Nach den Attentaten von Barcelona: Informationskrieg auf Spanisch

Vor dem Referendum über die Unabhängigkeit von Katalonien versucht die spanische Regierung mit allen Mitteln, die katalanischen Behörden dafür verantwortlich zu machen, dass die Anschläge von Barcelona stattfinden konnten. Diese Argument fällt jedoch auf Madrid selbst zurück. Teil 2 einer Spurensuche.

In der Woche nach den Attentaten von Barcelona und Cambrils zeichnete sich ab, dass die Sicherheitsbehörden keineswegs so ahnungslos gewesen sein können, wie sie zunächst behaupteten. Insbesondere bei dem Imam Abdelbaki Es Satty, der die Jugendlichen aus Ripoll zu den Selbstmordanschlägen motivierte, handelt es sich um einen alten Bekannten der spanischen Innenbehörden. Die Verantwortung für das Versagen der Behörden diskutieren Politik und Medien in Spanien jedoch vor dem Hintergrund des anstehenden Referendums über die Unabhängigkeit von Katalonien. Inzwischen spielt sich zwischen Madrid und Barcelona ein regelrechter Informationskrieg ab.

In der vergangenen Woche platzte in den spanischen Medien eine kleine Bombe: Angeblich haben die Geheimdienste der USA die Spanier bereits Monate zuvor vor einem geplanten Anschlag auf die Rambla gewarnt. Bereits am 25. Mai soll das National Counterterrorism Center, zu dem CIA, NSA und FBI gehören, Kontakt zu Behörden in Spanien aufgenommen haben, um sie vor einem bevorstehenden Anschlag der Terrormiliz Islamischer Staat zu warnen. Seitdem versuchen die spanischen Sicherheitsbehörden, der katalanischen Polizei mit allen Mitteln die Verantwortung zuzuschieben.

Die Zeitung El Periódico hatte bereits direkt nach den Anschlägen behauptet, dass der amerikanische Geheimdienst CIA die katalanischen Behörden vor einem Anschlag auf die Rambla gewarnt habe. Am 1. September veröffentlichtedie Zeitung sogar ein Faksimile des angeblichen CIA-Briefes. Allerdings weist dieser Vorgang einige logische und formale Ungereimtheiten auf. Zunächst einmal ist inzwischen gut belegt, dass die Fahrzeugattacken auf die beliebte Fußgängerzone La Rambla eine spontane Notlösung der jugendlichen Attentäter waren, nachdem der Leiter ihrer Zelle, besagter Imam Abdelbaki Es Satty, bei einer gigantischen Explosion in dem kleinen Ort Alcanar ums Leben kam.

Ursprünglich hatte die Zelle einen großen Bombenanschlag auf die Kathedrale Sagrada Familia geplant. Dafür hatte sie bereits seit Monaten 500 Liter Chemikalien und 120 Gasflaschen gehortet. Dass eine Vorab-Warnung bereits einen Anschlagsort zum Gegenstand hat, der später aus einer Notsituation spontan entstand, wäre zumindest sehr erklärungsbedürftig. Dass der angebliche Hinweis spezifisch auf „La Rambla Street“ Bezug nimmt, spricht eher dafür, dass Wissen in das Memo eingeflossen ist, dass erst nach den eigentlichen Anschlägen zur Verfügung stand. Immerhin befindet sich die berühmte Gaudi-Kathedrale in der Carrer de Mallorca, also einige Kilometer von La Rambla entfernt.

Auf formale Probleme in der kurzen Notiz hat inzwischen WikiLeaks-Gründer Julian Assange hingewiesen. Aufgrund seiner jahrelangen Veröffentlichungen von CIA-Dokumenten kann er durchaus als Experte gelten. Seiner Ansicht nach sei die Meldung „gefälscht oder modifiziert“. Ihm erscheine „sehr suspekt“, dass dieses Fax mehrere Formfehler aufweist, die darauf hinweisen, dass der Urheber spanischer Muttersprachler ist. So verwendet der Text in Bezug auf den „Islamischen Staat“ die spanische Abkürzung «ISIS» anstatt, wie in der CIA üblich, von «ISIL» zu sprechen. Auch die Schreibweise «Irak» entspreche nicht dem englischen «Iraq». Zudem verwendet das Faksimile in Spanien gebräuchliche Anführungszeichen. Später wiesen andere Beobachter darauf hin, dass nicht einmal die Schreibweise des Datums korrektem Englisch entspricht.

