Das jährliche Forum der Körber-Stiftung hat sich in den vergangenen Jahren zu einem Pflichttermin für außenpolitisch interessierte Menschen gemausert. Tatsächlich erscheint zum vorweihnachtlichen Termin regelmäßig das Who-is-Who der Berliner Außen- und Sicherheitspolitik. Eine halbe Stunde, bevor die Veranstaltung beginnen soll, springt der deutsche Außenminister aus der Limousine und schlendert mit seinem Begleittross die Treppen zum Humboldt Carré hinauf.
Er wird das Forum eröffnen und angesichts seines Reiseplans gibt schon allein diese Tatsache der Veranstaltung einige Bedeutung. Die Themen und Referenten sind klug gesetzt, alle Problemzonen der deutschen und europäischen Außenpolitik abgedeckt, teilweise mit prominenten Sprechern, wie etwa dem ehemaligen NATO-Generalsekretär Anders Rasmussen, der inzwischen als persönlicher Berater des ukrainischen Präsidenten beschäftigt ist.
In jedem Fall werden einschlägige Experten auf die Bühne treten, um die zahlreichen offenen Konflikte im Umfeld der EU zu diskutieren. Ehemalige Minister und Spitzendiplomaten, Abgeordnete und Vertreter von politischen Stiftungen drängeln sich kurz an den Kaffeetischen, bevor Sigmar Gabriel nach einer kurzen Begrüßung durch die Veranstalter auf die Bühne tritt. Er habe immer noch die Rolle eines Linksaußen-Stürmers, greift er eine Fussball-Analogie von Thomas Paulsen auf, dem Vertreter der Körber-Stiftung.
Dass er nicht gekommen ist, um das Protokoll mit diplomatischen Allgemeinplätzen aufzuwerten, wird wenige Minuten später klar, als er auf das Mantra deutscher Außenpolitik zu sprechen kommt, die Werteorientierung. Nach einer kurzen Erinnerung an die harmonischen 1990er Jahren, als «Osama Bin Laden uns allen unbekannt war» und die USA auf ihren «unipolaren Moment» zusteuerten, verweist Gabriel auf die aktuellen weltpolitischen Spannungen.
Appell an eine realistische Außenpolitik
Man müsse einsehen, dass wir — damit spricht Gabriel in diesem Rahmen von Deutschen und Europäern — die Welt selbst gestalten, oder andernfalls «vom Rest der Welt gestaltet werden». Eine Werteorientierung werde jedenfalls nicht ausreichen, um sich in dieser «von wirtschaftlichen, politischen und militärischen Egoismen geprägten Welt» zu behaupten. Das klingt nach «Fressen oder gefressen werden», nach «Amboss oder Hammer sein».
Spätestens jetzt sind die Teilnehmer wach. Denn dass ein deutscher Außenminister derartig unverhohlen Interessen benennt, das hat es in den vergangenen Jahrzehnten nicht gegeben, das ist wirklich allen Anwesenden klar. Und als Sigmar Gabriel beinahe beiläufig einstreut, dass die «globale Dominanz der USA langsam Geschichte» sei, weiß auch der Letzte: Hier will jemand eine Schlacht führen.
Mit Blick auf die aktuelle Regierung der USA spricht Gabriel davon, dass sich das Land zurückziehe aus seiner «Rolle des verlässlichen Garanten des westlich geprägten Multilateralismus». Unter Donald Trump gebe es eine «distanzierte Wahrnehmung Europas», eher als Wettbewerber oder sogar als Gegner, zumindest im ökonomische Bereich, relativiert er vorsichtig.
Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht offensichtlich der Umstand, dass die bisherige westliche Politik keine angemessenen Antworten auf den «zunehmenden Takt von Krisen» findet, die für «ein weltweit engagiertes Europa Besorgnis erregend» sind. Angesichts der brenzligen Situation empfiehlt der deutsche Außenminister, die neue multilaterale Welt nicht nur als Fakt anzuerkennen. Doch bereits damit tun sich westliche Außenpolitiker bekanntermaßen schwer.
Gabriels Vorschlag zielt darauf ab, die multipolare Welt mit ihren unterschiedlichen legitimen Interessen zu ordnen und zu verrechtlichen. Die «G-X-Welt», wie er sie nennt, habe viele Pole. Aber ihr Merkmal sollte die Existenz verbindlicher Regeln und Strukturen sein, die alle Beteiligten vor der Willkür der Stärkeren schützen. «Mehrpoligkeit bei gleichzeitiger Ordnungsverbindlichkeit» sollte das Markenzeichen eines neuen Systems der internationalen Ordnung sein, so Gabriel.
