Russophobe Selbstfindung von Steinmeier im Baltikum: Endlich ist die deutsche Presse zufrieden

Frank-Walter Steinmeier bereist dieser Tage drei baltische Staaten. Er besucht geschichtsrevisionistische Erinnerungsorte und übt sich in russophober Rhetorik. Deutsche Medien jubeln und erteilen dem Präsidenten die Absolution bezüglich früherer NATO-Kritik.

von Wladislaw Sankin

Seine viel diskutierten NATO-kritischen Äußerungen im Vorjahr hatten Frank-Walter Steinmeiers Start ins Amt des Bundespräsidenten spürbar überschattet. Er war also in der Bringschuld, wenn es darum ging, dem gestrengen Urteil der unabhängigen, kritischen deutschen Medien wieder mit größerer Zuversicht entgegensehen zu können.

Mit seinen jüngsten verbalen Angriffen gegen Russland hat Steinmeier nunmehr fürs Erste zumindest einen bedeutenden Teil seiner diesbezüglichen Verfehlung wieder wettmachen können. Mit seinem nunmehrigen Auftritt habe, so das Handelsblatt, der deutsche Bundespräsident zu sich selbst gefunden. Endlich ist auch er jetzt wieder ein vollwertiges Mitglied der demokratischen Familie.

Der Zeitpunkt, den er für seine Reise ins Baltikum ausgewählt hat, sollte diesen Effekt noch verstärken. Am 23. August jährte sich die Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion im Jahr 1939.

Am 22. August in Tallinn, am 23. August in Riga und heute in Litauen bemüht sich Steinmeier sichtbar, «den Verdacht zu entkräften, er habe einen allzu diplomatischen Blick auf das Russland von Präsident Wladimir Putin», schreibt die dpa. Seine Gastgeber in Estland und Lettland scheinen zufrieden zu sein. Umso mehr die deutsche Presse, die mit Freude die antirussischen Passagen in seinen Reden zelebriert.

In seiner Rede in Tallinn bekräftigt Steinmeier einmal mehr die einstmals weitgehend auf die nationalistische Nischenpresse beschränkte, in den letzten Jahren aber mainstreamtauglich gewordene Vorstellung, dass nicht erst der deutsche Überfall auf Polen, sondern bereits der so genannte Hitler-Stalin-Pakt den Zweiten Weltkrieg unmittelbar verursacht hat. Indem Steinmeier ein vermeintliches «Recht des Stärkeren» kritisiert, baut er die Brücke aus der Vergangenheit in die Gegenwart. Dieses wende Steinmeier zufolge nun der legitime Nachfolger der Sowjetunion an, die Russische Föderation.

Als Steinmeier auf Russland zu sprechen kommt, greift er tief in die Keksdose der Klischees und Falschnachrichten, die mit medialem Nachdruck in den letzten Jahren über Russland die Runde gemacht hatten – von der vermeintlichen «Krim-Annexion» über den «Fall Lisa» bis hin zu den angeblichen Desinformationskampagnen sowie einer hybriden Kriegsführung Russlands, die Deutschland wie Estland gleichermaßen zu erleiden hätten.

Auch die gemeinsamen russisch-weißrussischen Militärübungen, zu denen auch die Esten von den Veranstaltern miteingeladen werden, sind für Steinmeier ein Problem. In seiner Erinnerungskultur ist Russland Steinmeier auch deshalb nicht genehm, weil dieses angeblich «aus Geschichte Waffen schmiedet» und sich vom Westen abgrenzt.

Vor allem Letzteres verwundert Steinmeier sehr, da der Westen ja selbst keine Abgrenzung und Eskalation wünsche.

Wenn wir uns selbst in Abgrenzung zu anderen definieren, dann spielen wir nur den Scharfmachern in die Hände», sagte er.

Dass es solche Scharfmacher in Deutschland und im Baltikum nicht gibt, versteht sich natürlich von selbst. Schade nur, dass sich Steinmeiers gekonnt inszenierte Friedfertigkeit nicht vollständig in die Redaktionsstuben deutscher Zeitungen herumgesprochen zu haben scheint. So titelte die Berliner Zeitung: «Bundespräsident Steinmeier grenzt sich im Baltikum von Russland ab».

Kein Wort über Diskriminierung russischer Einwohner des Baltikums

Die Journalisten meinen das aber keineswegs negativ. Im Gegenteil: Endlich redet Steinmeier «deutlich» zu Russland und zeigt «klare Kante». Wie Steinmeier nach alldem selbst noch mit Russland reden will (immerhin heißt es ja auch: «Sprachlosigkeit ist keine Option»), das zu erklären sieht die Berliner Zeitung nun wirklich nicht als ihre Aufgabe.

Wenn Steinmeier auf die Geschichte zu sprechen kommt, wird er noch widersprüchlicher. So mahnt er zwar die Balten, die geschichtliche Erinnerung an die russische Besatzung «nicht zur weiteren Frontlinie» werden zu lassen. Dann aber adelt er das so genannte Okkupationsmuseum in Riga mit seinem Besuch und sagt:

Am 23. August begann die dunkelste Zeit in der Geschichte Ihres Landes – doch genau 50 Jahre später begann ihr Ende. 

