Wenn einer eine Reise tut, hat er was zu erzählen. So auch der Kollege Matthias Witte: Der hat auf einer Bahnreise Geschenke für seine Kinder im Abteil liegen lassen. Und fühlt sich seitdem ein bisschen wie bei Kafka.
Eins vorweg: Ich fahre gerne mit dem Zug. Wirklich. Ich bin seit Jahren überzeugter Bahnfahrer. Man kann arbeiten, schlafen, lesen, Kaffee trinken, Leute kennen lernen oder ganz für sich sein. Und man steht nicht im Stau. Für mich ist Bahnfahren die angenehmste Art und Weise, von A nach B zu kommen. Klar gibt es mal Verspätungen, aber im Grunde hat die Deutsche Bahn ihre 33.300 Kilometer Schienennetz echt gut im Griff. Um Schienen geht es in dieser Geschichte aber nicht.
Zu Beginn der Woche kam ich von einer Reise zurück nach Berlin. Am Ostbahnhof stieg ich aus und ging ich hoch zur S-Bahn, um weiter nach Hause zu fahren. Plötzlich hielt ich inne und betrachtete mein Gepäck. Mist! Ich hatte eine Tüte in der Bahn vergessen. Inhalt: Geschenke für meine Kinder. Samt Gepäck stürmte ich zurück zum Gleis. Ich sah den Zug am Horizont verschwinden. Was tun? Ich eilte zur Bahninformation in die große Halle. Hinterm Tresen saß eine Dame mit blondem Haar und Arm-Tattoo. „Sie müssen mir den Tag retten“, sagte ich zu ihr – zugegeben etwas dramatisch. Sie sah mich skeptisch an und sagte: „Ich will es versuchen.“ Ich schilderte ihr mein Missgeschick. „Kann man den Zug irgendwie erreichen?“ wollte ich wissen. „Nein, der fährt jetzt nach Rummelsburg.“ Sie ließ die Worte wirken. Ich sah sie in Erwartung einer weiteren Erklärung an. Da kam aber nichts mehr. Stattdessen zog sie die Schultern hoch und sah mich ernst an. Die Message dieser Geste bedeutete, das wurde mir erst später klar, etwa Folgendes: „Rummelsburg, verstehen Sie? Das bedeutet, der Zug ist samt ihrer Geschenke ist außer Reichweite.“
In diesem Moment verstand ich diese unausgesprochene und unmissverständliche Message der tätowierten Bahnmitarbeiterin aber nicht. Das mag daran liegen, dass Rummelsburg für mich nicht etwa auf dem Mars liegt, sondern ein, zwei Stationen hinterm Ostkreuz. Also, durchaus in Reichweite. Darum stieß ich mit meiner nächsten Frage auf erhöhtes Unverständnis. „Gut, in Rummelsburg. Das Gelände gehört meines Wissens doch auch zur Deutschen Bahn, oder? Kann man da denn niemanden erreichen?“ Verständnisloses Kopfschütteln und eine kurze, unbefriedigende Antwort, die mich allmählich auf die Palme brachte. „Nein, in Rummelsburg werden die Bahnen gesäubert.“ Ja und? „Okay, den Zug säubern – das machen doch Menschen, oder?“ „Ja.“ „Und? Kann man die nicht anrufen?“ „Nein. Die säubern den Zug.“ Pause. „Und wenn sie etwas finden?“ „Dann geben sie es beim Bahnfundbüro ab.“ Ich konnte, mir einfach nicht vorstellen, dass man da nichts machen kann. „Kann man die Reinigungskräfte überhaupt nicht erreichen? Ich habe meine Reservierung, meine Nummer, mein Abteil und kann genau sagen, wo die Tüte liegt. Es dauert keine zwei Minuten, dann habe ich meine Sachen.“ Sie machte eine abwehrende Handbewegung: „Das nutzt ihnen jetzt nicht. Online können sie das machen. Da haben wir einen Service, wo sie alle Details ganz exakt angeben können.“ „Online? Sie können mir jetzt nicht helfen? „Ich fürchte nicht“, entgegnete sie. Ihre Augen aber sagten: „Es ist mir wurscht, Mann. Pass halt besser auf deine Sachen auf!“
Ich zog mich zunächst zurück. Zum Glück gibt es Smartphones. Ich öffnete sofort die entsprechende Seite mit sehr viel Text, den ich ungeduldig überflog. Irgendwo fand ich einen Absatz, der mich stutzen ließ. Darin stand:
Servicemitarbeiter am Bahnhof. Unsere Servicemitarbeiter in den Bahnhöfen helfen ebenfalls gerne weiter. Den entsprechenden Nachforschungsantrag erhalten Sie an der DB Information, den sie gemeinsam mit unseren Mitarbeitern ausfüllen können.
