Geschickter Schachzug: Linke stößt in Machtvakuum im Bundestag vor

Die Bundesregierung ist nur noch geschäftsführend im Amt, die SPD ist an keinen Koalitionsvertrag mehr gebunden. Deshalb will die Linkspartei in den kommenden Tagen mit einer Reihe von Anträgen im Bundestag auf Mehrheitssuche gehen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. Es könnten neue Gesetze entstehen – auch ohne Zustimmung der Kanzlerin.

Rund zwei Monate nach der Bundestagswahl hat Deutschland immer noch keine Regierung. Der Bundestag ist dennoch voll handlungsfähig, was vor allem den bisherigen Oppositionsparteien viele Möglichkeiten eröffnet. Deshalb hat die Linksfraktion eine ganze Reihe von Anträgen ausgearbeitet, für die sie nun Mehrheiten sucht.

Dabei hofft die Linke vor allem auch auf Stimmen aus der SPD, die nicht mehr an den alten Koalitionsvertrag mit der Union gebunden ist. Doch auch mit anderen Parteien könnte es Mehrheiten für neue Gesetze geben, so der Bundestagsabgeordnete Klaus Ernst:

„Da gibt es natürlich eine ganze Reihe von Überschneidungen. Zum Beispiel zwischen der SPD, den Grünen und uns. Möglicherweise auch mit Teilen der CDU, die aus irgendwelchen Gründen vorher anders abgestimmt haben.“

Laut dem ehemaligen Linkspartei-Vorsitzenden Ernst hätte der Deutsche Bundestag jetzt die Möglichkeit, dem Willen der Bürger dadurch Ausdruck zu geben, dass er nun endlich die Gesetze verabschiedet, für die die Parteien vor der Wahl eingetreten sind.

Aktuelle Anträge der Linksfraktion

So will die Linke in der kommenden Woche beispielsweise für eine Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde kämpfen. Das war auch die Forderung der Partei im Wahlkampf. Eine aktuelle Mehrheit dafür wäre möglich und dringend notwendig, so Klaus Ernst:

„Weil wir wissen, dass, wenn jemand einen Mindestlohn bekommt, der unter dieser Grenze ist, und der arbeitet sein ganzes Leben lang für diesen Lohn, dann bekommt man hinterher trotzdem nur eine Rente, die unter der Grundsicherung im Alter liegt. Wir wollen diesen Antrag jetzt in den Deutschen Bundestag einbringen. Und wir wollen, dass dann darüber abgestimmt wird.“

Auch bei diesem Projekt könnte die SPD helfen. Hamburgs Erster Bürgermeister, SPD-Vize Olaf Scholz, hatte jüngst seine Haltung von vor einigen Monaten korrigiert und sich nun ebenfalls für 12 Euro als notwendigen Mindestlohn ausgesprochen. Sollte seine Fraktion im Bundestag zusammen mit Linken, Grünen und nur einigen Stimmen anderer Parteien dem Antrag folgen, wären die Erfolgsaussichten groß.

 

​Ähnliches gilt für das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern. Bisher ist das Thema Bildung Ländersache, der Bund darf in dieser Sache weder inhaltlich noch finanziell mit den einzelnen Ländern kooperieren. Auch dies muss laut Klaus Ernst sofort geändert werden:

„Das ist Humbug. Wenn eine Familie in ein anderes Bundesland zieht, dann ist das häufig ein riesiges Problem für die Kinder, weil die Schulsysteme nicht kompatibel sind. Wir wollen dazu beitragen, dass wir das auflösen und dass wir zu einem einheitlichen Bildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland kommen.“

Für eine Aufhebung des Kooperationsverbots gibt es im Deutschen Bundestag zur Zeit eine breite Mehrheit: SPD, Grüne, FDP und Linke sind prinzipiell dafür, wenn es auch in Detailfragen unterschiedliche Vorstellungen gibt.

Doch gerade am Kleingedruckten könnte es scheitern: In der Vergangenheit war es nicht selten der Fall, dass unterschiedliche Parteien zwar das gleiche Ziel verfolgten, am Ende aber lieber für den eigenen Antrag stimmten als für einen ähnlichen Gesetzentwurf einer Konkurrenzpartei. Klaus Ernst ist dennoch optimistisch:

„Es ist deshalb anders, weil es noch keine Koalitionsvereinbarung gibt. Und deshalb können wir natürlich gemeinsam mit der SPD und den Grünen einen Antrag machen. Selbst einzelne Abgeordnete der CSU hätten die Möglichkeit, unseren Anträgen zuzustimmen. Und ähnlich ist es bei all den Parteien, die da sonst noch im Bundestag sitzen.“

Zwei weitere Anträge der Linksfraktion sehen eine verbindliche Personalbemessung in der Krankenhauspflege und ein Sofortprogramm gegen den Pflegenotstand in der Altenpflege vor. Auch über diese Pläne herrscht im Bundestag relativ breiter Konsens.

Die Linksfraktion ist nicht die einzige Partei, die möglichst bald über Anträge abstimmen lassen will. Die Grünen haben beispielsweise einen Antrag zum Thema Kohleausstieg verfasst, und die SPD legte vergangene Woche einen Entwurf für ein Einwanderungsgesetz vor. Beides soll nun im Hauptausschuss des Bundestages diskutiert werden. Klaus Ernst betont, dass es für neue Gesetze weder eine Bundesregierung, noch eine Bundeskanzlerin geben müsse:

„Deshalb sagen wir: Der Bundestag ist gewählt, auch ohne Regierung. Insofern ist der Bundestag handlungsfähig, wenn er das selber will. Der Bundestag macht die Gesetze, nicht die Bundesregierung. Auch wenn es keine gäbe, könnte der Bundestag Gesetze machen.“

Dass eine Mehrheitsfindung auch gegen die Kanzlerin funktionieren kann, zeigt ein Beispiel aus der vergangenen Legislaturperiode. Hier hatte die SPD die Union mit einer rot-rot-grünen Mehrheit ausgekontert und die sogenannte Ehe für alle beschlossen. Vor dem Hintergrund, dass sich die aktuelle Regierungsbildung noch einige Monate hinziehen dürfte, könnte dieser politische Schachzug als Vorbild für die kommenden Wochen dienen.

Marcel Joppa

Das Interview mit Klaus Ernst zum Nachhören:

Quelle: Sputnik