Spanien erlebt die wohl größte politische Krise der neuesten Geschichte: Die Behörden der autonomen Gemeinschaft Katalonien treffen die letzten Vorbereitungen für das Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober, schreibt die Zeitung «Kommersant» am Freitag.
Die Ergebnisse des Volksentscheids lassen sich kaum vorhersagen. Und mehr als das: Es ist immer noch nicht ganz klar, ob er überhaupt stattfindet, denn das spanische Verfassungsgericht erkannte ihn als verfassungswidrig an.
Professor Salvador Roura von der Technologischen Universität Barcelona sagte gegenüber der Zeitung, dass gebürtige Katalanen großenteils für die Trennung von Spanien eintreten, während „innere Migranten“ aus anderen Regionen Spaniens die territoriale Integrität des Königreichs befürworten.
„Sie sind einst hierher gekommen, weil sie dachten, sie würden hier große Möglichkeiten haben. Und jetzt treffen sie ihre Entscheidung, indem sie nicht von rationalen Argumenten, sondern von ihren Gefühlen ausgehen. Aus wirtschaftlichen Gründen wäre der Austritt (aus Spanien) nützlich für Katalonien, denn sein Beitrag zum spanischen BIP ist äußerst groß. Die aktuelle Situation ist unfair: Spanien nimmt unsere Mittel und verspricht uns vieles, aber nicht einmal die Hälfte davon wird tatsächlich getan“, so der Professor.
Diplomatische Quellen in Madrid behaupten ihrerseits, dass Katalonien die größten Zuschüsse aus dem nationalen Haushalt unter allen autonomen Gemeinschaften bekomme. „Beispielsweise ist das die einzige Autonomie, deren vier größte Städte durch Bahnlinien für Hochgeschwindigkeitszüge miteinander verbunden sind“, so ein Insider. Der Bau solcher Bahnstrecken wird traditionell aus dem spanischen Haushalt finanziert.
„Außerdem hat Katalonien das größte Autobahnnetz. Beträchtliche Haushaltsmittel wurden auch für die Modernisierung des Flughafens El Prat in Barcelona ausgegeben.“ Nach seinen Worten rufen die Ereignisse in Katalonien große Besorgnisse in der Wirtschaftswelt hervor. „Nach einigen Angaben haben seit 2012 etwa 2300 Unternehmen Katalonien verlassen. Und laut dem Wirtschaftsministerium würde das katalanische BIP im Falle des Austritts aus Spanien um 25 bis 30 Prozent schrumpfen.“
Der Leiter der Abteilung für internationale Kontakte in der Stadtverwaltung Barcelonas, Xavier Mayo Torres, versicherte allerdings, dass die Behörden „bei jeder Entwicklung der Situation weiterhin zugunsten der Stadt arbeiten würden“.
„Barcelona hat viele Aktiva, es ist attraktiv für internationale Unternehmen und für Investitionen, und wir werden unser Bestes tun, damit dies auch weiter so bleibt. Ausländische Unternehmen, die Projekte in Barcelona haben, brauchen sich keine Sorgen zu machen“, beteuerte er und zeigte sich überzeugt, dass Barcelona weiterhin „eine Stadt für Menschen mit verschiedenen Meinungen und Möglichkeiten bleiben“ werde und dass die aktuelle Situation friedlich geregelt werde.
Inzwischen aber entwickelt sie sich eher beunruhigend. Beträchtliche Kräfte der Zivilgarde wurden nach Katalonien verlegt. Die Rechtsschutzorgane konfiszieren Agitationsflugzettel und Stimmzettel, suchen nach versteckten Wahlurnen, sperren Websites der Separatisten und verhören katalanische Politiker und Aktivisten.
„Der spanische Staat hat de jure die Autonomie Kataloniens außer Kraft gesetzt und den Ausnahmezustand verhängt“, sagte unlängst der katalanische Ministerpräsident Carles Puigdemont. Der spanische Botschafter in Russland, Ignacio Ybaňez Rubio, parierte allerdings in einem Pressegespräch: „Die Polizei erfüllt die Verordnungen der Gerichte und tut ihr Bestes, um Verbrechen zu verhindern. Da kommen politische Repressalien keineswegs infrage.“
Die von Puigdemont erwähnte Aufhebung der Autonomie ist allerdings nicht ausgeschlossen, denn die spanische Verfassung sieht eine provisorische Einführung der Direktverwaltung aus Madrid vor. Aber aktuell wäre so etwas nicht nötig, behaupten Quellen in der Hauptstadt. „So etwas würde nur den Kräften in Katalonien ins Konzept passen, die schreien, man würde ihnen ihre Vollmachten wegnehmen. So stellt sich die Frage nicht. Sie stellt sich wie folgt: Diejenigen, die verfassungswidrig handeln, sollten sich dafür vor Gericht verantworten.“
Es ist offensichtlich, dass die Ereignisse in Katalonien nicht nur für Spanien, sondern für die ganze Europäische Union wichtig sind. Der katalanische Außenminister Raül Romeva forderte jüngst die UN-Kommission und das EU-Parlament auf, in die Situation einzugreifen – „wegen einer ernsthaften Verletzung demokratischer Normen durch Madrid“.
Aber die EU will sich vorerst nicht einmischen. Brüssel gab zudem deutlich zu verstehen, dass Katalonien im Falle seines Austritts aus Spanien lange warten müsste, bis es in die Union aufgenommen werde.
Quelle: Sputnik