Am 20. Februar 2014 eröffneten unbekannte Scharfschützen auf dem Platz der Unabhängigkeit (Maidan) in Kiew das Feuer und töteten 53 Menschen – 49 Teilnehmer der Massenproteste und vier Beamte der Ordnungskräfte. Ein Korrespondent von Sputnik hat sich mit einigen vermeintlichen Scharfschützen getroffen.
Die Oppositionsführer und Vertreter der USA und der EU warfen den blutigen Vorfall dem „Regime Viktor Janukowitschs“ vor. Doch die offiziellen Ermittlungen stecken in der Sackgasse: Die Täter wurden nie ausfindig gemacht. Diese kommen aus Georgien und behaupten, von den „Maidan“-Anführern Befehle erhalten zu haben. Es geht sogar noch weiter: Es soll ihnen zufolge die Anordnung gegeben haben, nicht nur auf Polizeibeamte, sondern auch auf Protestierende zu schießen, um die Menschenmenge aufzubringen und eine politische Krise zu provozieren.
Dass mit den Schüssen auf dem Platz der Unabhängigkeit gewisse „georgische Scharfschützen“ verbunden sein könnten, hatte der General Tristan Zitelaschwili, der frühere Kommandeur der Elite-Abteilung „Awasa“ der georgische Streitkräfte, erklärt. Zitelaschwili hatte an den Gefechten in Abchasien im August 2008 und an dem damaligen „Fünf-Tage-Krieg“ zwischen Georgien und Russland teilgenommen. Später aber wurde er zum „persönlichen Feind“ Michail Saakaschwilis, als dieser seine Niederlage den Militärs vorwerfen wollte.
Zitelaschwilis Haus wurde von der Polizei gestürmt. Er wurde festgenommen, sein kleiner Sohn wurde bei dieser Gewaltaktion schwer verletzt. Von dem General verlangte man, fiktiv zuzugeben, dass es eine „Verschwörung der Generäle“ gegeben hätte, weshalb Georgien angeblich den „Fünf-Tage-Krieg“ im Sommer 2008 verloren hätte. Der General weigerte sich jedoch, diese Falschaussagen zu machen. Und seit diesem Moment ist er für Saakaschwili ein „persönlicher Feind“.

„Man nannte uns ‚Sonderkommando‘“
Einer dieser Männer, von denen der General sprach, ist Koba Nergadse.
Er war Soldat der georgischen Streitkräfte. In den Jahren 2003 und 2004 nahm er an einigen Spezialeinsätzen im Landkreis Ergeneti zwischen Georgien und Südossetien teil. „Wir kämpften gegen den Schmuggel. Dieses Gebiet ist zwischen georgischen und ossetischen Unternehmern aufgeteilt. Manchmal entstanden Konfliktsituationen, sogar direkte Auseinandersetzungen mit den ossetischen Streitkräften. Unsere Brigade verlor damals elf oder zwölf Männer – genau weiß ich das nicht mehr. Die gesamten Verluste der georgischen Armee machten 45 Soldaten aus“, erzählte Nergadse.
2006 quittierte er als Oberleutnant der Streitkräfte seinen Dienst, wurde aber einige Zeit später mithilfe von Mamuka Mamulaschwili zum Beamten des Sicherheitsdienstes des Verteidigungsministeriums. Mamulaschwili ist gegenwärtig der Kommandeur der so genannten „Georgischen Legion“, die sich an den Gefechten im Donezbecken auf der Seite der ukrainischen Streitkräfte beteiligt. „Ich lernte ihn in der Armee kennen, bei einer Geburtstagsfeier meines Freundes Bescho“, ergänzte Koba.
„Offiziell war die Bewachung von Kundgebungen in Tiflis unsere Aufgabe, damit keine Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern und Gegnern Saakaschwilis passierten. In Wahrheit aber war unser Auftrag, die Aktionen der Oppositionskräfte zu unterdrücken – wir hatten sie zu überwachen“, räumte Nergadse ein.