Obwohl es offensichtlich Klärungsbedarf zu dem von El Periódico veröffentlichten Papier gibt, gehen spanische Medien inzwischen davon aus, dass es tatsächlich frühzeitig eine Warnung gab. Auch spanische sowie katalanische Politiker bestätigten, dass vorher Hinweise vorlagen. Allerdings benutzen sie diesen Umstand nicht, um etwa den Sinn des Überwachungsstaates in Frage zu stellen, oder die Tatsache, dass europäische Innenbehörden seit Jahren dschihadistische Aktivitäten auf ihrem Territorium dulden, solange die Extremisten nach Syrien und den Irak ziehen. Vielmehr wird das angebliche Versagen der Sicherheitsbehörden zu einem Blame-Game, das alte Spiel gegenseitiger Schuldzuweisungen, um die Kontrahenten im Kampf um die katalanische Unabhängigkeit zu beschuldigen.

So legten El Periódico und andere große Medien zunächst nahe, dass nur die katalanische Regionalpolizei, die Mossos d’Esquadra, die angebliche Warnung erhalten hatten. Inzwischen lautet die Version, alle spanischen Sicherheitsbehörden seien gewarnt worden. Allerdings reiht sich die angebliche „CIA-Warnung“ in eine ganze Reihe von Vorfällen ein, mit denen der spanische Innenminister versucht, von der eigenen Verantwortung abzulenken. Immerhin ist auf spanischen Staatsgebiet nicht etwa die katalanische Regionalpolizei für die Bekämpfung des Terrorismus zuständig, sondern der Geheimdienst Centro Nacional de Inteligencia (CNI) und die Guardia Nacional. Beide unterstehen dem spanischen Innenminister Juan Ignacio Zoido.

Überwachungsstaat Spanien

Bereits die Annahme, dass sich in Spanien jahrelang eine Gruppe von Dschihadisten bewegen könne, ohne dass die spanischen Geheimdienste auf sie aufmerksam werden, muss Kennern der dortigen Sicherheitspolitik ein Runzeln auf die Stirn treiben. Kaum ein anderes Land in Europa überwacht seine Bevölkerung enger. Spanien verfügt seit Jahren über die Vorratsdatenspeicherung. Sämtliche digitale Kommunikation wird monatelang gespeichert und ausgewertet. Mit diesen Daten arbeiten der Geheimdienst und die Staatsanwaltschaften durchaus effizient. Solange es gegen baskische oder katalanische Nationalisten geht, kann schon ein privater Facebook-Post ausreichen, um sich ein Gerichtsverfahren einzuhandeln.

Bereits einfache Meinungsdelikte wie die „Verunglimpfung der Monarchie“ reichen aus, um von spanischen Gerichten zu empfindlichen Strafen verurteilt zu werden. Gerade erst im März verurteilte der Oberste Gerichtshof in Madrid eine 21-jährige Spanierin zu einem Jahr Haft, die über Twitter mehrere Witze über den Tod von Luis Carrero Blanco gemacht hatte. Der Ministerpräsident der Franco-Diktatur war im Jahr 1973 durch ein Kommando der ETA mit seinem Auto in die Luft gejagt worden. In anderen Fällen machte der spanische Geheimdienst über Facebook Aktivisten ausfindig, die angeblich aufseiten der Volksrepubliken im ukrainische Bürgerkrieg gekämpft haben.

Seit den mörderischen Al-Kaida-Anschlägen im Jahr 2004 gilt das wichtigste Augenmerk der spanischen Behörden jedoch den gewaltbereiten Islamisten. Nach Angaben von El Pais sind alleine 3.000 Beamte nur für den islamistischen Extremismus abgestellt.

„In Spanien arbeitet eine stille ‚Armee‘ aus mehr als 3.000 Offizieren aus Sicherheitskräften, Spionen, Staatsanwälten, Richtern und Analytikern im Schatten, um einen weiteren Angriff abzuwehren.“

Aus diesem Wissen heraus hatte Spaniens Innenminister nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt in Berlin behauptet, das, was in Berlin passiert ist, könne in Spanien nicht geschehen. Er führte an, dass die Polizeikoordination in Spanien extrem sei.

