
von Malte Daniljuk
Es ist einer dieser typischen Tage mit Spiegel-Online. Das Portal berichtet über eine Explosion in Russland. Die Autoren titeln zunächst, dass ein Hubschrauber während der Militärübung Zapad eine Rakete auf Zuschauer abgeschossen habe. Das stellt sich als falsch heraus. Im Laufe des Tages ändert die Redaktion den Beitrag mehrmals. Am Ende heißt es nur noch: «Rätselhafter Vorfall in Russland: Ein Raketeneinschlag aus dem Nichts».
Überhaupt, das Militärmanöver Zapad…: Mehr als 100.000 Soldaten würden dort trainieren, verbreiteten zahlreiche deutsche Medien wochenlang. Selbst die deutsche Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen verwendete die Zahl. Offensichtlich hatte sie Presseangaben übernommen, anstatt sich vom Militärischen Abschirmdienst (MAD) genauer informieren zu lassen. In Wahrheit nehmen nicht einmal 13.000 Soldaten an der Übung teil. Die meisten davon stammen aus Weißrussland. Weniger als 4.000 russische Soldaten trainieren zusammen mit den Truppen des Nachbarlandes.
Mediennutzer sind inzwischen daran gewöhnt, täglich Ungenauigkeiten, Ungereimtheiten oder schlichte Falschnachrichten vorgesetzt zu bekommen, nicht nur, wenn es um Russland geht. Glaubt man den Ergebnissen einer Untersuchung von Vice-Deutschland, stimmt dieser Eindruck jedoch gar nicht immer. Redakteure des Online-Magazins, das auch unter dem Namen Motherboard veröffentlicht, haben „tausende Facebook-Posts“ untersucht. Dabei soll herausgekommen sein: 100 Prozent der Spiegel-Online-Meldungen entsprechen der Wahrheit.
Aber nicht nur das: Auch bei ihrer eigenen Redaktion (92 Prozent) und sogar bei BILD (89 Prozent) ist eigentlich fast alles faktisch richtig, was diese Medien über Facebook verbreiten. Das Publikum mag sich nun erstaunt die Augen reiben. Es erscheint doch etwas verdächtig, dass ausgerechnet das durchführende Medium selbst so toll abschneidet. Und dann auch noch die Bild-Zeitung, die auch in diesem Jahr wieder die meisten Rügen durch den Presserat einsammelte.
Richtig: Auch Menschen, die professionell wissenschaftliche Inhaltsanalysen durchführen, werden es noch nicht erlebt haben, dass genau 100 Prozent einer Stichprobe einer bestimmten Kategorie entsprechen. Wenn dieser Fall eintritt, sollte das bedeuten: Irgendetwas stimmt mit dieser Untersuchung nicht — entweder ist die Stichprobe falsch gezogen, oder die Kategorien zur Untersuchung sind falsch gewählt, oder die Kodierer haben etwas falsch gemacht.
Ein schneller Blick auf Vice-Deutschland macht klar, dass schon die Kategorien etwas schwierig gewählt sind. Die Veröffentlichungen von Vice-Deutschland scheinen von Redakteuren hergestellt zu werden, die ihrer Pubertät einfach nicht entwachsen wollen. Fakten interessieren hier weniger, es geht viel um Lifestyle. Generell tut sich das Portal schwer mit dem Thema Politik. Mit Vorliebe veröffentlicht die Redaktion Beiträge wie «Ratschläge für schön feuchte Blowjobs und das Leben im Allgemeinen».
Natürlich ist es schwierig, derartige Beiträge unter Kategorien wie «richtig», «falsch» und «naja» einzuordnen. Theresa Locker, ihres Zeichens «Senior Editor» bei der Unterseite Motherboard, hat die Untersuchung nicht nur geleitet, sondern anscheinend auch selbst bei der «Bewertung» geholfen. Eigentlich sollte eine Inhaltsanalyse natürlich von unabhängigen Kodierern durchgeführt werden, um — nun ja — zu verhindern, dass eine allzu subjektive Sicht einfließt. Aber dass ein «Senior Editor» seinem eigenen Medium bescheinigt, es würde zu 92 Prozent «richtig» berichten, das hat schon einigen Unterhaltungswert.
Bleibt die Stichprobe: Das Vice-Magazin beschäftigte sich gar nicht mit den redaktionellen Beiträgen, sondern mit Facebook-Posts. Die haben zumeist zwar lediglich die Funktion, auf einem redaktionellen Artikel hinzuweisen, aber sie bestehen normalerweise nur aus dem Titel und Untertitel des eigentlichen Berichts. Von diesen Postings haben sich Vice-Mitarbeiter angeblich sämtliche Veröffentlichungen in der letzten Novemberwoche des Jahres 2016 angeschaut, das machte 1.905 Posts. Ob sich daraus irgendeine ernsthafte Aussage über die Qualität eines Mediums ableiten lässt, darf sicher bezweifelt werden.
Diese so genannte Untersuchung, das Vice-Personal spricht von «Verifikation», wäre natürlich nicht weiter erwähnenswert, wenn sie reine Selbstvermarktung darstellen würde. Aber Vice-Deutschland will herausgefunden haben, dass beinahe die Hälfte aller RT Deutsch-Meldungen «falsch» oder «naja» sind. WOW! Die Kollegen bescheinigen uns «die wohl ausgefeilteste Social-Media-Strategie». Aber alles nur «tendenziös», «überzogen» und «verleumdend».
Jeden vierten Post von RT Deutsch bezeichnen Theresa Locker und ihr Team als «falsch», weitere 16 Prozent als «naja». Eine deprimierende Bilanz, wenn das Ergebnis nicht von Vice-Deutschland käme. Vor der Veröffentlichung schickte die autodidaktische Untersuchungsgruppe uns zum Glück drei Beispiele für angeblich falsche Meldungen. Ein weiteres Posting fiele für Vice unter «naja». Insgesamt will Vice-Deutschland 250 Facebook-Posts bewertet haben.