„Manchmal wurde uns aber auch befohlen, die Oppositionsführer zusammenzuschlagen. Normalerweise trugen wir Sturmmasken bei solchen Einsätzen. Dafür wurden wir als ‚Sonderkommando‘ bezeichnet. Üblicherweise verheimlichten die Beamten unseres Dienstes, wo sie arbeiteten und womit sie sich beschäftigten“, so der Ex-Offizier. Die Agenten wurden nach seinen Worten in „Dekaden“ aufgeteilt. Einer der „Dekaden“-Kommandeure war auch Nergadse. Außerdem kannte er Georgi Saralidse, Merab Kikabidse und David Makiaschwili.
Zu den „Entlohnungen“ für die Einsätze sagte Koba Nergadse, das Verprügeln eines oppositionellen Abgeordneten hätte 1000 US-Dollar gekostet.
Im Dezember 2013 soll Mamulaschwili mehrere „Dekaden“-Kommandeure zu einer Versammlung einberufen und ihnen die Aufgabe gestellt haben, „unverzüglich in die Ukraine zu reisen, um die dortigen Protestteilnehmer zu unterstützen“. Seine Gruppe bekam 10 000 Dollar. Weitere 50 000 Dollar seien seinen Männern versprochen worden, die sie nach der Heimkehr bekommen sollten. Alle haben gefälschte Pässe erhalten. Negradse hatte einen Pass auf den Namen Georgi Karussanidse (geb. 1977).
In Kiew wurde Nergadses Gruppe in der Uschinski-Straße untergebracht. Seine Männer sind jeden Tag auf den Maidan gegangen, als wäre das ihr Job gewesen. „Unsere Aufgabe war, die Ordnung zu kontrollieren, damit niemand dort Alkohol trinkt. Wir sollten die Disziplin fördern und Provokateure ausfindig machen, die entsprechende Aufträge von den Machthabern hatten.“
Silvester feierte Nergadse nach seinen Worten im Hotel „Ukraina“, das von den Protestierenden kontrolliert wurde.
Auch Alexander Rewasischwili war einer, der während der Massenproteste nach Kiew geschickt wurde. Nach seinem Wehrdienst war er Aktivist der Organisation „Freie Zone“, die Michail Saakaschwili unterstützte. Nach seinen Worten drang er in die Reihen der Oppositionellen ein und „organisierte dort Schlägereien und Provokationen“. Die Organisation wurde von Koba Chabasi geleitet, der Rewasischwili mit Mamulaschwiki bekannt machte. Dieser soll sich für seine Dienststellung während des Wehrdienstes interessiert haben: Rewasischwili war Scharfschütze gewesen.
Mitte Februar 2014 kamen Rewasischwili, Chabasi und vier weitere Vertreter der Organisation „Freie Zone“ nach Kiew. In der ukrainischen Hauptstadt stiegen sie in der Wosduchoflotskaja-Straße ab, und später wurden sie in das von den Oppositionellen besetzte Haus des Konservatoriums überführt.
„Waffen brachte Sergej Paschinski“
„Am 14. oder 15. Februar wurden die Gruppenältesten – ich, Kikabidse, Makiaschwili, Saralidse und andere Männer, an deren Namen ich mich nicht mehr erinnere – im zweiten Stockwerk des Hotels ‚Ukraina‘ versammelt. Dort befanden sich Parubi (Andrej Parubi, der ultrarechte ukrainische Politiker, der während der Massenunruhen in Kiew der „Kommandant“ des „Maidans“ war, heute Parlamentspräsident der Ukraine) und Paschinski (Sergej Paschinski, der in viele Skandale involvierte ukrainische Politiker und Abgeordnete der Obersten Rada). Parubi wandte sich an uns: ‚Ihr müsst dem Brudervolk helfen, und bald bekommt Ihr eine Aufgabe.‘ Allerdings präzisierte er nicht, worum es sich handeln würde. Ich hatte schon vorher Waffen bei den Protestierenden gesehen: Jagdgewehre und Pistolen“, so Nergadse.
@ClausKleber: Es gibt keine Faschisten an verantwortlicher Stelle in #Kiew. Rada-Vors. #Parubij ist also Demokrat? pic.twitter.com/4qLfsyLn15
— Ulrich Heyden (@uheyden) 20 апреля 2016 г.
