Der oberflächliche SPD-Pazifismus

 

Die SPD, auf der verzweifelten Suche nach einem Wahlkampfthema das ihnen die CDU nicht asymmetrisch wegmobilisieren kann, hat den Pazifismus für sich wiederentdeckt. Das lässt sich gut mit dem zweiten großen Thema von Martin Schulz verknüpfen: Trump-Kritik. Weil gegen Amerika läuft in Deutschland immer, und Amerika ist irgendwie immer auch Militär. Das passt dann schon. Konkreter Zankapfel ist das seit gefühlten Ewigkeiten bestehende und unerreichte Ziel der NATO, 2 Prozent des BIP für die Verteidigung auszugeben. Deutschland liegt bei 1,2 Prozent und hat bereits angekündigt, dies um maximal 8 Prozent pro Jahr zu steigern.

Es ist also nicht so, als ob Merkel sich eine Pickelhaube aufgesetzt hätte und ins Aufrüstungshorn bläst. Die Ausgaben liegen aktuell bei 40 Milliarden jährlich; das 2 Prozent-Ziel – zu erreichen bis 2024 – erfordert rund 75 Milliarden, Stand aktuelles BIP. Wie zahlreiche Ministerpräsidenten beim Versuch Straßen zu reparieren gerade bemerken, ist eine atrophierte Institution aber nicht eben aus dem Stand mit 10 Prozent Budgetsteigerung jährlich zu fluten. Die Versäumnisse von Jahrzehnten lassen sich nicht eben mal kurz in acht Jahren beseitigen.

Dass die Bundeswehr eine atrophierte Armee ist, dürfte nicht einmal bei der LINKEn strittig sein. Ausrüstung funktioniert notorisch nicht oder ist so alt, dass nicht einmal Ersatzteile verfügbar sind. Kasernen sind verrottet, qualifiziertes Personal zu bekommen ist ein Dauerproblem und das Führen von kaum 4.000 Soldaten im Auslandseinsatz belastet die Kapazitäten bis zum Anschlag.

Strukturell versucht die Bundeswehr seit über zwei Jahrzehnten, von der Wehrpflichtigenarmee mit Fokus auf die Abwehr eines sowjetischen Panzervorstoßes durch die norddeutsche Tiefebene zu einer modernen Interventionsarmee zu kommen. So ein Strukturwandel braucht unter besten Bedingungen lange und bindet enorme Ressourcen, und „beste Bedingungen“ ist nicht gerade eine Wortkombination, die einem bei der Bundeswehr in den Sinn kommt.

Man könnte jetzt als Sozialdemokrat, Grüner oder LINKEr selbstzufrieden lächeln und ein „Mission Accomplished“-Banner ausrollen. Schließlich sind Linke nicht gerade Fans von aggressiver, militärunterstützter Außenpolitik. Das Problem ist nur, dass die Linken damit den Problemlösungsansatz wählen, den sonst Libertäre benutzen und versuchen, eine verhasste staatliche Institution einfach durch Abschneiden von Ressourcen zu zerstören.

Das ist mindestens grob fahrlässig. Wenn Linke es ernst meinen mit einer Armee zur reinen Landesverteidigung, dann können sie nicht einfach dabei stehen bleiben, den Wandel zur Berufsarmee mit Fokus auf Interventionen zu blockieren und gebetsmühlenartig den NATO-Austritt zu fordern. Es ist verführerisch, in Wahlkampfstatements wie dem folgenden von Sigmar Gabriel die Lösung für dieses Dilemma zu sehen:

Tatsächlich ist das aber eine leere Worthülse. Aufrüstung und Frieden schließen sich erst einmal nicht gegenseitig aus, der Zusammenhang hängt stark vom Kontext ab. Klar, wer eine schlagkräftige Truppe fordert, die in der Lage ist „deutsche Interessen“ (was auch immer das im konkreten Fall bedeuten mag) international mit der Waffe in der Hand zu verteidigen, der ist nicht gerade eine Taube für mehr Frieden.

