EU-Kriegstrommeln – Motivieren sie zum Einsatz für eine bessere Welt?

Lange Zeit, auch im Wahlkampf, war von ihr in Deutschland nur wenig die Rede. Doch jetzt ist sie auch in der deutsche Politik wieder ein Thema: die europäische Einigung und deren Gleichsetzung mit mehr Europäischer Union.

Von Karl-Jürgen Müller

Anknüpfungspunkte dafür sind die Mitte September vom Präsidenten der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker gehaltene Grundsatzrede zur Zukunft der EU, die Europa-Rede des französische Präsidenten Emmanuel Macron und diejenige des Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk. Deutsche Spitzenpolitiker hatten derweil lange geschwiegen.

«Vereinigte Staaten von Europa»?

Aber nun hat sich auch der geschäftsführende deutschen Außenminister Sigmar Gabriel mit einer sehr deutlichen Forderung nach einer eigenständigen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik zu Wort gemeldet. Die deutschen Grünen waren sowieso schon immer dafür. Das bekräftigte der grüne EU-Parlamentarier Jan Philipp Albrecht in einem Interview mit dem Deutschlandfunk vom 11. Dezember 2017. Auch der Parteivorsitzende der SPD Martin Schulz wollte mit seiner Forderung nach «Vereinigten Staaten für Europa» bis 2025, einem dazugehörigen Verfassungsvertrag und einer harten Linie gegen diejenigen in der EU, die dies nicht so wollen, nicht zurückstehen. Seine Forderung soll Kernbestandteil der Koalitionsverhandlungen mit CDU und CSU sein. Das wird auch Frau Merkel nicht unrecht sein, auch wenn sie sich selbst bislang zum Thema bedeckt gehalten hat. Aber ihr Parteikollege und Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, schloss sich dem Ruf nach mehr EU in einem Interview mit dem Deutschlandfunk (6. Dezember 2017) an. Dass die deutsche Stadt Aachen ihren renommierten Karlspreis für das Jahr 2018 dem französischen Präsidenten «für seine Vision von einem neuen Europa und der Neugründung des europäischen Projektes» verlieh und dass am 11. Dezember 2017 nach den Verteidigungsministern nun auch die Außenminister von 25 EU-Staaten die Gründung einer Europäischen Verteidigungsunion beschlossen, rundet das Bild ab.

Aber was ist davon zu halten?

Erinnerung an den US-Agenten Jean Monnet

Spontan erinnert man sich an die strategischen Überlegungen des US-Agenten Jean Monnet, dem «Wegbereiter der europäischen Einigungsbestrebungen» (Wikipedia), der schon in den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts «Krisen» für notwendig befand, um die «europäische Einigung» Schritt für Schritt voranzubringen.

Beigegeben wurde der Mythos vom «Friedensprojekt».

Der Mythos vom «Friedensprojekt»

Aber dieser Mythos hält keiner Prüfung stand. Schon Churchills Zürcher Rede vom September 1946 stand im Zeichen des beginnenden Kalten Krieges und geostrategischer Überlegungen. Dieser Krieg war nicht nur «kalt», sondern hatte Millionen von Opfern: in Südamerika, in Afrika, in Asien (allein in Korea und Indochina mehrere Millionen) … auch in den USA selbst und auch in Europa. Hinzu kommt der berühmt gewordene Satz des ersten Nato-Generalsekretärs und britischen Barons Hasting Lionel Ismay zum Zweck der Nato in Europa: «to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down». Auch Jean Monnets Vorschlag für eine supranationale Behörde zur Kontrolle der deutschen und französischen Kohle- und Stahlproduktion, nach dem sich 1951 die Montanunion mit den 6 Gründungsmitgliedern der späteren EWG bildete, diente vor allem der Kontrolle der westdeutschen Kohle- und Stahlindustrie und war Ausdruck des Misstrauens gegenüber der jungen Bundesrepublik.