Weshalb in diesem Fall bereits das Wort «Bewertung» irreführend ist, zeigen 75 Prozent der von Vice als «falsch» oder «irreführend» angeführten Beispiele für Posts von RT Deutsch.
«Entscheidet die EU künftig über die Meinungsbildung ihrer Bürger?», fragt etwa unsere Autorin Olga Banach in einem Meinungsbeitrag über eine Resolution im EU-Parlament, die Maßnahmen gegen die angebliche russische Propaganda vorsieht. Was an dem Titel und dem Untertitel, also dem Facebook-Post, «falsch» sein soll, wird wohl ewig ein Geheimnis von Theresa Locker und ihrem Team bleiben. Unzweifelhaft fand die Abstimmung statt.
Gegenüber RT Deutsch mokierte sich die Frau «Senior Editor» darüber, dass der «Beitrag» nicht als Meinungsbeitrag zu erkennen sei. Allerdings enthalten Titel und Untertitel, wie sie im Post abgebildet sind, auch kaum einen Meingungsanteil. Egal: Theresa Locker bewertet ihn als «falsch».
«Falsch» ist nach Ansicht des Vice-Teams auch die Aussage, dass deutsche Steuerzahler Clinton finanzieren. Zwar ist es gut dokumentiert, dass die Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) gut 2,4 Millionen Euro Steuermittel an die private Clinton-Stiftung überwies. Aber das Vice-Team mahnt an, dass «Steuerzahler nicht Clintons Wahlkampf» finanzierten, sondern ein gemeinsames Entwicklungshilfeprojekt in Malawi.
Allerdings behauptet unser Post auch gar nicht, dass das Geld in den «Wahlkampf» fließt. Das Wort kommt weder im Titel noch dem Untertitel vor. Insofern widerlegen Locker und ihre Team eine Behauptung, die im Post gar nicht aufgestellt wurde. Im Artikel hingegen, den das Vice-Team angeblich nicht analysierte, wird ausführlich auf den schmalen Grat zwischen Entwicklungshilfe und persönlichem Wahlkampf eingegangen.
Noch kurioser ist das Beispiel für eine Einstufung als «naja», was nach Vice-Redaktion gleichbedeutend ist mit «irreführend». Vice stößt sich daran, dass ein Bericht über die #Pizzagate-Debatte die «Spekulationen nährt», dass in Washington ein Pädophilenring im Clinton-Umfeld aktiv ist. Zwar verwendet der Bericht bereits im Untertitel das Wort «Spekulation» und achtet sorgfältig darauf, zwischen gesicherten, überlieferten und unsicheren Informationen zu unterschieden. Aber Theresa Locker empfand das wohl trotzdem als «irreführend».
Um zum vierten Beispiel zu kommen: Als exklusiven Facebook-Inhalt veröffentlicht RT Deutsch gelegentlich gestaltete Grafiken (CG). Im beanstandeten Fall unterlegte unsere Grafikerin ein Zitat aus dem fiktionalen Snowden-Film von Oliver Stone mit einem Bild des echten Eduard Snowden, seinem Namen und einem Hinweis: «Quelle: Snowden von Oliver Stone». Das kann — zugegebenermaßen — irritierend wirken, das könnte eine Einstufung als «naja» durchaus rechtfertigen. Für Vice-Deutschland gilt es jedoch als «falsch». Wieso ein Zitat, dessen Quelle genannt ist, allerdings «falsch» sein soll, das entzieht sich jeder weiteren Bewertung.
Wenn wir diese Ergebnisse hochrechnen, dass nämlich drei von vier beanstandeten Beiträgen in Wahrheit völlig in Ordnung sind, bleiben von den angeblich 42 Prozent falscher und irreführender Nachrichten bestenfalls zehn Prozent übrig. Natürlich nur, wenn das Snowden-CG als «falsch» eingestuft wird. Wer es hingegen als «richtig» einstuft, muss schlussfolgern, dass 100 Prozent der RT-Deutsch-Beiträge in Ordnung sind. Allerdings ist diese Rechnung genauso schwachsinnig wie der gesamte Fantasie-Index von Theresa Locker und dem Vice-Team.
Bleibt natürlich die Frage, warum Vice-Deutschland ausgerechnet Spiegel-Online und der Bild-Zeitung bescheinigt, fast immer korrekt zu berichten. Die Antwort lautet, dass Vice, Spiegel und Bild bei zahlreichen Projekten eng kooperieren. So treten Bild, Spiegel-Online und Vice-Deutschland etwa zusammen als «Launch-Partner» für «Snapchat Discover» auf. Seit August darf sich Vice sogar bei «unseren Freunden beim Spiegel» auf Spiegel-TV austoben, berichtet Vice.
Aber solche komplexen Zusammenhänge muss man ja nicht erwähnen. Auch nicht, wenn man als braver Medienkritiker wie Stefan Niggemeier auf Vice diese Fake-Untersuchung adeln darf, indem man ein wenig über Fake-News plaudert. Das RT-Deutsch-Team freut sich unterdessen darüber, dass wir im August bei 10.000 Flies auf den 11. Platz im deutschen Social-Media-Ranking kamen. Gegenüber dem Vormonat waren unsere «Likes» und «Shares» um 87 Prozent gestiegen. Allen anderen empfehlen wir, weiter das Vice-Magazin zu lesen. Es veröffentlichte gerade einen heißen Bericht über «11 Wege, Nippel auf Instagram zu posten».
Quelle: RT