Bereits im Juni wies El Pais jedoch auch darauf hin, dass die internationale der Dschihadisten das Land vor allem nutzt, um Söldner für den Bürgerkrieg in Syrien und anderen Ländern zu rekrutieren. Und dies, so El Pais, sei auch schon das Problem vor den Anschlägen von Madrid im Jahr 2004 gewesen. Der damalige Al Kaida-Chef auf der Halbinsel, Imad Eddin Barakat, bekannt als Abu Dahdah, brachte die rekrutierten Jugendlichen zum Madrider Flughafen. Von dort gingen sie in den Dschihad in Bosnien, Tschetschenien oder Afghanistan.

Damit nicht genug: Auf dem Rückweg nahm Abu Dahdah die verwundeten Kämpfer entgegen und brachte sie in staatlich finanzierte Krankenhäuser in Spanien. Der Spanier mit syrischen Wurzeln „hütete seine Herde mit völliger Immunität“, so El Pais.

Obwohl seitdem die Überwachung massiv zugenommen hat, blieb Spanien ein wichtiger Ruheraum für die Internationale der Dschihadisten. Alleine in Madrid, Barcelona, Ceuta und Melilla kennen die spanischen Sicherheitsbehörden insgesamt 150 Kämpfer, die aus Syrien zurückgekommen sind. Allerdings glaubten die Behörden offensichtlich, dass sie diese Gruppen unter Kontrolle haben. Seit Spanien im Juni 2015 seine Terrorismus-Warnstufe angehoben hat, wurden mehr als 700 Personen wegen Verdachts auf extremistische Aktivitäten kurzzeitig verhaftet, davon blieben 200 inhaftiert.

Seitdem die türkische Regierung jedoch im vergangenen Jahr nach internationalem Druck die wichtigste Transit-Route auf dem Landweg nach Syrien besser kontrollierte, bekamen ausgerechnet Marokko und Spanien eine wichtige Funktion: Von beiden Ländern aus lässt sich Syrien direkt über das Mittelmeer erreichen. Alleine aus dem Königreich Marokko, einem der engsten US-Verbündeten in der Region, sollen über 1.000 junge Männer in Syrien kämpfen.

Im vergangenen Jahr gingen Geheimdienste davon aus, dass noch zwischen 15.000 und 25.000 ausländische Söldner für den IS kämpfen. Davon stammen mindestens 5.000 aus Europa. Laut einer besonderen Beobachtungsgruppe für „Foreign Fighters“ in Den Haag sind inzwischen etwa 30 Prozent von ihnen zurück in ihre Heimatländer gegangen. Spanien stellt darunter zwar einen relativ geringen Anteil. Laut spanischem Innenminister kämpfen etwa 200 Spanier in Syrien. Aber von der Halbinsel gelangten immer wieder große Mengen an Logistik und Waffen über das Mittelmeer nach Syrien.

Gerade erst im Januar hob die spanische Polizei ein gigantisches Waffenlager aus, das über Belgien und Frankreich an „terroristische Gruppen“ verkauft werden sollte. Während Spanien für Al Kaida und andere Gruppen hauptsächlich einen Rückzugsraum darstellte, rief der IS in den vergangenen Monaten immer wieder zu Anschlägen auf der Halbinsel auf. Der „Islamische Staat“ betrachtet „Al Andalus“, wie die Region unter maurischer Herrschaft bis zum Jahr 1492 genannt wurde, als Austragungsort seines Heiligen Krieges.

Im Jahr 2016 nahmen in den Dschihadisten-Netzwerken die Aufrufe zu, Städte wie Toledo, Córdoba und Sevilla zu „befreien“. Der IS begann, seine Pamphlete ins Spanische zu übersetzen. Trotz dieser offensichtlichen Gefährdungslage behauptet der spanische Innenminister, dass er den Imam Abdelbaki Es Satty und andere Mitglieder aus der Terrorgruppe nicht auf einer Beobachtungsliste hatte. Allerdings leitete Juan Ignacio Zoido diese Behauptung gegenüber den Medien immer wieder mit dem Disclaimer ein: „Nach meinem heutigen Wissensstand…“.

Informationskrieg auf Spanisch

Angesichts der zahllosen Details, die in den vergangen Wochen an die Öffentlichkeit gelangten, und in offenem Widerspruch zu vorherigen Verlautbarungen aus Madrid stehen, kann man sicher davon ausgehen, dass dieses Fass noch nicht geschlossen ist. Nachdem es zunächst hieß, dass die Jugendlichen aus Ripoll sich vollkommen unbemerkt radikalisiert hatten, tauchten schnell Facebook-Posts auf, die das Gegenteil bewiesen.

