Verletzte Souveränität? — Scheinheilige Entrüstung gegen Erdogans Wahlempfehlung

Im politischen Berlin wird derzeit ein weiteres Empörungsdrama aufgeführt. Dabei ist die wohlfeile Entrüstung der deutschen Regierungspolitiker wegen Präsident Erdogans Wahlempfehlung ein Musterbeispiel für Scheinheiligkeit und Augenwischerei.

von Rainer Rupp

Stein des Anstoßes ist Erdogans Aufforderung an seine türkischen Landsleute mit deutschem Pass, bei der Bundestagswahl ihre Stimme nicht jenen Parteien zu geben, die er als «Feinde der Türkei» bezeichnet. Diese hat Erdogan namentlich als CDU, SPD und Die Grünen benannt. Bundeskanzlerin Angela Merkel und Martin Schulz reagierten prompt.

Wir verbitten uns jede Art von Einmischung», sagte Merkel. Und Schulz twitterte: «Erdogan hat jedes Maß verloren. Umso mehr stehen wir an der Seite all derer, die für eine freiheitliche und demokratische Türkei kämpfen.» Auch Außenminister Gabriel empörte sich: «Das ist ein bislang einmaliger Akt des Eingriffs in die Souveränität unseres Landes.»

Bei so viel Aufregung stellen sich spontan zwei Fragen: Mischt sich die Bundesregierung nicht selbst andauernd in viel unverschämterer und nachhaltigerer Weise in die inneren Wahlangelegenheiten anderer, souveräner Staaten ein, als es die Türkei je getan hat? Und: Ist Erdogans Aufruf wirklich ein «bislang einmaliger Akt des Eingriffs in die Souveränität Deutschlands»?

Doppelmoral: Deutschland mischt sich selbst tatkräftig ein

Wenn man sich anschaut, wie sehr und wie nachhaltig sich die Berliner Nomenklatura selbst seit Jahr und Tag in die Wahlkämpfe und inneren Angelegenheiten anderer Länder drängt, wird deren unverfrorene Scheinheiligkeit deutlich.

Am besten lässt sich das am Beispiel der letzten US-Präsidentschaftswahlen verfolgen. Während des Wahlkampfs haben sämtliche Bundestagsparteien mitsamt Regierungsvertretern lautstark Hillary Clinton unterstützt und Donald Trump angegriffen, nicht selten in unflätiger Form. Nachdem dann aber Trump ordnungsgemäß nach den geltenden US-Wahlgesetzen ins Weiße Haus gekommen war, haben sie gerade an diesen seit Jahrhunderten geltenden Wahlgesetzen herumgemäkelt und mithilfe der Medien den Eindruck verbreitet, dass Trump gar nicht so richtig vom Volk gewählt worden sei und eigentlich Hillary gewonnen hätte.

Kaum ein Land ist vor unerbetenen Belehrungen aus Deutschland sicher

Oder wie war es bei den Wahlen in Russland? Während man Präsident Putin und die Regierungspartei Einiges Russland ständig attackierte, lobte man die prowestlichen Parteien über den grünen Klee und westliche Medien haben deren Botschaft weit über die Grenzen nach Russland hineingetragen. Und bei den kommenden Wahlen wird es wieder so sein.

Im Vorfeld des jüngsten Referendums zur Verfassungsänderung in der Türkei die gleiche Situation: Die Behauptung ist sicher nicht untertrieben, dass sämtliche deutsche Parteien, einschließlich Regierungspolitikern, versucht haben, vor der Abstimmung Einfluss auf die in Deutschland lebenden Türken zu nehmen.

Oder wer schreibt eigentlich dem polnischen Parlament ständig vor, wie es sich entscheiden soll? Oder wer hat eine Anti-Brexit-Sturmflut auf die Wähler in Großbritannien losgelassen? Deutsche Politiker und deren Hofjournaille. Dazu ließe sich die Liste beliebig verlängern.

Wenden wir uns nun der zweiten Frage bezüglich Außenminister Gabriels Betonung der «nationalen Souveränität unseres Landes» zu. In diesem Zusammenhang wäre es interessant, zu erfahren, wie sich beispielsweise die unilateralen Operationen der US-Geheimdienste und der US-Kriegsmaschine in Deutschland — und von Deutschland aus – mit dieser in Übereinstimmung bringen lassen.