An jenem Treffen soll auch ein gewisser Christopher Brian teilgenommen haben, der den Georgiern als ehemaliger US-Militär vorgestellt wurde.
„Am Abend des 19. Februars erschienen Paschinski und mehrere unbekannte Männer im Hotel, die große Taschen bei sich hatten“, so Nergadse weiter. „Sie zogen SKS-Gewehre, 7,62-Millimeter-Maschinenpistolen ‚Kalaschnikow‘ heraus. Außerdem gab es da ein SWD-Gewehr und ein Gewehr ausländischer Produktion. Paschinski sagte uns, die Waffen wären für die ‚Verteidigung‘ nötig, aber auf meine Frage, gegen wen wir uns wehren sollten, sagte er nichts und verließ das Zimmer.“


„Paschinski bat mich, ihm bei der Wahl der Positionen für Scharfschützen zu helfen. Er sagte, in der Nacht könnte das Konservatorium von ‚Berkut‘ (Polizisten-Spezialeinheit, Anm. d. Red.) gestürmt werden, sodass die Protestierenden auseinandergejagt werden könnten“, ergänzte Rewasischwili.
„In der Nacht, gegen vier oder fünf Uhr morgens, hörte ich Schüsse von Seiten des Oktjabrski-Palastes, wie ich dachte. Paschinski sprang sofort auf, fasste sein Funkgerät und schrie, dass man das Feuer einstellen sollte, dass der richtige Zeitpunkt noch nicht gekommen wäre. Man hörte sofort auf, zu schießen. Gegen 07.30 Uhr (vielleicht etwas später) befahl Paschinski uns allen, dass wir uns vorbereiten und das Feuer eröffnen sollten. Wir sollten zwei, drei Schuss abgeben und sofort unsere Position wechseln. Wir schossen etwa zehn bis 15 Minuten lang. Dann befahl man uns, die Waffen hinzulegen und das Haus zu verlassen“, so Rewasischwili.
Dann kehrte er auf den Maidan zurück. Er hörte, dass die Menschen böse waren. Manche dachten, „Berkut“-Beamte hätten geschossen. Andere dachten, dass die Protestierenden selbst das Feuer eröffnet hätten. „Dann verstand ich: Das könnte böse enden, und ich könnte in eine miese Geschichte geraten – man könnte mich auf der Stelle in Stücke reißen, wenn jemand die Wahrheit erfahren würde. Ich ging weg und spazierte über den Maidan. Dann dachte ich, dass es an der Zeit wäre, wegzufliegen. Ich nahm ein Taxi und fuhr zum Flughafen“, so Rewasischwil.
„Am 20. Februar hörte ich gegen 08.00 Uhr morgens Schüsse von Seiten des Konservatoriums“, erzählte Nergadse. „Drei oder vier Minuten später eröffnete die Gruppe von Mamulaschwili das Feuer aus den Fenstern des Hotels ‚Ukraina‘, aus dem zweiten Stockwerk. Es wurde paarweise geschossen. Nach jedem Schuss ging man in ein anderes Zimmer und schoss weiter. Als alles vorbei war, sagte man uns, wir sollten weggehen. Am selben Tag flogen wir mit Bescho zurück nach Tiflis.“
Das versprochene Geld hat der ehemalige Offizier der georgischen Armee aber nie bekommen. Heute fürchtet er die Rache seitens anderer Ex-„Kollegen“.
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Koba Nergadse und Alexander Rewasischwili sind bereit, ihre Aussagen vor einem ukrainischen Gericht zu bestätigen. Die Redaktion von Sputniknews verfügt über die Kopien der offiziellen Aussagen, die sie den Rechtsanwälten Alexander Goroschinski und Stefan Reschko gegeben hatten, die im Swjatoschinski-Bezirksgericht von Kiew die Interessen der Ex-Beamten der Spezialabteilung „Berkut“ vertreten. Darüber hinaus verfügt Sputniknews über Kopien der Flugtickets Nergadses und Rewasischwilis nach Kiew während der Ereignisse auf dem Platz der Unabhängigkeit. Im Laufe des Tages werden diese Unterlagen veröffentlicht.
Quelle: Sputnik