Sigmar Gabriels Feindbild und Kriegsrhetorik

Interessant ist, dass diese Ursprünge in der heutigen Debatte eine Wiederbelebung finden. Dafür steht nicht nur, dass der erste konkrete Schritt seit langem die Gründung der Europäischen Verteidigungsunion ist. Typisch dafür ist auch die Rede von Sigmar Gabriel beim einflussreichen «Forum Außenpolitik» vom 5. Dezember 2017, die das deutsche Auswärtige Amt mit «Europa in einer unbequemeren Welt» betitelte. Gabriels Argumentationslinie ist die folgende: Mehr als 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ist Europa – Gabriel meint damit immer nur die EU – erneut bedroht: zum Beispiel von «aufstrebenden Staaten» wie China und Russland. EU-Europa könne sich in dieser ernsten Bedrohungslage aber nicht mehr auf die USA verlassen. Das werde auch nach Trump noch so sein. So bleibe der EU nur eines: nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch und politisch stark und mächtig zu werden: «Wir müssen einsehen: Entweder wir versuchen selbst in dieser Welt zu gestalten, oder wir werden vom Rest der Welt gestaltet.»

Sehr gut dazu passt der Kommentar der bedeutenden «Süddeutschen Zeitung» vom 11. Dezember 2017 zur Initiative von Martin Schulz: «Jetzt hat Martin Schulz Europa endlich ins Zentrum der Koalitionsverhandlungen gestellt. Er fordert, bis 2025 die Vereinigten Staaten von Europa zu schaffen, notfalls auch ohne solche EU-Länder, die in Wahrheit gegen Europa arbeiten. Der Zeitrahmen des SPD-Vorsitzenden ist unrealistisch. Doch sein Ziel ist richtig. Denn nur ein europäischer Bundesstaat kann erreichen, dass Franzosen, Deutsche, Polen oder Portugiesen ihre Souveränität gegenüber Trump, China oder Amazon bewahren. Emmanuel Macron streckt seit Monaten die Hand Richtung Deutschland aus. Irgendwann wird es zu spät sein, sie zu ergreifen.» Also, los!

Wiederbelebung der Vorkriegspolitik

All dass erinnert an Argumentationslinien, die keine Nachkriegs-, sondern eine Vorkriegszeit charakterisieren. Diese Linie ist nicht sauber. Hier gibt es Feindbilder voller Vorurteile. Vielfach ist belegt, dass zum Beispiel Russland und China keinerlei aggressive Absichten gegen Europa hegen, dieses Feindbild dafür aber um so mehr von offizieller Seite mir allen Mitteln aufrecht erhalten werden soll. Die namhafte deutsche Journalistin und Publizistin Gabriele Krone-Schmalz hat dies noch einmal in ihrem neusten Buch, «Eiszeit. Wie Russland dämonisiert wird und warum das so gefährlich ist» (ISBN 978-3-406-71412-2) auf exzellente Art und Weise dargelegt. Russland und China haben immer wieder Kooperationsangebote an Europa gemacht und machen diese bis heute. Beide Länder sprachen und sprechen zurecht von möglichen «Win-win-Situationen», also Möglichkeiten, dass alle Seiten von mehr Kooperation profitieren könnten – aber die EU hat es für «besser» gehalten, den Kalten Krieg gegen Russland zu erneuern und unsägliche Sanktion zu verhängen. Und China wird ohne Grund vorgeworfen, es wolle mit seinem Projekt der «Neuen Seidenstraße» Europa spalten.

