Informationskrieg zwischen der Ukraine und Russland: Wie die Identitätsmatrix beschaffen ist

Menschen, die für Frieden und Versöhnung zwischen der Ukraine und Russland eintreten, werden immer öfter bedroht — aus beiden Ländern. Warum sie ins Visier der radikalen Kräfte geraten sind, analysiert die ukrainische Kulturwissenschaftlerin Jewgenija Biltchenko.

von Jewgenija Biltchenko

Es ist naiv zu glauben, dass der Informationskrieg einen Zusammenstoß zwischen zwei entgegengesetzten Ideologien darstellt. Ähnlich dem physischen Krieg, der im 21. Jahrhundert ein hybrider ist (das heißt, er schließt zivile, ethnische und zwischenstaatliche Komponenten mit ein), ähnlich dem Neototalitarismus, der heute diffuse und schwer greifbare Formen annimmt, ist der Informationskrieg auch ein hybrider, latenter und fragmentierter, denn er hat unzählige Typen von Aktivitäten, die alle der Reihe nach oder in unterschiedlichen Kombinationen zum Einsatz kommen.

Dabei handelt es sich somit um eine flexible Vernetzung von Ideologien, die nicht von den jeweiligen Regierungen vorgeschrieben werden, sondern eher aus dem kollektiven Unbewussten emporsprießen. Dadurch verwandeln sich die Menschen aus selbstständigen Persönlichkeiten in bloße Diskursvermittler. Deswegen nimmt auch die Zensur bei solchen Kriegen die Form einer Selbstzensur, einer freiwilligen Autosuggestion an. Sie geht dabei nicht von oben nach unten, sondern von unten nach oben und greift auf solche Instrumente wie virtuellen Terror und digitalen Faschismus zurück.

Wer Ideologien und Lügen entlarvt, irrt sich, wenn er glaubt, dass sich dahinter nur Interessen der machthabenden Oligarchen verbergen. Diese symbolträchtigen Matrizes übertünchen nicht nur bloß die Realität. Sie wachsen aus ihr heraus – in unserem Fall ist das die Geschichte der russisch-ukrainischen Beziehungen. Gegen den Informationskrieg sollte kein naiver Oppositioneller, sondern ein zynischer Psychoanalytiker vorgehen, der Bewusstseinsblockaden der Menschen aufheben kann, ohne sich dabei vor einer Verbannung vonseiten der kranken Gesellschaft fürchten zu müssen.

Als Psychoanalytikerin im Kulturbereich und Person, die sich selbst eine Bewusstseinsblockade durch die Maidan-Ideologie aufgehoben hat, kann ich sagen, dass der Ausstieg aus der symbolträchtigen Lügenmatrix weh tut. Daher lösen die Versuche des Diagnostikers, in das Innere der Informationskokons der Leidenden einzudringen, Aggressionen aus.

Ich werde nun versuchen, die Identitätsmatrizes zu schildern, die der Haltung der Ukrainer und der Russen in diesem Krieg immanent sind, wobei ich sie in Gruppen einteile. Indem ich auf die politische Psychoanalyse zurückgreife, kann ich drei Typen der Identitätsmatrizes aussondern: die konservative, die liberale und die radikale.

Die konservative Identitätsmatrix weisen die meisten Einwohner Russlands und der prorussische Teil der ukrainischen Bevölkerung auf, der heutzutage entweder physisch von der Regierung und den bewaffneten Kräften im eigenen Land vernichtet oder einfach marginalisiert wird. Solche Ukrainer zittern vor Angst und verstecken ihre Sankt-Georg-Bändchen sowie russisch-orthodoxe Kruzifixe.

