Die Wahrheit wird beim Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ ganz großgeschrieben. Permanent ist das Flaggschiff des Qualitätsjournalismus auf der Suche nach ihr. Auf dem Weg zu diesem wertvollen Gut leistete sich das Magazin bei seiner G20-Berichterstattung aber einen Fehltritt.
Es geht konkret um den Artikel „Lasst es krachen“, der in der Spiegel-Ausgabe 29 dieses Jahres nach den G20-Krawallen von Hamburg erschienen ist. Darin schrieb das Nachrichtenmagazin über die italienische Senatorin Haidi Giuliani, die Mutter des beim G8-Gipfel 2001 in Genua von der Polizei getöteten Carlo Giuliani. Im Juli reiste sie nach Hamburg für einen Auftritt bei der Veranstaltung „Lesen ohne Atomstrom“, die im Rahmen der Proteste gegen den G20-Gipfel stattfand. Im Spiegel-Artikel heißt es:
Sie sah den Rauch, den Tumult, die Einsatzwagen aus sicherer Entfernung von ihrem Hotelzimmer am Hamburger Hauptbahnhof aus.
Laut den Veranstaltern des Literaturfestivals sind diese Fakten erfunden. Im Medienmagazin M der Deutschen Journalistenunion schreibt deren Sprecher Oliver Ness:
Tatsächlich war Giuliani in den Tagen der Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei gar nicht mehr in Hamburg: als Aktivisten brennende Barrikaden errichtet hatten, deren ‘Rauch’-Säulen weithin über der Stadt sichtbar waren. Das trug sich unstreitig am Abend des 7. Juli zu, gegen 20 Uhr.
Dem Medienmagazin sagte Giuliani:
Zu diesem Zeitpunkt bin ich mit meinem Hund in Genua Gassi gegangen. Während meines Aufenthalts in Hamburg habe ich zu keinem Zeitpunkt Tumult oder Rauch gesehen, schon gar nicht von meinem Hotelzimmer aus. Und ich habe weder in meinem Zimmer noch sonst in Hamburg jemanden vom Spiegel getroffen.
Selbst wenn sich Giuliani am 7. Juli noch in Hamburg aufgehalten hätte, hätte sie auch dann von ihrem Hotelzimmer aus keinen Rauch der Tumulte sehen können. Denn auf Anfrage des Medienportals MEEDIA sagte sie: „Mein Zimmer im ‚Europäischen Hof‘ – in dem ich zwei Nächte, vom 4. auf den 5. und vom 5. auf den 6. Juli, übernachtet habe – lag nach hinten raus. Aus dem Fenster meines Zimmers schaut man in einen geschlossenen Innenhof. Man sieht zu keiner Seite eine Straße oder einen öffentlichen Raum.“ Die beschriebene Szene vom Spiegel kann es also nicht gegeben haben. Nun drängt sich die Frage auf, wie das Magazin zu dieser Darstellung gekommen ist. Reine Erfindung?
Ein Nachrichtenmagazin in Erklärungsnöten
Gegenüber MEEDIA räumt ein Sprecher des Magazin ein, die Aussage sei „missverständlich“. Die Schilderung beziehe sich auf zwei Telefon-Interviews, die der Spiegel mit Giuliani am 12. und 13. Juli führte. Zwar habe Giuliani beim zweiten Telefonat alle wörtlichen Zitate sowie die zeitlichen Angaben vor Drucklegung gegenüber der zuständigen Spiegel-Redakteurin bestätigt. Sie habe auch davon gesprochen, was sie gesehen habe, nämlich Rauch und Tumulte.
Dass dies nicht vom Hotelfenster aus geschah, beruht auf einem Missverständnis und auch darauf, dass Frau Giuliani offenbar nicht die exakten Daten ihrer Reise parat hatte. Beides ist ihr allerdings nicht anzulasten. Die Redaktion hätte da noch penibler nachfragen müssen“, so Spiegel zu MEEDIA.
Ein zweiter fraglicher Punkt in dem Artikel ist der Satz: „Sie selbst marschierte nicht mit.“ Das Medienmagazin M schreibt dazu:
Am Abend des 5. Juli führte sie eine Demonstration an, die vor den G20-Tagungsort zog. In der ersten Reihe trug die schmale Frau gemeinsam mit den Künstlern das Banner der Demonstranten: ‘Empört Euch gegen G20!’
Dies sei sogar vom Spiegel-TV gefilmt worden. Das Hamburger Nachrichtenmagazin erklärte dazu:
Die Aussage, dass sie nicht mitmarschierte, weil sie dafür zu alt sei, stammt ebenfalls von Frau Giuliani selbst. Dass sie sich damit ausdrücklich auf den Freitag, 7. Juli, bezieht, fiel redaktionellen Kürzungen beim Zusammenschreiben des Textes zum Opfer.
Dies sei für den Leser dann „so leider nicht mehr eindeutig ersichtlich und natürlich bedauerlich“. Den Bezug zum 7. Juli könne man dem Text aber mittelbar entnehmen, meint der Spiegel.
Kritiker zeigen sich nicht überzeugt
Seine Kritiker konnte das Magazin mit dieser Stellungnahme nicht überzeugen. Frank Otto, Medienunternehmer und einer der Initiatoren des Literaturfestivals, wird vom Medienmagazin M über den Spiegel-Stil mit folgenden Worten zitiert:
Mindestens zwei der Darstellungen zu Haidi Giuliani sind frei erfunden, entsprechen nachweislich nicht der Wahrheit. Warum ergeht sich der Spiegel in wilder Phantasie, während die grad vom Spiegel unablässig beschworene ‚Wahrheit‘ doch in diesem Fall so unendlich viel spannender war?
Der langjährige Deutschlandfunk-Chefredakteur, Rainer Burchardt, äußerte sich viel schärfer und bezeichnete die Darstellungen des Spiegels zu Giuliani als «Fake News“. Gegenüber dem Medienmagazin M sagte der Kieler Medienprofessor:
Diese systematischen Erfindungen des Spiegel sind handwerklich desaströs. Und sie sind auch heikel, weil solche Inszenierung von Journalismus das Vertrauen in die Medien untergräbt.
Dies ist nicht das erste Mal, dass die Berichterstattung des Flaggschiffs des Qualitätsjournalismus Zweifel aufkommen lässt. Der Spiegel-Reporter René Pfister bekam im Jahr 2011 den Henri-Nannen-Preis für die beste Reportage aberkannt, nachdem sich herausstellte, dass er die Modellbahn des bayerischen Ministerpräsidenten Horst Seehofer penibel beschrieben hatte, ohne sie selbst je gesehen zu haben. Er kannte die Details lediglich vom Hörensagen.
Quelle: RT