Diese Forderung nach einer realistischen Außenpolitik durchzieht seine Rede. In kaum einem Absatz kommt er ohne Seitenhieb auf «postmodernen Idealismus», Werthaltungen und Visionen aus. Damit bewegt sich Gabriel auf ein grundsätzliches Problem mit dem deutschen politischen Personal zu: Um eine multipolare Ordnung überhaupt anzuerkennen, und diese mit «verbindlichen Regeln und Strukturen» auszustatten, reiche eine «wertorientierte Außenpolitik» nicht.
Eine neue Außenpolitik benötige einen «klaren Blick auf die Welt, ohne moralische Scheuklappen». Die Träger Letzterer verweist der Außenminister auf einen kurzen Artikel, den der Nationale Sicherheitsberater Herbert Raymond McMaster und Gary Cohn, der Direktor des Nationalen Wirtschaftsrates, nach der ersten großen Auslandsreise von Donald Trump im Wall Street Journal veröffentlicht hatten. Darin beschreiben McMaster und Cohn kurz den amerikanischen Zugang zur Welt:
Wo unsere Interessen übereinstimmen, sind wir offen für die Zusammenarbeit, um Probleme zu lösen und Chancen zu erkunden. […] Kurz gesagt, die Länder, die unsere Interessen teilen, werden keinen Freund finden, der unerschütterlicher ist als die Vereinigten Staaten.
Gemeinsame europäische Außenpolitik
Sigmar Gabriel jedenfalls, gerade von einem Gespräch mit Rex Tillerson aus Washington zurückgekehrt, muss nicht lange suchen, um mit Blick auf die USA einander widersprechende Interessen zu finden: Die Russland-Sanktionen gefährden «unsere eigenen wirtschaftlichen Interessen existentiell». Eine Auflösung des Atomdeals mit Iran würde «unsere nationale Sicherheit berühren und gefährden». Der Schritt, Jerusalem als Hauptstadt Israels anzuerkennen, verschärft die Krise.
Mit Blick auf den seit drei Jahren andauernden Bürgerkrieg in der Ukraine verwies Gabriel darauf, dass es «zwingend eine europäische Ostpolitik» geben müsse. Mit einem dauerhaften Waffenstillstand könnte die EU erste Schritte für den Abbau von Sanktionen auf den Weg bringen. Das wäre «ein großer Schritt hin zu einer neuen Entspannungspolitik mit Russland». Welche Hürden eine selbstbewusste europäische Interessenpolitik zu überwinden hat, demonstriert jedoch gleich das zweite Panel.
Eigentlich sollte es darum gehen, wie sich Europas Nachbarschaft sicherer gestalten lässt. Der Poroschenko-Berater Anders Fogh Rasmussen spult routiniert die Maximalforderungen der NATO herunter, die er einst selbst als deren Generalsekretär vorangetrieben hat. Ein robustes Peacekeeping-Mandat müsse her, um die Grenze zwischen Russland und der Ukraine unter Kontrolle zu bringen. Außerdem sei es nötig, die Ukraine weiter militärisch aufzurüsten. Der Blauhelmvorschlag, den Gabriel soeben als guten Ansatz lobte, könne höchstens «ein erster Schritt» sein, meint Rasmussen.
Wie immer ist diese Art von Statement garniert mit den üblichen bigotten Werthaltungen, um die sich NATO-Mitglieder angeblich sammeln. In seiner Erwiderung erinnert Konstantin Kossatschow, der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses der Duma, daran, dass die ukrainische Regierung jede Umsetzung des Minsker Abkommens sabotiert.
Sofort kommt er darauf zu sprechen, dass schließlich NATO-Mitglieder seit dem Kosovo-Krieg das Völkerrecht brechen und für angebliche Menschenrechte zahlreiche Länder bombardiert haben. Ohne politische Reformen in der Ukraine, deren aktuelle Regierung nicht in der Lage ist, die Rechte aller ihrer Bürger gleichermaßen zu gewährleisten, werde sich dieser Konflikt nicht lösen lassen, so Konstantin Kossatschow.