Wie sollen aber die Esten, Letten und Litauer in der Geschichte keine Frontlinien ziehen, wenn die Deutschen selbst allzu gerne den geschichtsrevisionistischen Narrativ der baltischen Nationalisten mittragen? Noch in ihrer Resolution vom Juli 2009 hat die OSZE der Sowjetunion die gleiche Schuld für den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges angedichtet wie Nazi-Deutschland. Dementsprechend wäre auch der Verbleib der baltischen Republiken in der Sowjetunion nichts Anderes als eine Okkupation gewesen.

Und da hilft es nicht, wie es manche sogar im Baltikum vorschlagen, Russland von der Sowjetunion zu trennen und die These zu vertreten, die Russen seien demnach selbst Opfer der Sowjets gewesen — so wie es auch im Kalten Krieg eine weit verbreitete Ansicht westlicher Führungen war. Die Russen sind im Baltikum und anderen Ländern geblieben – als frühere Bürger eines einst vereinten Landes. Heute müssen sie täglich die real existierende Diskriminierung in den jungen europäischen Ethnokratien erleben, die es jedoch nicht auf Steinmeiers Tagesordnung geschafft hat.

Verteufelung der UdSSR läuft auf Hochtouren 

Im heutigen Europa gibt es weniger Interesse an geschichtlicher Aufklärung denn je. Die Rolle aller europäischen Staaten und der USA im Zusammenhang mit dem Krieg wird massiv weißgewaschen, dagegen die UdSSR als Ursache allen Übels schon von Anfang an verteufelt. Nicht nur die Appeasement-Politik und die abwartende Position vonseiten der Briten und Amerikanern in Anbetracht des hitlerdeutschen Expansionismus wird verschwiegen. Auch der massive Kollaborationsdrang und der Faschismus in vielen anderen Staaten, auch solchen, die sich heute als Opfer präsentieren, fallen unter den Tisch.

Stattdessen wird die Idee einer angestrebten «gesamteuropäischen Erinnerungskultur» auch im offiziellen Deutschland immer mehr als Einladung aufgefasst, die Last des bislang gültigen Narrativs von der Alleinschuld Deutschlands am Zweiten Weltkrieg künftig mit auf die Schultern der untergegangenen Sowjetunion zu verteilen — und perspektivisch vielleicht sogar komplett an diese abzugeben.

Dabei liegt dieses Bestreben fast sogar nahe, wenn man bedenkt, dass zusammen mit den Hitler-Truppen auch fast eine Million Soldaten aus den Satellitenstaaten des Dritten Reiches in die Sowjetunion eingefallen sind, später gebildete Einheiten wie Waffen-SS nicht inbegriffen. Vor 20 Jahren noch stand der frühere Unterscharführer der Waffen-SS und langjährige Parteichef der rechtsnationalen Republikaner, Franz Schönhuber, weitgehend allein auf weiter Flur, als er seine ehemalige Truppe als Pioniere eines Vereinten Europas unter dem Banner des Antibolschewismus verklärte. Heute nähern sich die etablierte Politik und der Medien-Mainstream in Deutschland unter antirussischen Vorzeichen in Riesenschritten dieser Vorstellung an.

Diese Geschichtsklitterung sollte, wenn es nach Steinmeier geht, in Russland mit viel Verständnis aufgenommen werden und doch bitte nicht zu irgendwelchen Abgrenzungsversuchen gegenüber dem Westen führen. Hingegen gilt der russische Vorschlag, die zahlreichen bilateralen Verträge zwischen Deutschland und anderen Staaten auf der Basis der historischen Realität der 1930er Jahre zu sehen, in Europa als Ausdruck des Stalinismus.

Zum Nichtangriffspakt sagte der bekannte Historiker und Politologe Alexander Rahr, dessen Familie aus Lettland im Jahr 1940 kurz vor dem Einmarsch sowjetischer Truppen nach Deutschland floh, auf Anfrage von RT Deutsch:

Der Nichtangriffspakt zwischen Hitler-Deutschland und der UdSSR selbst ist in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs nicht das Problem. Stalin musste sich vor einem wachsenden aggressiven Deutschland verteidigen, denn die Westmächte England und Frankreich betrieben dieselbe Appeasementpolitik gegenüber Hitler, auch nachdem dieser Österreich und das Sudetenland seinem Reich zugeführt hatte. Die Alternative wäre Krieg gewesen, den die UdSSR klar verloren hätte, nachdem Stalin die sowjetische Militärspitze brutal gesäubert hatte. 

Das Problem ist das Geheime Zusatzprotokoll des Vertrages, das die Aufteilung Osteuropas in zwei Hemisphären — die deutsche und sowjetische — festlegte. So verschwanden ganze Staaten von der europäischen Landkarte. In der UdSSR wurde der Hitler-Stalin-Pakt erst in der Zeit der Perestroika offen angesprochen, diskutiert, kritisiert und verworfen. 1991 erkannte das neue Russland die Unabhängigkeit der Baltischen Staaten bedingungslos an. 

