Russische Doping-Affäre: Ein offener Brief vom deutschen Dopingexperten Perikles Simon

RT Deutsch fragte den renommierten deutschen Sportmediziner und Dopingforscher Perikles Simon um eine Stellungnahme zu den jüngsten Entwicklungen in der russischen Dopingaffäre. RT Deutsch veröffentlicht die Antwort von Simon ungekürzt und im Wortlaut.

von Prof. Dr. Perikles Simon

Ich schreibe Ihnen also vor allem, weil mir die russischen Sportler als Individuen aufrichtig leidtun. Die gedopten wie die ungedopten Sportler — ganz gleich.

Ich bin nach all dem, was jetzt auch über die Analytik im Nachgang herauskam, überzeugt, dass es ein zumindest einmal aus dem russischen Sportsystem relativ übergeordnet organisiertes Doping russischer Sportler gegeben hat. Hierbei wäre es eben sehr wichtig, genau festzustellen und auch wirklich alle Beweise vorzulegen, die dokumentieren können, wie stark russische Verbandsstrukturen oder auch die russische Sportpolitik in diesen Prozess involviert waren.

Ich sehe es sogar so, dass es zum Nutzen und zum Wohle der russischen Sportler wäre, wenn Russland über staatliche Stellen selbst hierfür klare Beweise und meinetwegen auch gerne für Teilbereiche klare Gegenbeweise zu dieser Sachlage aktiv und möglichst schnell beisteuern würde.

Denn die Leidtragenden werden wohl leider insgesamt in erster Linie die russischen Sportler (wohlgemerkt als Individuen) gewesen sein — gesundheitlich in nicht ganz klarem Umfang geschädigt, gesperrt und am Ende ohne Medaille, während betrogenen Konkurrenten, so diese selber ungedopt gewesen sein sollten, lediglich der Ruhm fehlt. Denn auch eine Medaille «ex posteriori» auf Grund von Sperren ist keine «echte Medaille» mehr.

 

Wer war und ist der Nutznießer davon, dass in allererster Linie die russischen Sportler als Individuen die Leidtragenden sind? Das sind in erster Linie die Personen, die sich jetzt noch weigern, zuzugeben und wirklich minutiös darzustellen, was in Russland ganz genau ablief, dass u. a. so viele Sportler mit dem gleichen Doping-Cocktail im Blut analytisch des Dopings überführt werden können. An den Aussagen von Herrn Rodtschenkowalleine muss man sich ja nicht mehr orientieren. Es wäre schon in der jetzigen Situation m. E. angebracht, über ernsthafte und sehr konsequente Sanktionen gegen Russland als Sportnation, nicht aber gegen russische Sportler als Individuen nachzudenken.

Ob berechtigt oder nicht: Whataboutismus hilft nicht weiter

Ich halte es für äußerst kontraproduktiv, dass offizielle russische Stellen immer wieder alles leugnen und zwar sogar auch noch das, was nicht mehr logisch nachvollziehbar geleugnet werden kann. Das führt m. E. «Russland als Sportnation» in die Isolation. Nicht vermittels der Sanktion durch westliche Sportfunktionäre, die m. E. bis zum Untergang ihre russischen Sportfunktionärskollegen schützen müssen und die russischen Sportler dafür bis zum äußersten Anschlag bestrafen werden – nein, viel schlimmer: In der Wahrnehmung der intellektuellen Bevölkerung ist das m. E. eine Katastrophe und zwar möglicherweise im In- und im Ausland.

Die wenden sich so wie ich ab, denn: In dieser Situation nur auf die anderen zu zeigen und zu sagen «Da lief es doch auch nicht sauber», ist nicht zielführend. Fancy Bears ist noch zu zahnlos von der Substanz her. Auch unsere wissenschaftliche Studie zur Dopingprävalenz, die ja ein recht flächendeckendes Problem offenlegt, welches sicher kein «allein russisches» sein kann, reicht hier nicht mehr, um den russischen Sport «zu entlasten». Es reicht nicht einmal mehr aus, um den Leuten auch bei uns zu vermitteln, dass der russische Hochleistungssport, so wie unser Hochleistungssport, ein massives Doping-Problem hat.

Doping gerade in Ländern wie der BRD war schon immer verhältnismäßig dezentral organisiert und wir haben, selbst wenn wir uns darum sehr bemühten, Probleme, einen Bezug dieses «systemischen Dopings» zu unserer Sportpolitik gesichert herzustellen und diesen klar genug zu belegen. Es gab diesen Bezug meines Wissens nach vor allem in Form einer Missachtung relativ offensichtlich vorhandener Dopingprobleme und auch durch eine Einführung von Normen und Verhaltens- und Förderungsrichtlinien, welche ganz klar dopingfördernd waren und noch sind.

Fuentes & Co. wirkten dezentral

Es gibt immer wieder einzelne Hot-Spots stärkerer Doping-Aktivität mit einem relativ hohen Organisationsgrad (Fuentes, die Kollegen in Freiburg in der Sportmedizin — diese sind interessant, denn hier bestand m. E. noch der stärkste staatliche Bezug und das war in West-Deutschland -, Heredia etc.), wie wir aus den gerichtlichen Aufarbeitungen der Dopingproblematik der westlichen Industrienationen wissen.

