von Maria Müller
Am vergangenen Freitag, den 19. Juli, reiste der Chef der Internationalen Entwicklungszusammenarbeit der Europäischen Union, Neven Mimica, für zwei Tage nach Kolumbien. Dabei begleitete ihn der Generaldirektor der Welternährungsorganisation, José Graziano da Silva. Beide wollten vor Ort die Fortschritte bei den bislang gestarteten Unternehmungen begutachten, mit denen ländliche Gebiete umfassend modernisiert werden sollen.
Projekte im Bereich der Infrastruktur, der Erziehung und der kommunalen Organisation sind dafür vorgesehen. Kleine und mittlere Betriebe sollen eingerichtet, finanziert und technisch beraten werden. Hilfen bei erneuerbaren Fonds, Spareinlagen und Krediten für Bauern gehören mit dazu. Hintergrund des Konzeptes: eine neue Lebensqualität soll die Landbewohner umorientieren. Anstatt Coca zu produzieren, soll eine dauerhafte rentable Wirtschaft entstehen.
Die Maßnahmen sind für solche Zonen gedacht, die am stärksten von den Kriegsfolgen betroffen sind, und in denen am meisten Coca produziert wird. Seit Abschluss des Friedensvertrages hat sich wider Erwarten der berüchtigte Drogenanbau in Kolumbien stark ausgeweitet. Die Tatsache deutet auf große innere Widersprüche und Widerstände von starken Interessensgruppen hin.
Nach einem Treffen mit dem Präsidenten Juan Manuel Santos, der Außenministerin Ángela Holguin und dem Landwirtschaftsminister Aurelio Irragorri verkündete Neven Mimica neue Pläne. Die Europäische Union und die Welternährungsorganisation werden zwei Jahre lang technische Hilfe für die landwirtschaftliche Entwicklung leisten.
“Wir wollen konkrete Aktionen vor Ort durchführen, die den Kolumbianern nützen und den Aussöhnungsprozess fördern”, so Mimica.
Am Samstag besuchten die EU- und FAO-Vertreter die “Agro-Expo”, wo 21 Europa-gestützte ländliche Projekte zu sehen sind. Anschließend trifft sich Mimica in der Stadt Cartagena mit Bauern und kunstgewerblichen Herstellern, die bereits Nutznießer des EU-Programms mit Namen «Neue Friedenszonen» sind. Für dieses Programm wurden 7,7 Millionen Euros bestimmt.
Es ist schon viel Geld von Europa nach Kolumbien geflossen. In einer Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 12. Dezember 2016 heißt es zusammenfassend: In den letzten fünfzehn Jahren haben die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten die Friedensförderung in Kolumbien mit 1,5 Milliarden Euro unterstützt. Davon wurden 550 Millionen von der Europäischen Kommission bereitgestellt. Konkret waren die friedensfördernden Maßnahmen der Europäischen Union vor allem auf ländliche und abgelegene Konfliktgebiete ausgerichtet.
In einem Text der Europäischen Union gleichen Datums wird erklärt, dass von 2002 bis 2012 sogenannte Friedenslabore in Kolumbien finanziert wurden – es handelte sich um drei Gemeinden mit Entwicklungsprojekten.
Des Weiteren gab es zahlreiche Kleinunternehmungen im Land. Eine Investition von 1,5 Milliarden Euros lässt sich damit kaum rechtfertigen. Von 2012 bis 2016 zahlte Europa dann direkt in die kolumbianische Staatskasse ein, um Demokratie- und Menschenrechtsreformen der Regierung mitzufinanzieren. Das sollen insgesamt 120 Millionen gewesen sein.
Irgendwie passen die schönen Worte nicht zu der historischen Realität. Zwischen 2002 und 2012 herrschte in Kolumbien ein Krieg, der von Staatsseite überaus blutrünstig geführt wurde. Die Menschenrechtsverletzungen sollen zu 64 Prozent auf das Konto des Staates gehen.
Zwischen 2006 und 2009 hat das Militär 4.716 Menschen außergerichtlich hingerichtet. Millionen Bauern wurden terrorisiert, enteignet und vertrieben. Erst kurz vor Abschluss des Friedenspaktes 2016 gab es einen Waffenstillstand. Von einer integralen Entwicklung der betroffenen ländlichen Gebiete ist bis heute wenig zu sehen. Sonst müsste sie nicht explizit im Friedensvertrag gefordert werden.
Hätte es sie im genannten Finanzierungszeitraum der EU bereits gegeben, wären die 7,4 Millionen Binnenflüchtlinge schon vor Jahren in ihre Heimatorte zurückgekehrt. Wofür also wurden inmitten des von den USA aufgezwungenen Drogenkrieges pro Jahr im Durchschnitt 140 Millionen Euros in Kolumbien ausgegeben, deren Kaufkraft dort zumindest zu verdreifachen ist?