Einverleibung des Baltikums nicht zwingend «Okkupation»

Aus der Anerkennung der Unabhängigkeit der baltischen Staaten muss man aber nicht zwangsläufig schlussfolgern, dass die Präsenz der Sowjetmacht im Baltikum als Okkupation zu sehen wäre. Und die Frage, ob die Ereignisse des Jahres 1940, als die baltischen Länder der Sowjetunion zugeführt wurden, als Annexion eingestuft werden müssen, spielt hierbei eine zweitrangige Rolle.

Die Einverleibung der Staaten erfolgte auf den massiven Druck vonseiten der sowjetischen Regierung auf die Parlamente in Estland, Lettland und Litauen hin, war aber mit damals geltenden Gepflogenheiten kompatibel. Aus heutiger Perspektive mag sie aber nun als rechtswidrig erscheinen, wie russische Historikerin Zubkowa in ihrem Buch «Das Baltikum und der Kreml 1940-1953» schreibt.

Zubkova nennt das militärische Eindringen auf Grundlage von Ultimaten im Juni 1940 eine «rechtswidrige Aktion», schreibt ein deutscher Rezensent zu ihrem Buch.

Allerdings könne man von einer «militärischen Okkupation» nur bedingt und nur für wenige Wochen bis August 1940 sprechen. Im August 1940 nahm Moskau die drei neuen Republiken, die bereits zuvor bis 1918 lange Teil des russischen Reiches waren, feierlich in die Union auf.

Schließlich habe die UdSSR ihre Aktion nicht als zeitweilige Besetzung angesehen und der Region ihr System aufgezwungen, sondern, so heißt es in der Rezension weiter:

1940 kam die ‘Sowjetmacht’ ins Baltikum: So begann ein Umbruch, der in seinen Resultaten bei weitem greifbarer und dramatischer war als jede beliebige ‘militärische Okkupation’.

Auch Horst Schützler ist in seinem Artikel «Der Anschluss der baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland an die Sowjetunion 1940 und seine Folgen» mit dem Begriff Okkupation nicht einverstanden. Dieser gehe an der historischen Realität vorbei. Gegenüber den Baltischen Republiken betrieb die zentrale Macht in Moskau eine Politik, die auf eine Herausbildung loyaler Eliten ausgerichtet war.

Das brachte der Bevölkerung der drei Republiken den höchsten Lebensstandard in der UdSSR und die Herausbildung einer leistungsstarken Schicht nationaler Intelligenz mit beträchtlichen Führungs- und anteiligen Herrschaftsfunktionen in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Dies wird heute zumeist infolge des stereotypen Blicks auf «Fremdherrschaft, Sowjetkolonialismus und Unterdrückung» übersehen oder bestritten, heißt es im Artikel.

Es sei deswegen problematisch, wenn aus den Begriffen Okkupation und Annexion – mehr als aus der Wirklichkeit selbst – eine 50 Jahre währende Besetzung, Fremdherrschaft, nationale Unterdrückung und Kollaboration hergeleitet werde.

Alles gut im Baltikum?

Auf diese Stimmen der Wissenschaft will die deutsche Politik jedoch nicht hören. Im Gegenteil, sie hält mit jedem Jahr immer stärker an dem Okkupations-Mythos fest. Denn wenn es stimmen sollte, dass es den baltischen Republiken in der Sowjetunion gar nicht so schlecht ging, dann würde sich die Frage stellen, warum die Esten seit dem ersten Jahr der Unabhängigkeit 16 Prozent, die Letten 27 und die Litauer 23 Prozent ihrer Bevölkerung verloren haben. Im Baltikum häufen sich die Stimmen, die sagen, ihre Länder seien vom Aussterben bedroht.

In der steinmeierschen «dunkelsten Zeit ihrer Geschichte» schlossen die Balten aber noch gerne Ehen, bekamen Kinder und bauten mit Moskauer Subventionen eine eigene Industrie auf. Ihre Schauspieler, Schlagerstars und Komponisten wurden im ganzen Land mit seinen fast 300 Millionen Einwohnern gefeiert. Heute sind sie ein Niemand in der EU — ewige Schützlinge, die man vor dem «großen Nachbarn im Osten» schützen muss.

Dieser «Schutz» kann aber in den befreiten Republiken, insbesondere in Litauen und Lettland, wirtschaftliche Stagnation, eine hohe Selbstmordrate, eine massive Abwanderung nicht verhindern. Diese Probleme sind in Deutschland kein Gegenstand der Berichterstattung. Denn sie würden nicht ins Bild einer EU passen, die überall nur Wohlstand und Fortschritt hervorbringt. Und die Mär von der russischer Bedrohung sorgt für die Aufrechterhaltung einer Frontlinienmentalität, die es den baltischen Eliten erlaubt, am Tropf der NATO und EU zu hängen, anstatt eigenständig Politik zu gestalten.

 

Quelle: RT