Eine Wende im Denken und in der inneren Haltung — Ein Ausblick für Deutschland

 

Wenige Wochen vor den Bundestagswahlen zeichnet es sich ab, dass es in Deutschland auch dieses Mal noch keine politische Wende geben wird. Viele Menschen, die sich in den vergangenen Jahren – mit guten Argumenten – für eine solche Wende eingesetzt haben, könnten enttäuscht und entmutigt sein.

Aber dafür gibt es keinen Grund. Die Aufgabe, an einer Wende in Deutschland zur arbeiten, hat nichts von ihrer Bedeutung verloren. Welche Wege können begangen werden?

«Was ist Deutsch?» ist der Titel eines mehr als 1000 Seiten umfassenden Monumentalwerkes, das im Frühjahr 2017 erschienen ist. Der Autor, Dieter Borchmeyer, ist emeritierter Professor für Neuere deutsche Literatur und Theaterwissenschaft an der Universität Heidelberg. Sein Buch ist eine Fundgrube für die Suche nach deutschen Dichter- und Denkerstimmen aus mehr als zwei Jahrhunderten, die sich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit der Frage beschäftigt haben, die im Titel des Buches zum Ausdruck kommt.

Aber dieses Buch folgt einem ganz bestimmten Standpunkt: Diejenigen deutschen Stimmen, die «Deutschsein» gleichgesetzt haben mit einer vor allem geistig-kulturellen Aufgabe, mit einer Abkehr vom Nationalstaatsgedanken wie überhaupt von staatspolitischen Zielen, mit einem Aufgehen des Landes in einer viel größeren politischen Einheit, werden durchweg positiv gewürdigt. Das geht so weit, dass zum Beispiel Johann Wolfgang von Goethe, ein Bewunderer des Imperialisten Napoleon, in dieser seiner Haltung gelobt wird. Diejenigen hingegen, die «Deutschsein» mit dem Eintreten für eine Staatsnation verbanden und dabei durchaus auch – geschichtlich bedingt – kämpferische Töne gegen andere, Deutschland bedrängende oder gar besetzt haltende Staaten, anschlugen, werden als Vorboten deutscher Hybris und Gewaltherrschaft, als geistige Wegbereiter von Chauvinismus, Nationalismus und schließlich Nationalsozialismus kritisiert.

Noch wollen die westlichen Siegermächte des Zweiten Weltkriegs bestimmen …

Man mag es drehen und wenden, wie man will, aber wenn man zum Beispiel das im Sommer 2017 erschienene Buch von Gert R. Polli, dem Gründer des Österreichischen Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung, liest, dann gewinnt man den Eindruck, dass der Standpunkt des zuerst genannten Buchautors der bis heute gültige auch der deutschen Politik ist. Das Buch hat den Titel «Deutschland zwischen den Fronten. Wie Europa zum Spielball von Politik und Geheimdiensten wird» und schildert sehr genau, wie die deutsche Politik darauf reagiert hat, als öffentlich bekannt wurde (Edward Snowden usw.), dass das Land von engsten «Verbündeten» (USA, Großbritannien und Frankreich) schon jahrelang und wohl nach wie vor ausspioniert wird, um politische und wirtschaftliche Vorteile daraus zu ziehen – auf Kosten von Deutschland: Die deutsche Politik hat zwar mit öffentlichen Erklärungen Flagge zu zeigen versucht (Angela Merkel: «Abhören unter Freunden, das geht nicht.»), in Tat und Wahrheit ist aber nichts passiert. Zu eng waren und sind die Verbindungen der Geheimdienste, zu groß die Verstrickungen der eigenen Geheimdienste in Unrecht, zu groß die vermeintlichen Abhängigkeiten von den westlichen Siegermächten des Zeiten Weltkriegs – nach wie vor.

… aber Geschichte wird nicht mehr nur von den Siegern geschrieben

Interessant dabei ist, dass auch der Widerspruch der Bürger des Landes gegen diese Politik bislang noch relativ gering ausfällt und dass überzeugende politische Alternativen kaum zu erkennen sind. Das hat verschiedene Gründe. Einer ist sicherlich die Totschlagskeule, die solche Stimmen reflexartig in die rechte, nationalistische und noch schlimmere Ecke stellt – heute ergänzt um das Feindbild Russland. Das schreckt nach wie vor ab. «Rechts» sein will in Deutschland kaum einer, und diejenigen, die sich offen dazu bekennen, bieten für Deutschland in der Tat keinen Ausblick.

Ein zweites Hindernis für freies Denken in Deutschland ist die These vom «deutschen Sonderweg» und der besonderen «deutschen Schuld». Die «rechten» Reaktionen hierauf, die deutsche Verantwortung für die Tragödien des 20. Jahrhunderts komplett verneinen, helfen nicht weiter. Angemessen sind hingegen all die Versuche, die dazu beitragen, dass die ganze Geschichte erzählt wird, die ganze Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Wolfang Effenberger und Willy Wimmer, Jörg Friedrich und Andreas von Bülow sind Persönlichkeiten, die dies versuchen. Das macht ihre Forschungsarbeiten so wertvoll. Sie gehören zu einer erfreulicherweise zunehmenden Zahl von Historikern und Politikern, die den zeitlichen Abstand zum Geschehen nutzen, um alle Quellen zu sichten und ein Bild zu zeichnen, das sich von politischen Vorgaben – «Die Sieger des Krieges schreiben die Geschichte» – löst und die tatsächlichen Zusammenhänge und Ereignisverläufe zu erkunden versuchen. Den Kern der Ergebnisse kann man schon heute nennen: Die These von der Alleinschuld Deutschlands an den Katastrophen des 20. Jahrhunderts ist falsch. Die Siegermächte des Ersten und des Zweiten Weltkriegs haben gezielt versucht, ihr «Narrativ» – so sagt man heute – durchzusetzen; nicht aus Liebe zur Wahrheit, sondern weil es um Interessen und politische Ziele ging und geht.
Aufklärung ist ein Gebot der Stunde