Die Reaktion der wertegetriebenen Politiker auf dem Podium tendiert gegen Null. Die Überlegungen aus Gabriels Eröffnungsrede, dass in der internationalen Politik unterschiedliche Gravitationszentren mit legitimen Interessen zu berücksichtigen seien, ist hier noch nicht angekommen. Auf der Bühne versichern einander der FDP-Politiker und ehemalige OSZE-Beobachter Michael Georg Link und NATO-Rasmussen, dass Russland sehr viel mehr machen müsse — die übliche Verhinderungsargumentation, nach der sich immer die anderen bewegen müssten, um eine Regelung zu finden.
Keine Machtprojektion nach außen ohne Einigung nach innen
Neben dem neuen Verhältnis zu den USA sprach Sigmar Gabriel den Umstand an, dass die Europäische Union außenpolitisch nicht strategisch handelt. Dass er Begriffe wie Machtentfaltung und Machtprojektion in die Debatte wirft, wirkt auf viele Beobachter verstörend. Als Angela Merkel gefragt wurde, was sie unter Macht versteht, antwortete sie: die Fähigkeit zu gestalten. Aber in Gabriels Vortrag klang mehr an.
Nach seinem Vortrag wurde auf den Fluren des Humboldt Carré keine Aussage so oft aufgegriffen wie das Bonmot, Frankreich müsse in Finanzfragen deutscher und Deutschland in der Sicherheitspolitik französischer werden. Ohnehin tendieren die Veranstaltungen der Körber-Stiftung dazu, außenpolitisches Wirken auf Sicherheitspolitik zu verkürzen. Gerade, was unheilvolle militärische Aktivitäten im Ausland betrifft, will sich niemand in Deutschland an Frankreich orientieren. Frankreich war immerhin das Land, dass die völkerrechtswidrigen Bombenangriffe auf Libyen herbeigeredet hat.
Die französische Regierung ließ das syrische Rakka bombardieren, weil französische Jugendliche in Frankreich Terroranschläge begingen. Das Engagement unseres größten Nachbarn in Afrika mag zwar diskret sein. Die Menschenrechte und die soziale Lage der dortigen Bevölkerung hat es sicher nicht gefördert. Die Leitfrage für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik muss eher lauten, wie die restlichen Mitglieder Länder wie Frankreich an seinen abenteuerlichen Ausbrüchen hindern können, deren Folgen immerhin alle EU-Staaten ausbaden müssen.
Laut der aktuellen Umfrage der Körber-Stiftung hat Außenminister Gabriel die Bevölkerung hinter sich, wenn er eine engere Kooperation mit Frankreich fordert. Auf die Frage, welche Partnerschaft zukünftig Priorität bei der deutschen Verteidigungspolitik haben sollte, entscheidet sich die ganz überwiegende Mehrheit für europäische Staaten (88 Prozent) und Frankreich gilt den Deutschen inzwischen als wichtigster Verbündeter. Gleichzeitig gibt es für eine militaristische Außenpolitik keine Unterstützung aus der deutschen Bevölkerung.
Ungefähr zwei Drittel der Deutschen meinen, dass die Militärausgaben gleich bleiben oder sogar gesenkt werden sollten. Nur eine Minderheit von 32 Prozent hält steigende Militäretats für nötig. Im Widerspruch zu Gabriels bisherigen Äußerungen, denen zufolge die Militärausgaben nicht erhöht werden sollen, erklärte der Außenminister nun, Notwendigkeit sei auch eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben, ein Satz, der sich allerdings nicht im veröffentlichten Manuskript findet.
Nicht nur der Kommentator der FAZ, Klaus-Dieter Frankenberger, hörte aus dieser Rede eine Sehnsucht nach militärischer Stärke im Ausland. Dieser Verdacht, dieses mögliche Missverständnis, drängt sich schon aus dem Vokabular einer realistischen außenpolitischen Debatte auf, deren Vertreter in den USA einen unumwundenen Vorherrschaftsanspruch formulieren, inklusive des Einsatzes militärischer Macht. Einer sozialdemokratischen Außenpolitik hätte es eher entsprochen, wenn Gabriel in seiner Rede Agens und Angaben austauschte: Deutschland muss in Finanzfragen französischer und Frankreich in der Sicherheitspolitik deutscher werden.
