Pipeline Consortium seine Arbeiten einstellen müsste; es wird vom US-Konzern Chevron geführt. Die Schäden für Konzerne in zahlreichen EU-Staaten wären immens; dies erhöht die Chancen für Berlin, trotz zu erwartender Widerstände aus Polen und den baltischen Staaten eine entschlossene Front gegen die US-Sanktionspläne zu schmieden.
Gegenmaßnahmen
Tatsächlich bereitet die EU Gegenmaßnahmen vor. Bereits zu Wochenbeginn wurde ein internes EU-Papier bekannt, dem zufolge ein erster Schritt in der offiziellen Erklärung bestehen könne, das in Vorbereitung befindliche US-Gesetz werde in der EU keine Anwendung finden. Daneben wird Einspruch bei der WTO in Aussicht genommen. Weitergehende Maßnahmen — sogar Sanktionen gegen Washington, wie sie bis vor kurzem noch vollkommen undenkbar schienen — werden nicht mehr ausgeschlossen. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker warnt: «Wenn unsere Bedenken nicht ausreichend berücksichtigt werden, sind wir bereit, innerhalb von wenigen Tagen zu reagieren». Gewähre Washington Unternehmen aus der EU keine Rechtssicherheit, dann «sind entsprechende Gegenmaßnahmen der Union erforderlich», erklärt der Vorsitzende des Ost-Ausschusses der Deutschen Wirtschaft, Wolfgang Büchele.
Transatlantischer Handelsstreit
Der Streit um die US-Russland-Sanktionen fügt sich ein in einen im Entstehen begriffenen umfassenden Handelskrieg zwischen den Vereinigten Staaten und der EU. Tatsächlich wird das neue Sanktionsgesetz in Berlin — zutreffend — auch als Versuch begriffen, russisches Erdgas aus Deutschland und der EU zu verdrängen und einen Großteil Europas in einen Absatzmarkt für US-Flüssiggas umzuformen. Dies hätte den Nebeneffekt, die schon seit Jahren exzessiven US-Defizite im Handel mit Deutschland verringern zu können, gegen die US-Präsident Trump seit je Sturm läuft.
EU-Sanktionen gegen die USA?
Gleichzeitig schwelt der transatlantische Streit um mögliche US-Strafzölle gegen Stahlimporte aus der EU unvermindert weiter (german-foreign-policy.com berichtete). Regierungsberater in Berlin dringen für den Fall, dass Washington in der Tat Schritte gegen deutsche Konzerne einleitet, auf Gegenmaßnahmen. Die EU-Kommission sei offenbar bereit, «innerhalb von Tagen» mit einer «Beschränkung von Agrarimporten auf US-Strafzölle zu reagieren», heißt es in einer aktuellen Stellungnahme aus der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Dabei müsse es jedoch nicht bleiben. «Generell hätten EU-Importbeschränkungen dort große Wirkung, wo sie die Gewinne von US-Unternehmen spürbar reduzieren», heißt es bei der SWP weiter: «Größte Symbolkraft hätten EU-Gegenmaßnahmen, die eine große Anzahl von US-Arbeitsplätzen betreffen». «Neben Zöllen und Einfuhrquoten» könne die EU-Kommission «auch mit anderen Einschränkungen der Wirtschaftsbeziehungen drohen» — etwa mit Einschränkungen US-amerikanischer Dienstleistungen in der EU, nicht zuletzt in der Finanzbranche.
Unkalkulierbares Eskalationspotenzial
Mit verschärften US-Sanktionen gegen Russland, die auch deutsche und EU-Unternehmen treffen, mit Strafmaßnahmen aus Berlin und Brüssel gegen Washington, mit den weiterhin bestehenden EU-Sanktionen gegen Russland und mit der zu erwartenden russischen Gegenwehr gegen das künftige US-Gesetz zeichnet sich am Horizont ein umfassender multipolarer Wirtschaftskrieg ab. Sein Eskalationspotenzial ist unkalkulierbar.