Übrigens hat Deutschland für Binnenflüchtlinge auch 11,3 Millionen an humanitärer Hilfe finanziert. Am 12. Dezember 2016 gab es ein neues Riesenpaket an Finanzhilfe für das Land.
“Hilfsmaßnahmen im Umfang von fast 600 Millionen Euro für Darlehen, technische Hilfe und Zuschüsse”. Rund 400 Millionen Euro sind davon Kredite der Europäischen Investitionsbank (EIB). Auch ein Treuhandfonds mit 95 Millionen Euro ist darin enthalten. Neunzehn europäische Regierungen haben darin eingezahlt. Zu den neuen 600 Millionen Euro kommen weiche Kredite in Höhe von 260 Millionen Euro der bundesdeutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) hinzu.
Man vermisst Informationen über den Verbleib dieser Gelder. Hat Präsident Santos vor dem Europaparlament Rechenschaft über die Millionen abgelegt? Ist Kolumbien ein Fass ohne Boden?
Außerdem erhielt das Land bis jetzt 300 Millionen aus einem internationalen Fonds zum Schutz des Amazonasgebietes. Geplant sind 2 Milliarden Dollar. Doch seit dem Abzug der FARC-EP wird der Regenwald Kolumbiens von gewalttätigen Organisationen abgeholzt, ohne dass der Staat eingreifen würde. Der Verteidigungsminister und die Spitzen des kolumbianischen Militärs brachten die Konfliktgebiete nach Rückzug der FARC nicht unter staatliche Kontrolle.
Nach Angaben der UNO hat sich die Anbaufläche für Coca zwischen 2015 und 2016 um 52 Prozent auf 146.000 Hektar ausgeweitet. Heute zwingen paramilitärische Einheiten die Bauern, weiterhin Coca anzubauen.
Präsident Santos hat entschieden, die ländlichen Reformmaßnahmen zu halbieren. Im Fall von 50.000 Hektar sollen die Coca-Pflanzen durch Militär und Polizei manuell “unter Zwang” vernichtet werden. Dort werden vorerst keine Entwicklungspläne umgesetzt. Gleichzeitig sind in anderen Gebieten 50.000 Hektar für eine alternative Agrarwirtschaft ausgewählt. Dort reißen die Bauern ihre Pflanzen freiwillig aus. Es soll sich um die Zonen mit dem größten Anbau handeln. Das schafft neue Konflikte im Land. Im Friedensvertrag ist nicht vorgesehen, die Coca-Bauern unterschiedlich zu behandeln.
Die Bewohner der “aussortierten” Gebiete, die nicht von den Modernisierungen bedacht werden sollen, protestieren und wehren sich gegen das gewaltsame Vorgehen der Polizei und der Sondereinheiten, die ihre Pflanzen ausreißen und Felder zerstören.
“In den Konflikten hat es Verletzte, einen Toten und mehrere Verschwundene gegeben, sowie neue Gefangene”, berichteten Bauern aus Meta.
Dabei muss daran erinnert werden, dass immer noch 3.000 Bauern ohne juristische Verfahren inhaftiert sind. Der Sprecher der Bauernorganisation COCCAM, César Jerez, berichtete am 7. Juli, dass es seit Jahresbeginn 500 Versuche durch das Militär gegeben habe, die Coca-Pflanzungen gewaltsam zu zerstören.
“Die betroffenen Familien fürchten, dadurch den Anspruch auf dauerhafte Ersatzmaßnahmen zu verlieren”, erklärte er.
Die Regierungsleute vor Ort drängen die Bauern dazu, sich mit einem einmaligen kleinen Schadensersatz zufrieden zu geben und auf Reformprojekte zu verzichten.
“Sie sagen ihnen, es gebe in ihren Zonen dafür kein Geld. Nicht alle Betroffenen könnten mit den Vergünstigungen rechnen”, so Jerez.
Doch spätestens hier stellt sich die Frage, ob die Auswahl der Gebiete nicht anderen Maßgaben folgt als bisher bekanntgegeben. Denn rund die Hälfte des kolumbianischen Staatsgebietes ist per Lizenz an Großprojekte für Bergbau, Erdöl- und Gasförderung, Kraftwerke und großformatige Agrarindustrien vergeben. Die Entwicklung einer kleinbäuerlichen Landwirtschaft im Umfeld solcher Unternehmen müsste als nicht zukunftsfähig erachtet werden.
Wird es zwei verschiedene ländliche Standards in Kolumbien geben? Beteiligten sich die technischen Berater aus Europa an der Auslese? Entspricht der Vorgang den ursprünglichen Kriterien für die Millionenschenkungen und Kredite? In den Kommentaren von Neven Mimica und José Graziano da Silva bei ihrem Besuch in Kolumbien war davon nichts zu erfahren. Die internationale Presse berichtet darüber nicht.
Quelle: RT