Der mediale Diskurs in der Ukraine hat für diesen Teil der Bevölkerung den Begriff „Watniki“ – benannt nach der traditionellen Steppjacke – erfunden. Was wollen nun die „Watniki“? Diese Menschen lassen sich in zwei Untergruppen einteilen: diejenigen, die sich nach der linken, sowjetischen Identität sehnen, und diejenigen, die die rechte Idee eines monarchischen Kleinrussland befürworten. Im ersten Fall geht es um die Wiederherstellung des föderativen Modells der USSR und des Archetyps der Völkerfreundschaft. Diese Identitätsmatrix lässt sich als konservativ bezeichnen, weil das internationalistische (Vor)Bild der Völkerfreundschaft, das im Bewusstsein des sowjetischen Volkes wurzelt, als etwas Aufrechtzuerhaltendes gilt. Im zweiten Fall geht es um den Beitritt der östlichen (oder ganzen) Ukraine zu einem „imperialen“ Raum eines „vereinten“ Russland – sowohl im direkten, als auch im übertragenen Sinne.

Zu der linken Idee neigt ein signifikanter Teil der Volkswehr. Zu der rechten Idee bekennen sich nicht selten russische Freiwillige im Donbass und diejenigen, die sich selbst als „Nationalisten“ bezeichnen: Das Nebeneinander der roten Fahne und des Alexander-Newski-Banners in einem Bataillon wird trotz des äußerlichen Widerspruchs als „Symbolfeld“ der „russischen Welt“ empfunden. Übrigens stellt das Vorhandensein solcher „legitimierten“ Paradoxe ein typisches Symptom jeder Ideologie dar.

Befassen wir uns jetzt mit den Liberalen. Ihre Ideologie weist sowohl in Russland als auch in der Ukraine nicht weniger – wenn nicht mehr – solche legitimierten Widersprüche auf. Der wichtigste davon besteht darin, dass die Liberalen gegen jede Verprügelung von Menschen sind, es sei denn diese sind keine Liberalen. Dieser Menschentyp hat auf mich als „Poetin der ukrainischen Revolution“ einmal eine große Hoffnung gesetzt und war durch meinen Austritt aus diesem Diskurs sehr gekränkt.

Heutzutage bin ich der Meinung, dass der Liberalismus die „faschizoidste“ aller Ideologien ist, weil er nach US-amerikanischer Art allumfassend und gesponsert ist und weil er außerdem einen kolossalen inneren Extremismus beinhaltet, wobei auf den traumatisierten Territorien (damit meine ich sowohl die Ukraine als auch und Russland) Doppelstandards und Schocktherapie zum Einsatz kommen.

Die Zwiespältigkeit, mit der die Heuchelei des Liberalismus getarnt wird, besteht darin, dass dieser ziemlich aktiv Rechtsextremisten ausnutzt, um den freien Markt zu unterstützen. Russlands Liberalen bilden bislang eine geschlossene Subkultur, die sich unter den „Watniki“ (das heißt, unter der normalen Bevölkerung, deren Naivität die Opposition durch den Schmutz zieht und die von der Opposition oft rein faschistisch als „Biomüll“ bezeichnet wird) keiner Unterstützung erfreut.

In der Ukraine besteht das Lager der Liberalen aus den Anhängern der Ideen der frühen – „studentischen“ – Maidan-Proteste. Einige von ihnen, die sogenannten Nationalliberalen, haben sich den Radikalen gefügt, die den Protest aufgegriffen haben. Andere, die sogenannten Linksliberalen, sind dagegen in Widerspruch zu den Radikalen geraten. Im Unterschied zu den russischen Liberalen (welche sie nicht besonders gern haben – wie übrigens auch alles „Russische“ in der Ukraine), sind die ukrainischen Liberalen weniger homogen.

Schweigsam befürworten die Nationalliberalen den krassen Neonazismus in der ukrainischen Gesellschaft und verurteilen die Sprachpolitik der jetzigen Regierung nur anstandshalber. Sie haben Angst, die Schuld der ukrainischen Regierung an dem Krieg anzusprechen, indem sie als dessen Ursache die „russische Aggression“ sehen.

