Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan beschloss, den Amerikanern eine Lektion zu erteilen und deren kurdische Verbündete in Syrien anzugreifen — mit Panzern und Fußtruppen. Beeinflusst das auch die Interessen Russlands? Eindeutig.
von Dr. Kamran Gasanow
Inwiefern geht die Situation entlang der syrisch-türkischen Grenze Russland an? Nun, zum einen gehört Afrin zu Syrien, das als ein Verantwortungsbereich der Außenpolitik Moskaus gilt. Zumindest seit 2015, als dort die russischen Luft- und Weltraumkräfte auf Einladung der syrischen Regierung tätig wurden. Zweitens setzt sich der Kreml eindeutig für die Stabilität und den Erhalt der Integrität des Staates ein, dessen Führung sein Verbündeter ist. Und nicht zuletzt kämpfen in Afrin die Türken gegen die Kurden. Am 29. und 30. Januar wird in Sotschi ein Kongress des nationalen Dialogs über die Beilegung des syrischen Konflikts stattfinden. Neben Russland und Iran gehört auch die Türkei zu den Garanten des syrischen Dialogs. Kurden wurden auch diesmal nicht eingeladen.
Kurz gesagt: Russland braucht eine vollständige Einstellung der Kämpfe in Syrien, um den Verhandlungsprozess nicht infrage zu stellen. Aber hier taucht eine wichtige Problemstellung auf: Ist es möglich, die Erhaltung der Einheit der Arabischen Republik Syrien ohne den Einsatz von Gewalt zu erreichen? Kann man zum Beispiel Dschabhat Al-Nusra oder ISIS an den Verhandlungstisch bekommen? Absurd.
Kurden wollen Entschädigung für Leiden unter dem IS
Natürlich kann man die Kurden nicht mit dem IS vergleichen und sie sind auch bereit, am Dialog teilzunehmen. Aber man muss sich auch vergegenwärtigen, dass die tausendfach vom IS ermordeten syrischen und irakischen Kurden, die in weiterer Folge den «Islamischen Staat» in die Knie zwangen, nun eine Entschädigung für ihr Leiden verlangen. In Form von Unabhängigkeit. Das heißt, sie verlangen ihr Kuchenstück in Syrien sowohl mit einer moralischen als auch einer realpolitischen Rechtfertigung.
Wer unterstützt die kurdischen Bestrebungen nach Unabhängigkeit? Die USA und Israel. Was die Motivation der Kurden angeht, ist alles klar: Ein 40-Millionen Volk hat das Recht auf mindestens einen Staat. In Syrien sprechen sie jedoch eher über Autonomie als über Unabhängigkeit.
Für die Vereinigten Staaten wäre ein unabhängiges Kurdistan ein geeignetes Mittel, um die regionalen Supermächte zu schwächen. Vor allem die Türkei und den Iran, die sich weigern, nach amerikanischen Regeln zu spielen. In den frühen 2000er Jahren hat das Pentagon mithilfe der Kurden bereits einen geeinten Irak aufgelöst. Der graduelle Untergang der USA gemäß dem Gesetz vom Lebenszyklus der Großmächte, zusammen mit der Stärkung der Türkei und des Iran, untergräbt den amerikanischen Einfluss im Nahen Osten. An der Schwächung islamischer Länder ist auch Israel interessiert, das als einziges Land die Unabhängigkeitserklärung des irakischen Kurdistans im Herbst anerkannte.
Obwohl sich die syrischen Kurden am politischen Dialog beteiligen, den Russland in Sotschi führt, sind sie im militärischen Sinne sozusagen im Team NATO — als Teil der US-amerikanischen Koalition in Syrien, deren Ziel, wie sich herausstellte, nicht der Kampf gegen den Terrorismus ist, sondern der Zusammenbruch des arabischen Staates. Erscheint das nicht als glaubwürdig? Dann schauen Sie sich den jüngsten Vorschlag der USA an, die so genannten «Sicherheitskräfte» aus kurdischen Militanten (YPG) zur Kontrolle der syrisch-türkischen und syrisch-irakischen Grenzen abzustellen und sie dafür trainieren.
YPG kontrolliert auch nicht traditionell kurdische Gebiete
Die syrischen Volksverteidigungsgruppen (YPG) sind mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) verbunden, deren Terror bereits Hunderte von Zivilisten in der Türkei zum Opfer fielen. Das Ziel der Türkei ist es, Nordsyrien von der Kontrolle der YPG zu befreien, um Waffenlieferungen der YPG an die PKK in der Osttürkei zu verhindern. Ein unabhängiges syrisches Kurdistan würde den Zusammenhalt der Türkei bedrohen. Die YPG kontrollieren ungefähr 30 Prozent des Territoriums Syriens. Während der Kriegsjahre eroberten sie auch Gebiete, in denen zuvor nie Kurden gelebt hatten und auch keine YPG präsent waren — wie etwa Rakka.