Letztlich wäre es allenfalls zuträglich gewesen, einmal klar  — meinetwegen auch über entsprechende geheimdienstliche Tätigkeit — offenzulegen, welche Ausmaße diese dezentrale Doping-Versorgungsstruktur in westlichen Industrienationen im Spitzensport annimmt. Ich will meinem Staat zugute halten, dass er reagiert hat und darauf erpicht ist, Dopingversorgungsstrukturen (zumindest die offensichtlichen) auch auszuheben und daran Beteiligte zu bestrafen. Das geschieht jedoch vorrangig im Breitensport.

Was ich natürlich schade an unserer «westlichen» Haltung im Umgang mit den russischen Sportlern finde, ist, dass wir nicht das Hauptproblem darin erkennen, dass das viel gefeierte Anti-Dopingsystem offensichtlich nicht in der Lage war, diese Sportler zu schützen. Das heißt, wenn ich mich also an Sie wende und beklage, dass Sie noch vorhaben, Ihr Sportsystem zu schützen, muss ich natürlich in Anbetracht der offensichtlichen Sachlage noch viel mehr unsere «westliche» Unfähigkeit, unsere Probleme angehen zu wollen, geißeln.

Das ist ganz klar so nicht fair und nicht in Ordnung. Ich finde diesbezüglich auch unsere Berichterstattung in den Medien keinesfalls sachgerecht und in Ordnung. Sie verzerrt ganz klar das große Problem zu einer kleinen Posse.

Das große zentrale Problem, von dem hier alle Beteiligten emsig ablenken, ist, dass das derzeitige Anti-Dopingsystem in erster Linie Probleme provoziert, statt sich um Lösungen auch nur annähernd adäquat kümmern zu wollen.

WADA schützte Sportler nicht vor Sportfunktionären

Die WADA konnte und wollte russische Sportler nicht schützen. Die russischen Sportler waren erst einmal eben nicht positiv getestet worden, bevor man nicht ganz genau wusste, wonach man suchen musste. Man hat eben erst einmal nicht Manipulationsspuren an den Urinbehältern finden können. Man hat eben nicht gesehen, wie ein recht flächendeckendes Doping über sehr viele Jahre vonstattenging.

Die Liste lässt sich jetzt sehr lange fortsetzen. Ich würde mich nicht wundern, wenn man folgendes irgendwann ergänzen könnte: Man konnte und wollte die russischen Sportler nicht davor schützen, dass die Sportfunktionäre auf allen Seiten sich gleich zweimal (einmal bei der Olympiade und einmal jetzt) schadlos an ihnen halten konnten.

Wenn Russland jetzt anfangen würde, klar offenzulegen, welche ranghohen Sportfunktionäre etwas falsch gemacht haben, dann würde das m. E. bei uns ein «Sportfunktionärsmassensterben» auslösen. Denn das, was ich da bei allen Beteiligten sehe, ist der massive Versuch, alles, aber auch alles, auf die starken Schultern einzelner Athleten abzuwälzen.

Die Liste der Unzulänglichkeiten im Antidopingkampf erklärt uns natürlich auch, warum Russland jetzt mehr oder weniger alleine alle all zu offensichtlichen Probleme in unserer Presse ausbadet. Dieser Anti-Dopingkampf kann und wird nur zu Feigenblattsanktionen und Feigenblattnachweisen führen, die hüben wie drüben letztlich dazu dienen, die «Jugend der Welt» für das zu bestrafen, was die Alten, Schwachen, Habgierigen und Machthungrigen verbockt haben.

Ich muss es ganz ehrlich sagen: Wer in dieser Situation beteiligte russische Sportfunktionäre schützt oder schont, der opfert seine Athleten zum zweiten Mal. Das finde ich nicht in Ordnung.

Frage staatlicher Lenkung für Bewertung nicht primär relevant

Man kann mit mir immer diskutieren, welche Schuld die schlimmere ist: Die der Sportpolitik, die Doping systematisch organisiert, oder die der Sportpolitik, die Doping systematisch ignoriert und indirekt dopingfreundliche Strukturen fördert. Ich kann und mag das nicht gegeneinander abwägen. Ich kenne persönlich das zweitgenannte System mehr als das erste. Natürlich ist beides nicht in Ordnung.

Ich könnte jetzt anfangen und allen, die sich in Anbetracht der uns allen gemeinsamen Probleme immer noch nur isoliert gegen russische Sportler wenden, versuchen zu erklären, dass ein staatlich gelenktes Doping ein recht wahrscheinlich «gesünderes Doping» ist als das Doping, welches viele Westathleten mit ihrem Körper bereits angeblich freiwillig gemacht haben. Aber das wäre nur ein weiteres Wettrüsten. Ein Wettrüsten mit Argumenten.

Dabei ist der kalte Krieg doch vorbei?

Herrn Prof. Dr. Perikles Simon kennen viele aus dem Fernsehen. Auch RT Deutsch gab der Sportmediziner schon Interviews. Seit einer Weile hat der Experte beschlossen, sich nicht mehr öffentlich zu dem Thema Doping im Spitzensport zu äußern. Nach dem IOC-Beschluss zu Russland machte er für uns eine Ausnahme und verfasste auf unsere Interviewanfrage hin seine Stellungnahme zum aktuellen Umgang mit Dopingproblem. Wir veröffentlichen seinen Brief ungekürzt und im Wortlaut. Zwischenüberschriften stammen von der Redaktion.

Quelle: RT