Zu den Linksliberalen zählt auch ein Teil der religiösen Liberalen, und sie sind in ihren Meinungen etwas entschiedener: Sie plädieren für den Multikulturalismus und eine multipolare Gesellschaft. Das Monopol der USA wollen sie begrenzen und die Akzente zu den alten europäischen Häusern verschieben. Sich selbst bezeichnen sie als „Neoliberale“, also als „modernisierte“ Liberale. Zu ihnen gesellen sich auch religiöse Liberale — Gemeindemitglieder protestantischer Konfessionen, Griechisch-Katholiken, die im Netz unserer Matrix eine spezielle politische Kultur darstellen.

Diese Modernisierung besteht offenbar in dem Versuch, „linke“ antiglobalistische und antiamerikanische Ideen teilweise zu übernehmen und sich der einmütigen Kritik vonseiten der ukrainischen Nationalisten aussetzen zu lassen: „Linke sind Scheiße“ – eben so lautet der bereits legitimierte Slogan auf den einheimischen Transparenten. Doch selbst die Linksliberalen sind jetzt zu keinem Dialog mit dem Donbass und mit Russland fähig, ohne auf die Idee der „russischen Aggression“ zu verzichten. Sie beschränken sich auf den Kulturbereich und die „toleranten Halbwahrheiten“ (wie sich dazu der ukrainische Schriftsteller Roman Skiba triftig geäußert hat) innerhalb des humanistischen Streites für alles Gute und gegen alles Böse.

Wir gehen nun zu der für die Ukraine verhängnisvollste Identitätsmatrix, zu den Radikalen, über. Ihre Stärke verdoppelt sich, weil die Regierung sie inoffiziell, aber auch offen unterstützt. Sie sind die „Hunde des Krieges“. Die Identitätsmatrix eines Extremisten weiß fast keine Selbstzensur, weil sie keine Zweifel aufweist. Solche Menschen lassen sich in keiner Frage umstimmen. Man muss ihnen aber eine spezifische strikte Logik lassen, wenn sie zynisch die Schaffung eines monoethnischen Staates, die Säuberung aller Andersdenkenden und der (heute schon utopischen) Rückeroberung des von den „Watniki“ bewohnten Donbass fordern.

Das schließt nicht die Bereitschaft mancher Extremisten aus, für jeden Oligarchen zu arbeiten, der ihnen Geld zahlt. Die von der Regierung zuerst geförderten und dann enttäuschten Radikalen (man nutzt sie im Krieg aus) geraten allmählich aus der Kontrolle und fordern eine rechte Diktatur. Eben darin liegt einer der Schlüsselaspekte der jetzigen Maidan-Proteste in der Ukraine, bei denen für zwei Projekte geworben wird: entweder der neue Nationalliberalismus im Auftrag der USA (Michail Saakaschwili) oder die unverblümte Revanche der Radikalen aus dem „Rechten Sektor“, dem Freiwilligenbataillon „Asow“ und der „Swoboda“-Partei.

Das klingt zu sehr marxistisch, aber ich meine, dass die Tragödie der Radikalen nicht darin besteht, dass die sich eine nationale Homogenität wünschen, sondern darin, dass die westliche Welt sie in der Ukraine als Folge der Klassengegensätze des freien Marktes ins Leben gerufen hat, an den sich ein Teil der armen Bevölkerung nicht anpassen konnte.

Ähnliche radikale Gruppen gibt es heute auch in Russland, das versucht hat, eine Art Gegengewicht zu der „Bandera-Ukraine“ zu schaffen. Russlands Radikale sind ein Zerrbild der ukrainischen. Was sie vereinigt, sind aber gemeinsame Ziele (die Spaltung zwischen der Ukraine und Russland), gemeinsame Mittel (die Entmenschlichung des Gegners mit Hilfe von Vorurteilen und Stereotypen) und, ich vermute sehr ihre gemeinsamen Sponsoren aus Übersee, die in unseren Ländern agieren und an einer Zersplitterung der slawischen Welt interessiert sind.