Aber Einsätze wie der in Mali stehen schon wieder auf einem ganz anderen Blatt. Wie sieht es aus, wenn deutsche Soldaten eingesetzt werden, um einen Friedensprozess abzusichern oder humanitäre Hilfe zu leisten? Zumindest bei SPD und Grünen ist man da im Normalfall deutlich aufgeschlossener. Nur, wenn man die Interventionsarmee blockiert, kann die halt gar nicht intervenieren.

Das ist das Grunddilemma dieser Politik. Eine Armee ist ein Werkzeug internationaler Politik (ja, CDU, wir brauchen definitiv immer noch keine Bundeswehr im Inland). Wie dieses Werkzeug eingesetzt wird, ist der entscheidende Kontext, von dem ich vorher sprach. In einem demokratischen Gemeinwesen wie der BRD ist nicht davon auszugehen, dass Bundeswehrsoldaten bald in Athen ausstehende Schulden eintreiben.

Wie also kann dieses Dilemma gelöst werden?

Eine progressive Vision der Bundeswehr wäre eine Armee, die humanitäre Interventionen erfolgreich durchführen kann und Kapazitäten zur Landesverteidigung besitzt, die in ein belastbares Bündnis integriert sind. Davon ist aktuell nur der letzte Punkt erfüllt. Die NATO als Ganzes ist trotz Trumps besten Versuchen weiterhin ein belastbares Bündnis, das Deutschland eine gewisse Sicherheit gibt (unvorstellbar, in einem Europa ohne NATO die Bundeswehr so verrotten zu lassen). Da die deutsche Bevölkerung Kampfeinsätze überwiegend ablehnt, humanitären Hilfseinsätzen aber allgemein aufgeschlossener gegenübersteht, liegt es für die Bundeswehr eigentlich nahe, eine größere Spezialisierung anzuzielen.

Dummerweise ist dies in den NATO-Strukturen nicht wirklich möglich, weil jeder Staat über seine eigenen Truppen verfügt und diese nur der NATO-Kommandostruktur unterstellt, die selbst von der Größe her eigentlich nur für Friedenszeiten halbwegs ausgestattet ist; in einem hypothetischen Ernstfall würden wahrscheinlich aus purer Notwendigkeit die US-Militärs an vielen Stellen einspringen. Das ist im Übrigen auch kein sonderlich angenehmes Szenario für die Bundeswehr, denn Hilfstruppen für eine andere Armee zu sein raubt viel Souveräntität und Entscheidungsfähigkeit.

Die Lösung kann daher nur in einem Ansatz bestehen, den SPD und Grüne gerade wieder aus der Versenkungskiste der frühen 1950er Jahre herauskramen: eine europäische Armee. Wenn der Libyen-Krieg 2011 eines gezeigt hat, dann dass selbst die (mit Abstand) hochgerüstetsten Staaten der EU, Frankreich und Großbritannien, nicht in der Lage sind, eigenständig Operationen auf der anderen Seite des Mittelmeers durchzufüren, geschweige denn weiter entfernt. Die Vorstellung, dass Staaten wie Belgien, Niederlande oder Tschechien ein eigenes, vollständig ausdifferenziertes Militär unterhalten ist auch furchtbar antiquiert. Wesentlich sinnvoller wäre es, hier auf EU-Ebene eine größere, schrittweise Integration anzustreben. Dies hätte gleich mehrere Vorteile.