Aha! Allmählich stand mein Geduldsfaden unter bedenklicher Spannung. Augenblicklich stand ich wieder am Schalter: „Entschuldigen sie, gute Frau. Hier steht etwas von einem Nachforschungsantrag, den sie „gerne“ mit mir ausfüllen. Davon haben sie gerade nichts gesagt!“ Sie seufzte resigniert: „Na schön.“ In ihrem Drehstuhl warf sie sich um 180 Grad herum, rollte zu einem Schrank, öffnete ihn und rollte mit zwei Zetteln in der Hand wieder zu mir zurück – ohne sich einmal von ihrem Platz erhoben zu haben. Sie hielt mir die Zettel hin: „Die müssen sie ausfüllen.“ Ich sah die Blätter an, ließ aber nicht locker: „Warum haben sie mir das vorhin nicht gesagt?“ „Weil das länger dauert.“ Ich verstand nicht. „Wir haben zu wenig Personal, um die Zettel zu bearbeiten. Online geht es schneller.“ Ich verstand noch immer nicht. Sind das online andere Leute als die, die die Zettel kriegen? Da ich keine Lust mehr zu diskutieren und vor allem keine Wahl hatte, stellte ich mich an die Seite und begann das Formular auszufüllen. Andere Leute kamen. Sie fragten nach schnellen Verbindungen, nach Reservierungen, ob Züge pünktlich sein und so weiter. Schließlich war ich fertig und reichte der Dame die ausgefüllten Zettel. Sie überflog sie und packte sie erst in eine Klarsichtfolie und dann in einen Ordner. „Was machen sie jetzt damit?“ „Ich gebe sie ab.“ „Aber wirklich.“ „Ja, muss ich ja.“ „Wie bitte?“ „Ja, sie haben die Zettel ausgefüllt. Die muss ich jetzt abgeben. Aber online geht wirklich schneller.“ Sie sah mich müde an. Ich beschloss, nichts weiter zu sagen und machte mich auf den Weg nach Hause. Dort füllte ich das Online-Formular noch einmal aus – sicher ist sicher. Ich bekam von der Bahn einen Code, mit dem ich nachprüfen kann, ob jemand in Rummelsburg die Gegenstände gefunden hat.
Der Leser kann sich vorstellen, dass es bis jetzt noch keine Meldung gegeben hat. Was die Bahn, dieses alte Service-Wunder aber tut: Sie sagt mir, welche Kosten auf mich zukämen, falls mein Verlust gefunden wird. Da gibt es ein ganzes Formular: Die Preise, die durch die Lagerung und eventuelles Porto entstehen, reichen von 5 Euro für das Selbstabholen in Rummelsburg bis hin zu 35 Euro für Paketversand. Noch nicht enthalten in dieser Rechnung ist der Finderlohn. Der kommt eventuell noch obendrauf.
Meine Kinder jedenfalls haben von mir als Mitbringsel Seifenblasen bekommen. Sie haben sich gefreut.
von Matthias Witte
Quelle: Sputnik