Somit entsteht der sogenannte Schraubstock-Effekt, wenn zwei Gegensätze für einander und für die Oligarchie arbeiten. Die russischen Radikalen vertreten im Unterschied zu den russischen Konservatoren eine ausgeprägt isolationistische Position: Sie wollen Russland endgültig von der Ukraine abgrenzen, welche sie als eine Leprakolonie des Neonazismus darstellen, und die Verluste Russlands in der Ukraine minimieren, indem der Zufluss von Freiwilligen in den Donbass und der Zustrom ukrainischer Friedensstifter nach Russland begrenzt werden soll, die das Massenbewusstsein verändern können.

Eine radikale Ideologie muss über zwei Schlüsselmythen verfügen: die „Freunde“ und die „Feinde“. Beide sind für das Zusammenschweißen wichtig und spielen ihre strikten Rollen. Nichts bedroht die nationalistische Ordnung so sehr wie der symbolische „Tod“ des Feindes. Wenn die Möglichkeit abhandenkommt, sich über die Blödheit des Gegners lustig zu machen und sie zu genießen, entsteht eine nicht näher definierbare Komponente – ein traumatischer Überschuss bzw. eine Spalte, welche die Wunde nicht heilen lässt. Diese Komponente muss um jeden Preis abgeschafft werden, weil sie die Identitätsmatrix beschädigt. Deswegen sind im russischen Fernsehen ausgeprägte ukrainische Fanatiker willkommen, wo sich kluge Konservatoren über sie unter Applaus lustig machen.

Meinen Gedanken beweist die Tatsache, dass ich nach Russland problemlos einreisen durfte, während ich als „Maidan-Poetin“ fungierte. Als ich in der Ukraine zu einer Dissidentin wurde, starteten die russischen Radikalen in sozialen Netzwerken eine aktive Kampagne, um mir die Einreise zu verbieten. Auf diese Weise entstanden Falschmeldungen über mein angebliches Riesenvermögen in der Russischen Föderation, über meine dortigen Geschäfte und darüber, dass ich mich selbst in die „Mirotworez“-Datenbank eingetragen habe, um nach Russland reisen zu dürfen.

Symptomatisch ist dabei, dass zu den radikalen Isolationisten in Russland einzelne antifaschistische Kräfte der linken und „sowjetischen“ Volkswehrgruppen im Donbass in Widerspruch geraten sind. Sie sind nämlich an der Unterstützung für den prorussischen Teil der Ukraine interessiert, während die Isolationisten ihnen unterschwellig einzuflößen versuchen, dass sie dort illegal seien und dass es sie dort nicht gebe, weil der Krieg in der Ukraine ein ausgesprochen ziviler ist. Die Isolationisten stehen auch in Widerspruch zu dem konservativen Zentrum in der Präsidialverwaltung der Russischen Föderation, die an dem Minsker Abkommen und der Wiederherstellung des Dialogs zwischen Kiew und Moskau interessiert ist.

Eben die letzteren Kräfte halten die Radikalen in brüchigen Grenzen. Es wird die Meinung geäußert, dass bei einem patriotischen Umsturz in Russland eben die Radikalen die Oberhand gewinnen und die liberale Opposition niederdrücken könnten, wie das in der Ukraine der Fall war. Die naiven Liberalen wollen davon natürlich nichts hören. Das Ergebnis könnte wie folgt sein: Sollten die Radikalen, die von den Liberalen die Initiative ergreifen würden, siegen, würden diese kalte Füße bekommen und den Konservatoren zu Kreuze kriechen. Die Revanche der Konservatoren würde dann schadenfreudig und gnadenlos aussehen: „Wir haben es euch doch gesagt!“ Für die Ukraine ist das bereits eine heranreifende Realität, während das für Russland nur eine der möglichen dramatischen Perspektiven für die ferne Zukunft ist.

Quelle: RT