  • Der Personalbedarf insgesamt würde sinken, weil viele Aufgaben, vor allem in der Logistik, nicht mehr zigfach abgedeckt werden müssen.
  • Die Kosten für Ausrüstungsbeschaffung würden durch größere Vereinheitlichung und größere Bestellmengen sinken
  • Die europäische Einigung würde einen konkreteren Gegenstand in einer weiteren europäischen Institution bekommen, bei der Europäer tatsächlich miteinander interagieren
  • Die europäische Außenpolitik würde wesentlich schlagkräftiger werden und könnte graduell von den Außenministerien der einzelnen Mitgliedsstaaten auf ein europäisches Außenministerium wechseln
  • Die NATO würde gestärkt werden, weil einzelne europäische Staaten nicht mehr einfach aus dem Verband ausscheren können
  • Die Finanzierung würde stärker über die EU-Haushaltstöpfe laufen und wäre damit losgelöster von nationalen Befindlichkeiten
  • Die Nutzung von Basen außerhalb des Territoriums der Bündnisstaaten würde deutlich vereinfacht und vereinheitlicht.

Diese Integration ist natürlich politisch nur extrem schwer umzusetzen, und die bisherige Geschichte gemeinsamer europäischer Rüstungsprojekte ist, sagen wir, durchwachsen. Aber der politische Prozess, die Budgets möglichst gleichmäßig über die Mitgliedsstaaten zu verteilen, so dass jeder ein Stück vom Investitions- und Arbeitsplatzkuchen bekommt, sollte der Konsens-Maschine Brüssel doch eigentlich möglich sein.

In der Zwischenzeit sollte Deutschland endlich einmal die längst überfällige Richtungsentscheidung treffen, für was man seine Armee eigentlich haben möchte. Jeder potenzielle Konflikt mit einem landbasierten Nationalsstaat, der tatsächlich ernsthaft die territoriale Integrität Deutschlands bedrohen könnte, würde sich zwangsläufig auf osteuropäischem Boden abspielen. Sollte es zu diesem Fall kommen, müsste die Bundeswehr in den baltischen Staaten, in Polen oder in der Slowakei stationiert werden. Jede Struktur, die davon ausgeht, dass die Bundeswehr nach der Mobilisierung an die eigenen Grenzen rückt, ist hoffnungslos veraltet und kann weg.

Eine Stationierung von Kontingenten in den osteuropäischen Staaten ist, anders als die hyperventilierende Linke das gerne behauptet, kein Auftakt zum Krieg. Die NATO-Staaten hatten 40 Jahre lang in der BRD massive Kontingente stationiert, ohne dass dies der Auftakt zu einem Überfall auf die DDR und Tschechoslowakei gewesen wäre. Der Nutzen einer Kenntnis des Terrains, auf dem – was hoffentlich nie passiert – die ganzen sündteuren Leopard-2-Panzer tatsächlich fahren würden, liegt auf der Hand, und die wahrscheinlichsten Konfliktpartner sollten schon mit ihren Verbündeten bekannt sein. Das ist eigentlich ein No-Brainer.

Abgesehen von diesem unwahrscheinlichen und nach besten Kräften zu verhindernden Fall eines ernsthaften Kriegs bleiben die Interventionen. Aktuell unterhält Deutschland Soldaten 3605 Soldaten im Ausland (zum Vergleich: USA rund 300.000). Diese teilen sich dabei grob in folgende Kategorien auf: Friedenssicherung, Bündnishilfe, humanitäre Hilfe, Kampfeinsatz.

Friedenssicherung dient der Befriedung früherer Bürgerkriegsregionen oder sonstiger Gebiete, in denen ohne militärische Sicherung akute Gewalt droht, meist, weil die örtlichen Institutionen nicht in der Lage sind, das Gewaltmonopol des Staates durchzusetzen (wo der Staat selbst die Quelle der Gewalt ist, haben wir einen Kampfeinsatz). Häufig dienen die Soldaten auch hauptsächlich bei der Ausbildung örtlicher Kräfte.

  • Kosovo (473 Soldaten)
  • Libanon (Marine) (129 Soldaten)
  • Somalia (ca. 10 Soldaten)
  • Sudan (16 Soldaten)
  • Mali (Training) (134 Soldaten)
  • Westsahara (4 Soldaten)
  • Afghanistan (Training) (980 Soldaten)
  • Irak (Training) (135 Soldaten)
  • Mittelmeer (unklare Anzahl)

Bündnishilfe dient der Stationierung von Bundeswehrtruppen auf dem Gebiet eines Bündnispartners, um diesem bei Sicherung der Grenze zu helfen. Hierbei handelt es sich um ein für die Bundeswehr neues Phänomen, weil bis 1991 die BRD selbst das Grenzgebiet war, auf dem sie Hilfe von Bündnispartnern erhalten hat.