Wie sollte Russland nun auf die Situation reagieren? Moskau hat einen Verbündeten in Syrien — Baschar al-Assad. Dieser hatte bereits vorgeschlagen, dass die YPG die Kontrolle über die so genannten Rojava-Gebiete Damaskus übertragen sollen. Die Kurden, die mit der Lieferung der amerikanischen Waffen auch ein entsprechendes Selbstvertrauen erhielten, lehnten den Assad-Plan ab, nach dem Motto: «Es wird schon gut gehen!»
Nun, jetzt, nachdem die Türken den Krieg gestartet haben, bitten die YPG Assad und de facto Russland um Hilfe. Und dies trotz der Tatsache, dass dieselben kurdischen Kämpfer, die Moskau jetzt «Verrat» vorwerfen, noch im Jahr 2017 die Armee Assads daran gehindert hatten, ihre Euphrat-Offensive zu forcieren und den IS in Deir ez-Zor im Osten Syriens zu kämpfen. Ende November 2017 haben sogar einige Medien darüber spekuliert, dass in der Provinz Al-Hasaka die Kurden unter der Schirmherrschaft der Vereinigten Staaten einen Waffenstillstand mit dem IS ausgehandelt hätten. In seinem Buch «100 Tage im IS» erzählt der deutsche Journalist Jürgen Todenhöfer detailliert darüber, wie alle Teilnehmer des Krieges in Syrien und im Irak, einschließlich IS, Al-Nusra und YPG, amerikanische und europäische Waffen aneinander verkauften.
Kehren wir zur Operation «Olivenzweig» zurück. Der langfristige Aufenthalt der Türken in Afrin entspricht nicht den Interessen Russlands, und nach dem Ende des Krieges in Syrien werden die Russen den Abzug aller Streitkräfte anstreben. Aber in dieser Phase scheint es so, als ob Moskau es anstrebt, der kurdischen Miliz, die eine legitime militärische Kraft zu werden versucht und ganze Stücke des syrischen Territoriums unter Kontrolle hält, mithilfe Ankaras eine Lehre zu erteilen.
Russland betrachtet Entfremdung zwischen Washington und Ankara mit Genugtuung
Das «grüne Licht» des russischen Generalstabs für die türkische Operation erlaubt es, die Ambitionen der syrischen Kurden in Bezug auf ihren unabhängigen Staat zu dämpfen. An einem solchen sind weder die Verbündeten Moskaus, Damaskus und Teheran, noch sein Partner Türkei interessiert. Zudem heizen Ankaras Maßnahmen die Spannungen in den amerikanisch-türkischen Beziehungen an, was in Russland nur mit Genugtuung betrachtet werden kann.
Immerhin bombardiert die Türkei nicht nur Afrin, welches das Pentagon nicht als Verantwortungsbereich der US-Koalition betrachtet, sondern auch den kurdischen Kanton Kobani. In der Stadt Manbidsch, wo die Türken YPG-Quellen zufolge Luftangriffe verübten, wurden US-Spezialeinheiten und militärische Ausbilder eingesetzt. Der stellvertretende Premierminister der Türkei, Bekir Bozdag, sagte, dass diejenigen, die den YPG helfen, automatisch als «Zielscheibe» für die türkische Armee gelten. Der Vertreter der US-amerikanischen Koalition, Rhein Dillon, sagte, dass die Amerikaner und deren Verbündete im Notfall auf ihr Recht auf Selbstverteidigung zurückgreifen werden. Es riecht nach einer Spaltung der NATO.
Die USA haben die Kurden in Afrin nicht aufgegeben, sondern konnten ihnen bislang schlicht nicht helfen. Der russische Militärexperte Michail Aleksandrow betrachtet dies als «Präzedenzfall für Hilflosigkeit der Amerikaner». Das schafft eine Konstellation, in der Russland und Assad in der Lage sein werden, das noch unter Kontrolle der YPG stehende Viertel Syriens, einschließlich Rakka, wieder aus dieser herauszulösen. Die Amerikaner können das nicht verhindern, weil sie dort keine «ernsthafte Armee» haben, unterstreicht Aleksandrow. Sollten sich die US-türkischen Beziehungen weiter verschärfen, werden Russland und der Iran Erdoğan volle Unterstützung leisten.
USA müssen auf weiteren «Fall Su-24» hoffen
Im Hinblick auf den Irak sollte man beachten, dass es bereits mehrfach Präzedenzfälle gegeben hatte, in denen die USA ihre eigenen Verbündeten fallen ließen. Im Oktober letzten Jahres flohen Kurden unter dem Druck der Türkei und des Iran während des Ansturms der irakischen Streitkräfte aus dem ölreichen Kirkuk und legten ihre Unabhängigkeitsbestrebungen auf Eis.
Das Weiße Haus spürt voll und ganz den Ernst der Situation, wenn die Türkei mit Unterstützung von Russland und Iran entgegen den Wünschen der NATO-Verbündeten handeln kann. Daher versprach der Nationale Sicherheitsberater von Trump, Herbert McMaster, am 27. Januar, dass die USA keine Waffen mehr an die YPG liefern würden. Unter dem Druck der Umstände werden die USA nun alles tun, um Russland, den Iran und die Türkei wieder auseinanderzudividieren. Washington braucht neue Vorfälle wie die abgeschossene «Su-24».
Quelle: RT