Wladimir Putin kam als größter Europäer des Landes in den Kreml, wurde jedoch vom Westen in seinen Erwartungen betrogen. Ist es noch möglich, die Barrieren zu überwinden? Igor Jurgens, Chef des Moskauer Instituts für moderne Entwicklung (Insor), analysiert die Beziehungen Russlands zum Westen.
Gegenseitige Ansprüche und die zunehmende Vertrauenskrise belasten die ohnehin schwierigen Beziehungen zwischen Russland und dem Westen. Igor Jurgens, der bis 2012 Wirtschaftsberater des damaligen Präsidenten Dmitri Medwedew war, sprach bei einer Diskussion in Moskau zum Thema „Deutschland nach und Russland vor der Wahl. Neue Chancen für die bilateralen Beziehungen“. Der Autor zahlreicher wissenschaftlicher Artikel und Monographien, der für seine liberalen Positionen bekannt ist, sucht Ursachen in der Geschichte.
„Wladimir Putin kam als größter Europäer des Landes in den Kreml. 2002 begleitete ich ihn nach Brüssel, als noch nie dagewesene Dokumente unterzeichnet wurden. Der ehemalige Nato-Generalsekretär George Robertson erzählte von seinem persönlichen Gespräch mit Putin über einen Beitritt Russlands zur Nato. Nach den Anschlägen vom 11. September kam der erste Anruf an Bush von Putin: ‚Bitte fliegen Sie über mein Territorium, wir stellen unseren Boden für eure Basen zur Verfügung‘. Damals verwendete man Personenzüge für den Transport von US-Militärgütern von der Ostsee bis zur Südgrenze Russlands zu Usbekistan, und das dauerte sieben Jahre lang. Die strategische Basis Cam Ranh in Vietnam wurde in gegenseitigem Einvernehmen geschlossen ̵ in der Hoffnung, dass die Infrastruktur der Nato nicht an die russischen Grenzen heranrücken wird. Es wurde kein Dokument unterzeichnet, aber man gab ein Versprechen. Die kubanische Basis, von der aus das gesamte Gebiet der Vereinigten Staaten von den russischen Geheimdiensten abgehört wurde, wurde ebenfalls in Erwartung einer Gegenbewegung geschlossen. Keine Gegenbewegung ist eingetreten ̵ nur ein Klopfen auf die Schulter.“
In dieser Situation, so Jurgens, sprach Präsident Putin im Jahr 2007 auf der Münchner Konferenz und forderte den Westen auf, Russland ernst zu nehmen. Jurgens war ein Augenzeuge der Vorbereitungen auf den Nato-Gipfel 2010. Das konservative Establishment war gegen den Besuch des russischen Präsidenten. Es gelang aber, die Situation umzukehren, und Putin ging nach Lissabon. Vieles wurde vereinbart. Die Beziehungen schienen sich zu verbessern.
„Im Jahr 2011 gab es 600 gemeinsame militärische Veranstaltungen von Russland und der Nato. Die Entscheidung über ein gemeinsames Raketenabwehrsystem wurde beinahe getroffen. Dann sagten polnische Kollegen (nicht ohne US-Zustimmung), dass es so etwas in Warschau nicht geben könne, weil sich russische Offiziere dort nicht länger als zwei Tage aufhalten dürfen. Es ist klar, dass es eine Ausrede war. Putin wartete. Aber nach Libyen, wo wir einfach getäuscht wurden, sowie nach anderen Ereignissen im Nahen Osten und dem Magnitski-Gesetz fand eine Wende statt.“
Und selbst danach gab Russland nicht seine Versuche auf, die Beziehungen zu verbessern. Als Präsident Obama verkündete, dass die roten Linien überschritten worden seien, schlug Putin vor, gemeinsam chemische Waffen zu vernichten, und hoffte dabei auf einen Dialog. In Russland sind diese Waffen zerstört, man reichte die Hand, aber die Hand wurde gebissen. Der Westen verhängte weitere Sanktionen gegen Russland. Dem Experten zufolge seien sehr harte Sanktionen zu erwarten. Aber Russland sei zu groß und wichtig, um Risiken einzugehen: Extreme Druckmaßnahmen könnten extreme Gegenmaßnahmen hervorrufen.
„Was soll ein starker Staatschef mit Unterstützung von mindestens 80 Prozent der Bevölkerung tun, der nicht nur ein politischer, sondern auch ein nationaler Führer geworden ist? Ein neues Kapitel ist nicht aufgeschlagen. Es gab eine quasi-naive Erwartung von Trump. Aber es war naiv zu denken, dass amerikanische Institutionen mit Trumps Angebot nicht fertig werden könnten. Allerdings gibt es ein Angebot ̵ für Friedenstruppen in der Ukraine. Mal sehen, wie es genutzt wird.“
Als Putin ein Konzept für UN-Friedenstruppen in der Ukraine vorbrachte, sei er dem Westen offenbar entgegengekommen, so Jurgens. Der Westen begegnete dem Angebot jedoch mit Feindseligkeit. Angeblich seien das nicht die richtigen Friedenstruppen, sondern die von Putin kontrollierten Weißrussen, verkleidet als OSZE- oder UNO-Mitarbeiter.
„Wenn man auf den Aufruf zu einem Dialog ständig in dieser Weise reagiert, wird Russland strategische Geduld zeigen, und dann wird eine Umorientierung nach China stattfinden. Das ist nicht die Situation, in der Russland erwürgt werden kann, wie einige westliche Strategen behaupten. Heute ist es unsere Aufgabe, eine Aufgabe derjenigen, die die Entspannung der Lage, die Putin-Schröder-Flitterwochen und die Russland-EU-Flitterwochen verstehen und sich daran erinnern, zu sagen: Hört auf, Angst zu erzeugen! Lasst uns Beziehungen aufbauen. Und das sind absolute Bedingungen für eine positive Entwicklung Russlands.“
Heute fragt man sich, welche Fehler dazu geführt haben, dass das Vertrauen verlorengegangen ist. Auf dem Waldai-Forum beantwortete Putin eine ähnliche Frage einer deutschen Journalistin:
„Unser Fehler besteht darin, dass wir dem Westen zu viel Vertrauen geschenkt haben. Und der Fehler des Westens besteht darin, dass er dieses Vertrauen als Schwäche genommen und missbraucht hat. Wir müssen eine neue Seite aufschlagen und weitergehen und unsere Beziehungen auf gegenseitigem Respekt aufbauen“, so der Präsident.
Quelle: Sputnik