von Pierre Levy
Da stand er, als sei er der Nachfolger des Perikles – einer der berühmtesten Staatsmänner des alten Athens. Von dort oben, auf dem Hügel der Pnyx aus, hat Emmanuel Macron am 7. September anlässlich seiner Eröffnungsrede beim Staatsbesuch in Griechenland dazu aufgerufen, „Europa neu zu gründen“. Und er hat das Land wieder verlassen, nachdem ihm das Großkreuz des Erlöser-Ordens verliehen worden ist, was ihn in seiner natürlichen Bescheidenheit schrecklich gekränkt haben muss.
Der französische Präsident ließ es sich nicht nehmen, sich über das Schicksal zu empören, das dem griechischen Volk bei der Eurokrise vorbehalten war:
„Wir haben (…) viele Fehler begangen, die auf Lügen basierten (…). Doch wen hat man dafür zahlen lassen? Die verantwortlichen Politiker, die gelogen hatten? Nein, das Volk, das die Lügen geglaubt hatte.“
Der ehemalige französische Wirtschaftsminister präzisierte dabei nicht, wer mit diesem „wir“, diesem „man“ gemeint war, aber vermutlich plädiert er persönlich dabei auf nicht schuldig.
Er hat seine Rede vor einer ausgewählten Runde geladener Gäste gehalten. Man kann ja nie wissen, vielleicht hätte ein Arbeiter aus dem privatisierten Hafen von Piräus oder ein Arbeitsloser seinen Anfall von Mitgefühl weniger geschätzt. Sein Kernpublikum, das war in der Tat die Jugend (in die er sich gern einreiht): „Unsere Generation“, so drückte er es aus, „kann wählen, Europa heute neu zu gründen.“ Angela Merkel, 63 Jahre alt und auf dem besten Weg, ein viertes Mandat an der Spitze Deutschlands zu gewinnen, wird die Galanterie zu schätzen wissen.
Demut ist nicht nur eine persönliche Qualität des ehemaligen Bankiers von Rothschild. So hat er bescheiden von sich gegeben, dass
Europa einer der letzten Orte ist, an denen wir weiterhin alle eine bestimmte Vorstellung von Humanität, Recht, Freiheit und Gerechtigkeit nähren,
um ein wenig später zu preisen, „dieses Europa (…) das ein harmonisches Zusammenleben und eine Höflichkeit kennt, die nirgendwo sonst existiert; und sein Publikum wiederum zu fragen:
Gibt es einen anderen Kontinent, auf dem man der Freiheit, der Demokratie, dem sozialen Gleichgewicht, die uns vereint halten, so verbunden ist?
Niemand weiß, wie diese Geistesblitze in Montreal, Dakar oder Tokio aufgenommen worden sind. Doch die eigentliche Idee, die der französische Präsident an dem Abend hoch oben von seinem Hügel über Athen eindringlich vermitteln wollte, war die Eroberung der „europäischen Souveränität“. Der Begriff „Souveränität“ kommt in seinem Text nicht weniger als 33 Mal vor. Aber für Emmanuel Macron sind unsere „einfachen Nationalstaaten“ mittlerweile zu klein, um in puncto Souveränität Ansprüche stellen zu können.
Um nach einer „europäischen Souveränität“ zu streben, bedarf es einer absichtlichen politisch-linguistischen Täuschung. Der Ausdruck ist nämlich in Wirklichkeit ein Oxymoron; eines dieser Stilmittel, das zwei sich gegenseitig ausschließende Begriffe zu einer rhetorischen Figur vereint (das trockene Wasser, die leuchtende Dunkelheit).
Denn ein Volk hat nur dann die Kapazität, kollektiv zu entscheiden, wenn auch ein Volk existiert. Doch ein europäisches Volk gibt es nicht. Und was immer er auch sagt, Emmanuel Macron weiß das sehr wohl. Er gibt es in seiner Ansprache sogar offen zu, als er einräumt:
Wir können gar nicht genug dafür kämpfen, dass die Europäer sich (…) dieses gemeinsamen Grundsteins bewusst werden.
Damit beklagt er, dass die Betroffenen – die Italiener, die Deutschen, die Franzosen, die Spanier, von den Slowenen reden wir erst gar nicht – oder den Engländern – eine zum Verzweifeln bringende Unlust an den Tag legen, zu einem einzigen Volk zu verschmelzen (im politischen Sinne). Also schlägt der französische Präsident vor, in der ersten Hälfte des Jahres 2018 demokratische Diskussionsforen zu organisieren, „in denen sich unsere Völker überall in unseren Ländern die Zeit nehmen, über das Europa zu diskutieren, das sie wollen.“ Denn er möchte nicht akzeptieren, dass sie gar keines wollen.
Dieses Beharren beruht jedoch darauf, dass sich die herrschenden Klassen einer Tatsache besorgt bewusst werden:
2005 ist ein Schlussstrich gezogen und ein neues Kapitel begonnen worden, und wir haben das gar nicht sofort realisiert.
Damit ist das ausdrückliche Nein der Franzosen und Niederländer zum Entwurf der europäischen Verfassung gemeint, ebenso wie die Entscheidung des britischen Volkes, die EU zu verlassen. Emmanuel Macrons Schlussfolgerung daraus heißt: Wir brauchen ein anderes Europa. Das Problem ist nur, dass diese These, der die politische Klasse weitestgehend zustimmt, alles andere als neu ist. Einige Wochen vor dem französischen Referendum rief ein gewisser Nicolas Sarkozy im Mai 2005 dazu auf, mit Ja zu stimmen, um Europa zu verändern.
Emmanuel Macron glaubt sicherlich an sein jupiterhaftes Schicksal. Aber indem er versucht, das Konzept der Souveränität zu verfremden, gibt er unfreiwilligerweise zu, dass viele europäische Völker ihm auf nationaler Ebene stark verbunden bleiben. Das Großkreuz des Erlöser-Ordens wird also wirklich nicht zu viel für ihn sein, um „Europa zu erlösen“.
Quelle: RT