Würde die Bundesregierung diese nicht billigen, wäre es mit der Souveränität möglicherweise nicht allzu weit her. Allerdings wäre all das keine Missachtung der deutschen Souveränität, wenn die US-Militäroffensiven, Kritiker sprechen sogar von Kriegsverbrechen, die von deutschem Boden aus im ganzen Nahen und Mittleren Osten begangen werden, mit der Zustimmung der Bundesregierung geschehen. Wenn dem aber so sein sollte, dann wäre die Bundesregierung der Beihilfe zur Tötung von Zivilisten in mittlerweile vierstelliger Zahl schuldig, die weiterhin tagtäglich im Wege von elektronisch gesteuerten Todesschwadronen stattfindet.

Deutschland — Kein souveränes Land 

Auch wenn die Bundesregierung diese US-Operationen von deutschem Territorium aus nicht ausdrücklich genehmigt haben, sondern nur durch bewusstes Wegsehen stillschweigend dulden sollte, trüge sie Mitschuld an der tausendfachen Tötung von Einzelpersonen auf bloßen Verdacht — und am damit einhergehenden Tod Tausender von Zivilisten, von Frauen und Kindern bis hin zum Massaker an ganzen Hochzeitsgesellschaften. Denn indem sie nichts tut, um den Einsatz der von Deutschland, genauer gesagt dem US-Militärstützpunkt Ramstein aus gesteuerten US-Killerdrohnen zu stoppen, nimmt auch die Bundesregierung den Tod der Zivilisten billigend in Kauf.

Persönlich gehe ich jedoch davon aus, dass die Bundesregierung diesen massenhaften Tötungen vonseiten der USA nicht zustimmt und diese auch nicht dulden will. Sie kann aber politisch eben auch nichts tun, um das US-Militär davon abzuhalten, weiterhin von deutschem Boden aus Menschen im Nahen und Mittleren Osten zu massakrieren. In diesem Fall aber ist Deutschland das Gegenteil von souverän. Und wenn Außenminister Gabriel sich vor diesem Hintergrund über Erdogans Wahlempfehlung als einen «bislang einmaliger Akt des Eingriffs in die Souveränität unseres Landes» empört, dann ist das blanker Hohn.

Oder wie steht um die angebliche Souveränität unseres Landes, wenn die US-Geheimdienste neben deutschen Unternehmen auch Bundestagsabgeordnete und viele andere mehr ungestraft ausspionieren dürfen, sogar das Privathandy der Bundeskanzlerin? Außer einige Nebelbomben zu werfen, um dem Publikum Aktivität vorzutäuschen, hat die Bundesregierung seit Bekanntwerden des Skandals nichts gegen den untragbaren Zustand getan, abgesehen von Frau Merkels Ermahnung an Obama: «Unter Freunden tut man sowas nicht.» Stattdessen operiert die NSA sogar weiterhin in und von Deutschland aus und wird dabei sogar vom deutschen Nachrichtendienst BND unterstützt. Und Außenminister Gabriel spricht von der «Souveränität unseres Landes». Welch ein Hohn.

Ein souveränes Land lässt sich seine Energiepolitik nicht diktieren

Auch diesbezüglich ließe sich die Liste der Beispiele noch beliebig erweitern. Man denke nur an die US-Atomwaffen auf deutschen Boden, die trotz mehrfacher Versprechen verschiedener Bundesregierungen, diese endlich loszuwerden, immer noch in unserem «souveränen» Land gelagert sind.

Und was ist mit dem vom US-Kongress einseitig beschlossenen Gesetz, das deutschen Unternehmen mit schweren Sanktionen droht, sollten diese sich an der von der deutschen Regierung gewollten und genehmigten North-Stream-II-Pipeline beteiligen, die russisches Gas nach Deutschland bringen soll? Dieses Projekt ist entscheidend für die Energiesicherheit unserer ganzen Nation. Sich darin einzumischen, ist ein schwerwiegender Eingriff in unsere nationale Souveränität durch die USA! Aber das Geschrei, das Frau Merkel und die Herren Schulz und Gabriel dagegen angestimmt haben, ist im Vergleich zu jenem gegen Präsident Erdogans Wahlempfehlung sehr verhalten.

«Was lehrt uns das», fragte man früher in der DDR? Erstens sind die deutschen Politiker schwer erkrankt am Washingtoner Einzigartigkeits-Virus. Dieses macht sie glauben, dass sie anderen vorschreiben können, woran sie sich selbst nicht halten. In Bezug auf die deutsche Aufregung um Erdogan heißt das, dass die Scheinheiligkeit Trumpf ist. Und zweitens wird erneut klar, dass es die von Gabriel beschworene «nationale Souveränität unseres Landes» in der Form, wie man sich eine solche gemeinhin vorstellen würde, immer noch nicht gibt. Leider!

 

Quelle: RT