Reaktion der atlantischen Prätorianer
Für solche Feinheiten fehlt den angegriffenen Werte-Politikern jedoch das Verständnis. Für die Herolde der transatlantischen Tradition reichte eine Wendung, um in den Panik-Modus zu schalten: «Neues Verhältnis zu den USA». Einen Teil der außenpolitischen Szene versetzte die Rede in einen kleinen Schockzustand. In den vergangenen Tagen folgten die Antworten aus dem etablierten außenpolitischen Betrieb:
Ralf Fücks wirft dem Außenminister vor, dieser würde eine «obsessive Abgrenzung von den USA» betreiben. Einschätzungen wie jene, die amerikanische Politik sei in zentralen Fragen diametral gegen europäische Interessen gerichtet oder Deutschland sei potenziell Opfer amerikanischer Rüstungspolitik, bezeichnet Fücks mit Blick auf die Friedensbewegung als «die alte Pershing-II-Rhetorik». Und wie alle anderen hauptberuflichen Atlantiker moniert auch der ehemalige Chef der grünen Böll-Stiftung empört, dass die NATO in dieser Rede «schlicht nicht vorkam».
Dieses Kunststück muss man als deutscher Außenminister erstmal bringen», empört sich Ralf Fücks.
Den Satz von Sigmar Gabriel, dass die USA «unser wichtigster strategischer Partner» bleiben, bewertet der atlantische Vorkämpfer aus dem Grünen-Lager denn auch als «pflichtgemäßes Lippenbekenntnis ohne jede Überzeugungskraft». Eigentlich, so befürchtet Fücks, geht es dem SPD-Außenminister darum, die Sanktionen abzuwerfen und endlich wieder zu «partnerschaftlichen Beziehungen zum Kreml» zurückzukehren.
Was für unbefangene Zuhörer ganz vernünftig klingen mag, stellt aus seiner Sicht den schlimmsten nur denkbaren Vorwurf dar. Laut Ralf Fücks, der kürzlich die Stiftung Liberale Moderne gründete, würde Gabriel mit «seinem Gerede von einer nüchternen Realpolitik» gleich die ganze «europäische Friedensordnung» ins Rutschen bringen — mit diesen Worten bezeichnet Füchs die Pax Americana, die eben, wie Gabriel in einer Seitenbemerkung andeutete, auf das Umfeld der EU keineswegs friedliche Auswirkungen hatte. Anstatt eigener Interessen möchte Ralf Fücks weiterhin «Werte und Normen» zur Grundlage haben.
Für den Springer-Konzern zieht sich Chefreporter Ansgar Graw daran hoch, dass der Außenminister die «globale Dominanz der USA» nicht nur benannte, was für die deutsche Debatte in der Außenpolitik bereits an einen Skandal grenzt, sondern sie sogar in Frage stellte. Dies sei — Trump hin, Trump her — «sehr gewagt», meint Graw mit einem drohenden Unterton. Bis vor kurzem arbeitete der einst von der nationalen Rechten zum Atlantizismus konvertierte Journalist als Auslandskorrespondent für die Springer-Gruppe in Washington.
Auch schätze der Außenminister die internationale Lage überhaupt nicht «realistisch» ein, wenn er davon ausgehe, dass die verschiedenen Krisen in und um die EU bereits ausgestanden seien. Gerade deshalb, meint Ansgar Graw, «brauchen wir starke Partner». Daher empfehle es sich, die USA nicht abzuschreiben, sondern an der transatlantischen Verbindung festzuhalten.
Alle Kommentatoren aus dem atlantischen Lager versuchen erwartungsgemäß die Bedeutung von Donald Trump herunterzuspielen. Bereits im September hatten sie sich darauf verständigt, zu überwintern und ihre Anhänger auf die Zeit nach Donald Trump zu vertrösten. Zusammen mit Ralf Fücks hatten prominente Transatlantiker wie Jan Techau und Sylke Tempel bereits davor gewarnt, eine «strategische Umorientierung der Bundesrepublik» überhaupt in Betracht zu ziehen.
Sie betrachten es als Kernaufgabe deutscher Außenpolitik, «Brücken zu bauen in eine Zeit jenseits der Präsidentschaft Trump» und «wo immer möglich Fortschritte auch mit der Regierung Trump» zu erzielen. Diesem Ansatz erteilt Sigmar Gabriel, der die Diskussion über das transatlantische Manifest genau verfolgte, eine erkennbare Absage: «Das Verhältnis der USA zu Europa wird auch nach Donald Trump im Weißen Haus nicht mehr das gleiche werden, was es einmal war», so seine Kernaussage.
Quelle: RT