  • Baltikum (100 Soldaten)
  • Island (100 Soldaten)
  • Litauen (450 Soldaten)
  • Türkei (ca. 260 Soldaten, aktuell auf Rückzug)

Humanitäre Hilfe dient hauptsächlich der Durchführung oder Absicherung von Hilfsmaßnahmen, wo zivile Hilfsorganisationen entweder nicht über die nötigen Mittel verfügen oder aber die Sicherheitslage dies nicht zulässt. Diese Maßnahmen geschehen häufig unter UN-Mandat.

  • Darfur (ca. 30 Soldaten)
  • Mali (892 Soldaten)

Kampfeinsätze dienen der aktiven Bekämpfung bewaffneter Gegner. Die Grenzen zur humanitären Hilfe und der Friedenssicherung sind oftmals fließend. Kampfeinsätze müssen nicht zwingend tödlich enden; in Somalia etwa agiert die Marine eher als Küstenwache und verhaftet die Piraten, die zu bekämpfen sie entsandt wurde.

  • Somalia (29 Soldaten)

Wie viel will man bei diesen Einsätzen noch abrüsten? Wo gefährdet die Bundeswehr bei diesen Einsätzen den Weltfrieden durch übertrieben Aufrüstung? Ich kann nichts erkennen. Es gibt sicher gute Argumente, um darüber nachzudenken, manche dieser Engagements zu beenden (etwa Afghanistan oder Türkei). Die Bundeswehr führt aktuell keinen einzigen ernstzunehmenden dezidierten Kampfeinsatz. Meines Wissens nach ist nicht geplant, dass weitere folgen sollen. Stattdessen dient sie hauptsächlich bei der Befriedung, beim Training, dem Aufbau von Infrastruktur und bei der Aufklärung. Genau hier könnte eine vernünftige Reformpolitik ansetzen.

Wenn, wie Sigmar Gabriel das in seinem markigen Statement erklärt hat, die Friedenssicherung am besten erreicht wird, indem man Hunger und Argmut und damit Konfliktursachen bekämpft, dann wäre es vielleicht sinnvoll, wenn Deutschland dies zu einem Spezialfeld machen würde. Der Strukturwandel der Bundeswehr muss dann zweigleisig verlaufen. Einerseits muss sie weiterhin in der Lage sein, ihre Bündnispflichten wahrzunehmen – um eine bescheidene, schlagkräftige Berufsarmee mit Spezialisierung auf Osteuropa wird man da nicht herumkommen. Andererseits kann dies eine deutlich größere Verzahnung mit dem Entwicklungsministerium erfordern.

In Koordination mit den NATO-Partnern könnte sich die Bundeswehr tatsächlich darauf spezialisieren, humanitäre Einsätze durchzuführen oder abzusichern. Das ist ein langweiliges, aufwändiges Geschäft mit einem Schwerpunkt auf Logistik, aber gleichzeitig ist es eines, das die notorisch militäraverse deutsche Bevölkerung akzeptieren kann und für das die NATO-Staaten ohnehin Kapazitätenmangel haben.

Es ist ein bisschen Zahlenspielerei, aber es würde den deutschen „Verteidigungs“haushalt deutlich vergrößern und gleichzeitig keine Kriegstreiberei darstellen. Es wäre eine Armee, die tatsächlich überwiegend Friedenssicherung betreibt, weil sie strukturell zu gar nichts anderem in der Lage wäre. Und das ist ein Kompromiss, den eigentlich alle Seiten akzeptieren könnten und der hohle Phrasen von „Abrüstung“ unnötig machen würde.

 

Quelle: Neopresse