Über all dies aufzuklären ist ein Gebot der Stunde. Wenn sich Europa von den USA emanzipieren will – und dies wird für den Kontinent ein Überlebensimperativ –, dann muss die ganze Geschichte auf den Tisch. Sie muss Platz bekommen im Denken und Fühlen der Deutschen, sie kann auch die Deutschen befreien. Nicht, um sich über andere Staaten und Völker zu erheben – diese Gefahr besteht bei den meisten Bürgern des Landes sowieso nicht –, sondern um besser und wirklich zu verstehen: die eigene, aber auch die Geschichte anderer Völker und Staaten. Ein gesundes Selbstbewusstsein kann niemals aus dem Glauben an eigene Perfektion resultieren, weil dies immer unrealistisch ist und in die Irre führt. Aber zu erkennen, dass andere Staaten und Völker genauso Täter und Opfer der Geschichte waren wie wir Deutsche selbst, ist sehr realistisch und kann weiterhelfen.

Dann kann man auch das Buch von Dieter Borchmeyer gegen den Strich lesen und sich darüber freuen, wie viele wertvolle Gedanken für eine eigenständige, freiheitliche, demokratische und völkerverbindende deutsche Identität das deutsche Denken aus mehr als zwei Jahrhunderten zu bieten hat. Ein wenig stolz darauf darf man dann auch sein.

Wo jeder Deutsche anknüpfen kann: von Herder bis Schachtschneider

Johann Gottfried Herder, der geistige Vater des modernen deutschen Nationalstaatsgedankens, schrieb 1794 in seinen «Briefen zur Beförderung der Humanität»: «[…] hat die Erde nicht für uns alle Raum? Liegt ein Land nicht ruhig neben dem anderen? Kabinette mögen einander betrügen; politische Maschinen mögen gegen einander gerückt werden, bis eine die andere zersprengt. Nicht so rücken Vaterländer gegen einander; sie liegen ruhig neben einander, und stehen sich als Familien bei.» Im selben Jahr schrieb er zudem: «Ein großer, ungejäteter Garten voll Kraut und Unkraut. Wer wollte sich dieses Sammelplatzes von Torheiten und Fehlern so wie von Vortrefflichkeiten und Tugenden ohne Unterscheidung annehmen und […] gegen andre Nationen den Speer brechen? […] Offenbar ist die Anlage der Natur, dass wie ein Mensch, so auch ein Geschlecht, also auch ein Volk von und mit dem anderen lerne […] bis alle endlich die schwere Lektion gefasst haben: kein Volk ist ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garten des gemeinen Besten von allen gebauet werden.»

Die deutsche Geschichte der vergangenen mehr als 200 Jahre ist dem nicht immer gefolgt. Aber das hatte seine Ursachen nicht nur in Deutschland selbst. Wäre es nicht lohnenswert, an Ideen wie die von Johann Gottfried Herder anzuknüpfen und sich auf die Schultern derjenigen Riesen zu stellen, die ein souveränes, freiheitliches, rechtsstaatliches, demokratisches, soziales und friedliebendes Deutschland angedacht und vorbereitet haben.

Karl Albrecht Schachtschneider hat im Sommer 2017 ein neues Buch veröffentlicht. Es trägt den Titel «Die nationale Option. Plädoyer für die Bürgerlichkeit des Bürgers». Man muss nicht alle Schlussfolgerungen des Autors teilen, aber seine Analyse der Angriffe auf den Nationalstaat, die von den zwei Fronten des neoliberalen Globalismus und des trotzkistischen Internationalismus sowie der Instrumentalisierung des Islamismus ausgehen, ist bestechend. Dem setzt Schachtschneider die nationale Idee als Idee der Freiheit und der Bürgerlichkeit des Bürgers entgegen. Er verweist auf den Missbrauch der nationalen Idee und sagt, der Grund dafür sei «die illegitime und illegale Herrschaft von Menschen über Menschen, die als eine Todsünde der Menschheit, nämlich geboren aus Habsucht und Maßlosigkeit, nur schwer Grenzen respektiert, nicht die Natur des Menschen zur Identifikation mit dem Seinen.» Dann schreibt er: «Es gibt kein Recht ohne Freiheit […], und es gibt auch keinen Frieden unter den Völkern ohne Recht. Grundlage aller politischen Philosophie muss mithin die Freiheit sein. Die Frage ist: Kann es freiheitliche Gemeinwesen, Republiken, ohne die nationale Option geben? Meine Antwort ist: Nein. Der Republikanismus, der jedenfalls in Deutschland noch nie ernsthaft erprobt wurde, kann nicht mit geschichtlichen Katastrophen bekämpft werden, deren Grund Herrschaft und gerade nicht Freiheit war. Die freiheitsferne Unterdrückung der nationalen Option sollte niemanden entmutigen, der nach der politischen Form sucht, welche der Menschen und Völkern den ‹ewigen Frieden› zu bringen vermag, schon gar nicht, wenn die ‹Argumente› von denen kommen, die eine groß- oder gar weltstaatliche Tyrannis aufzubauen bemüht sind, meist aus niedrigen Beweggründen wie dem der Macht und dem des Geschäfts, oft aus Weltfremdheit, der moralischen Propaganda erlegen.»

 

Quelle: Sputnik

 

 

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