Falls es tatsächlich zu einem Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und den selbsternannten „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk kommt, könnte das de facto zum Start einer neuen Wahlkampagne in der Ukraine werden, schreibt die Zeitung „Nesawissimaja Gaseta“ am Freitag.
Die Anhänger und Gegner von Präsident Petro Poroschenko beobachten die Rolle, die dabei der Führer der Gesellschaftsbewegung „Ukrainische Wahl – Recht des Volkes“, Viktor Medwedtschuk, spielt. Experten glauben nicht, dass er am Wahlkampf teilnehmen wird, aber er könnte die Wahl der Ukrainer am Ende des Tages mitprägen.
Am Donnerstag wollte die Werchowna Rada (ukrainisches Parlament) einen Gesetzentwurf zu Kiews Politik gegenüber den „provisorisch okkupierten Territorien“ in den Gebieten Donezk und Lugansk in zweiter und dritter Lesung verabschieden. Aber am Mittwoch beschloss der Ausschuss für nationale Sicherheit und Verteidigung, die Abstimmung auf Dezember zu verschieben. Als formeller Grund wurde die Notwendigkeit zur Abstimmung der Position in mehreren Punkten angegeben.
Etwas konnten die Gesetzgeber auf der Stelle absprechen: Unter anderem wurde beschlossen, den Punkt über die Unterbrechung der diplomatischen Beziehungen mit Russland zu streichen. Außerdem werden in dem Dokument die Minsker Vereinbarungen nicht mehr erwähnt.
Dass die Behandlung des umstrittenen Gesetzentwurfs verlegt wurde, führt man in Kiew auf die jüngsten Fortschritte bei den Verhandlungen über den Gefangenenaustausch zwischen Kiew auf der einen Seite und Donezk und Lugansk auf der anderen zurück. Bekanntlich hatte Medwedtschuk vor einigen Tagen den russischen Präsidenten Wladimir Putin um Hilfe bei der Organisation des Austauschs gebeten.
„Wir haben zwar keine Möglichkeit, die nicht anerkannten Republiken irgendwie unter Druck zu setzen oder ihnen Aufträge zu geben, denn das sind Republiken, die ihr eigenes Leben leben“, sagte Putins Sprecher Dmitri Peskow. „Aber unser Präsident machte nie ein Hehl daraus, dass er die Möglichkeit hat, die Führung dieser Republiken zu etwas aufzurufen.“
Der Gefangenenaustausch war vor mehr als einem Jahr unterbrochen worden – wegen zahlreicher Kontroversen zwischen Kiew und den beiden abtrünnigen „Republiken“. Medwedtschuk erinnerte, dass der Austausch laut den Minsker Vereinbarungen nach dem Prinzip „alle gegen alle“ erfolgen sollte, doch dies sei unmöglich gewesen.
„Die ukrainische Seite hat objektive Argumente legislativen Charakters, die den Austausch in vollem Umfang unmöglich machen“, betonte der Politiker. Nach seinen Worten sollten vor allem die Personen ausgetauscht werden, zu denen die Positionen der Konfliktseiten bereits vereinbart worden seien: 306 Personen sollte die ukrainische Seite den „Volksrepubliken“ Donezk und Lugansk überlassen. Dafür sollen 74 ukrainische Geiseln freigelassen werden. Bis Ende des Jahres könnten also 380 Personen heimkehren, unterstrich Medwedtschuk.
Präsident Putin hatte ihm versprochen, mit den Chefs der abtrünnigen „Republiken“, Alexander Sachartschenko und Igor Plotnizki, dieses Thema am Telefon zu besprechen. Kurz darauf wurde bekanntgegeben, dass die beiden diese Initiative unterstützt haben.
Der Leiter der ukrainischen Stiftung „Demokratische Initiativen“, Alexej Garan, führt die Fortschritte beim Thema Gefangenenaustausch auf die jüngsten Treffen des russischen Präsidentenassistenten Wladislaw Surkow und des amerikanischen Ukraine-Beauftragten Kurt Volker zurück.
„Aus den Erklärungen Volkers kann man schließen, dass die USA eine aktive und harte Position eingenommen haben. Die russische Seite will ihre Bereitschaft zu Kompromissen zeigen. Und der Gefangenenaustausch ist eine Frage, bei der die Seiten sich auf Zugeständnisse einigen könnten.“
Der Politologe stellt fest, dass Viktor Medwedtschuk dank seiner guten Beziehungen mit der russischen Führung in dieser Frage eine wichtige Rolle spiele. Aber selbst wenn er die Regelung dieser schwierigen Frage voranbringen könnte, würde das seine politischen Positionen in der Ukraine kaum voranbringen.
„Medwedtschuk hat eher negative Spuren in der ukrainischen Politik hinterlassen“, betont er.
Unter Präsident Leonid Kutschma sei Medwedtschuk Präsidialamtschef und damit die „graue Eminenz“ gewesen, und seine Aktivitäten hätten am Ende zu den Aktionen „Ukraine ohne Kutschma“ und zur so genannten „Orangen Revolution“ geführt. Unter Viktor Janukowitsch sei Medwedtschuk vehement gegen die EU-Integration der Ukraine aufgetreten, erinnert Garan weiter. Und nachdem Kiew die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit Brüssel verweigert habe, sei der so genannte „Euro-Maidan“ ausgebrochen.
„Medwedtschuk ist unpopulär, er hat kein Charisma“, stellt der Politologe fest. Der Politiker könne kein nationaler Führer werden, aber die Meinung der ukrainischen Wähler gewissermaßen beeinflussen, schließt Garan nicht aus.
Übersetzung: Sputnik