So präsentierte die in Geheimdienstkreisen gut vernetzte britische Zeitung Daily Mail umgehend einen älteren Post auf der Social-Media-Plattform Kiwi, in dem Moussa Oukabir öffentlich drohte, er werde Ungläubige töten. Sein älterer Bruder befindet sich unter den Verhafteten, welche die katalanischen Behörden immer noch festhalten. Vor allem ist jedoch inzwischen klar, dass der Gründer der Zelle, Abdelbaki Es Satty, seit mehr als 13 Jahren äußerst aktiv innerhalb der spanischen Dschihadisten-Szene ist, ohne dass die Behörden in jemals belangten. Und das, obwohl sie ihn bereits mehrmals hätten abschieben können.

Der bekannte Jurist José María Ruiz Soroa fragt inzwischen im Leitartikel von El Pais, warum die katalanische Regionalpolizei diese Vorgänge nicht kannte. Durfte die spanische Polizei sie ihnen nicht mitteilen? Fast täglich kommen inzwischen neue Details ans Licht, etwa dass Abdelbaki Es Satty regelmäßig Kontakte zu einschlägig bekannten Islamisten in Marokko, Belgien, Frankreich sowie der Schweiz unterhielt.

„Die Fragen türmen sich auf, kurz gesagt, für eine Untersuchung, die viele andere Untersuchungen anstoßen kann und sollte. Ich fordere alle auf, sich zusammenzuschließen, um eine Analyse durchzuführen, die darauf angelegt ist, den kommenden Bedrohungen effektiver zu begegnen. Sie werden kommen.“

Klar ist bereits jetzt, dass die gesamte Debatte in Spanien überlagert wird von der kommenden Abstimmung über die katalanische Unabhängigkeit am 1. Oktober. Gegen den erklärten Willen Madrids verabschiedete das katalanische Parlament ein Gesetz, das den Weg für ein Unabhängigkeitsreferendum der spanischen Region ebnen soll. Laut Umfragen wird es allerdings eine knappe Abstimmung. In dieser Situation benutzten beide Seiten jedes nur mögliche Detail, um der gegnerischen Seite zu schaden. Nach den Veröffentlichungen über die angebliche CIA-Warnung spricht die katalanische Regionalregierung inzwischen von einer «Operation zur Diskreditierung» Kataloniens.

Die Mossos d’Esquadra haben allerdings den entscheidenden Vorteil, dass sie in den Trümmern des Terrorquartiers in Alcanar zahlreiche Papiere und Reiseunterlagen fanden, welche die zuständigen Behörden in Madrid sehr zweifelhaft aussehen lassen. So hielten sich Abdelbaki Es Satty mit mehreren Mitgliedern der Zelle unmittelbar vor dem Anschlag von Barcelona in einem Hotel bei Paris auf. Nach Frankreich und in die Schweiz reiste der bekannte Dschihadist mit dem Flugzeug. Im Dezember 2016 habe er in einem Hotel im Raum Zürich übernachtet, heißt es bei den Ermittlern.

Mit Mohamed Houli Chemlal hat die katalanische Polizei zudem einen Überlebenden inhaftiert. Nach seinen Aussagen gehen die Ermittler inzwischen davon aus, dass Abdelbaki Es Satty nicht einmal die Absicht hatte, sich gemeinsam mit den Jugendlichen in die Luft zu sprengen. Laut Chemlal habe Es Satty auf die Frage, warum für ihn keine Selbstmord-Weste angefertigt werde, geantwortet, er wolle sich vor der Kathedrale La Sagrada Familia selbst verbrennen.

Nachdem Spaniens Innenminister Juan Ignacio Zoido den Rekrutierer und Dschihadisten Abdelbaki Es Satty gute 13 Jahre nicht kannte — nach seinem heutigen Wissenstand — legt er nun öffentlich Tempo vor. In der Enklave Melilla nahm die spanische Polizei gestern einen IS-Rekrutierer fest, der angeblich in einem Jugendzentrum für Migranten Dschihadisten anwarb. Zusammen mit fünf weiteren Verdächtigen habe der Verdächtige „große Anschläge“ geplant, so Innenminister Zoido heute vor der Presse.

 

Quelle: RT