Fragen im Geschichtsunterricht

In meinem Geschichtsunterricht gab es eine aufschlussreiche Diskussion. Auf meine Frage, ob es denn sinnvoll sei, heutzutage einen Film über die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden in den Jahren 1933 bis 1945 zu zeigen, antwortete ein Schüler, dies sei doch sehr wichtig. Jeder müsse wissen, was damals passiert ist – um solche Verbrechen künftig zu verhindern. Eine Schülerin entgegnete, jeder wisse doch genau, was damals passiert ist – und trotzdem würden derartige Verbrechen wieder und wieder begangen. Die hieran anknüpfende Frage, ob sich junge Menschen heute für eine bessere Welt einsetzen möchten, beantwortete ein dritter Schüler, ein junger Mann, der sehr an geschichtlichen und politischen Fragen interessiert ist, mit «eigentlich schon» – aber es fehle einem die Richtung. Ich nickte: Bei der Suche danach brauche jeder junge Mensch Unterstützung.

Ein Todesstoß für die Demokratie

Der junge Mann steht für viele junge (und nicht nur junge) Menschen in Deutschland und wahrscheinlich auch in anderen europäischen Ländern. Gerade die interessiertesten und nachdenklichsten unter ihnen, diejenigen, die ein einigermaßen festes Wertefundament haben, sind ratlos geworden. Eine Politik der Grobheit und Gewalt, der Machtpolitik und der Kriegsvorbereitung (und der schon stattfindenden Kriege) schreckt ab. Die besten Herzen und Köpfe werden in die politische Apathie getrieben. Es ist also gar nicht so erstaunlich, wenn ein an historischen und politischen Fragen interessierter junger Mann meint, es fehle einem die Richtung. Wenn dies so weiter geht, wird dem demokratischen Leben der Todesstoß versetzt. Für die Planer der Kriege ist das «sinnvoll», für die meisten Menschen ist dies eine Katastrophe. Allein auf «Widerstand» zu verweisen, kann nicht zufrieden stellen. Und die «innere Emigration» und der Rückzug ins Private sind schon gar keine Lösung.

Kasten:

Gabriels außenpolitischer Wegweiser: Weniger Recht, dafür mehr Macht

«Nur wenn die EU ihre eigenen Interessen definiert und ihre Macht projiziert, kann sie überleben. Die heute noch fehlende Machtprojektion der Europäischen Union hat jedenfalls dazu geführt, dass überall dort, wo sich die USA tatsächlich oder scheinbar zurückgezogen haben, keine Hinwendung zu Europa erfolgt ist, sondern zu anderen Staaten, von denen operationalisierte Macht weit eher erwartet wird: im Nahen Osten z.B. zu Russland und in Afrika zu China. Wir erleben eben, dass die Konkurrenz nicht schläft. Vor zwei Wochen hat der russische Präsident in Sotschi Hof gehalten. […] Eine deutsche Zeitung schrieb dazu: ‹Schwarze Seelen am Schwarzen Meer.› […] Herfried Münkler hat dieser Tage ein interessantes Buch zum Dreißigjährigen Krieg vorgelegt. Er geht darin scharf mit der außenpolitischen Klasse in Deutschland ins Gericht. Er beklagt eine deutsche ‹Fixierung auf das Recht als Bewältigungsform politischer Herausforderungen›, die fast einer Realitätsverweigerung gleich komme. Man traue sich nicht, schonungslos zu analysieren, was wirklich passiere. Stattdessen, so Münkler, schweife der Blick stets zum ‹Horizont moralischer Normen und Imperative›. Was fehle, sei ‹politisch strategisches Denken›. Ich finde, Münkler legt hier den Finger in die Wunde. […] Wir brauchen einen klaren und realistischen Blick auf die Welt – wie sie eben ist. Und nicht nur eine Vision, wie sie eigentlich sein sollte. Auf dieser Basis und mit einem klaren Wertekompass sollten wir dann beherzt für das kämpfen, was wir bewahren und was wir erreichen wollen. Und zwar ohne überdimensionierte moralische oder normative Scheuklappen – und mit der Bereitschaft zur, wie Münkler schreibt, ‹strategischen Kompromissbildung›.»

Sigmar Gabriel in seiner Rede vor dem «Forum Außenpolitik» am 5.12.2017

Quelle: Sputnik