Warum erringen die Rechten einen Sieg nach dem anderen? Neue Rechtsextreme und Populisten in Europa, darunter Deutschland, wollen nicht nur bei Wahlen gewinnen, sondern auch die Lebensweise der Bevölkerung ändern, schreibt der russische Journalist und Historiker Leonid Mletschin für die Zeitung „Nowaja Gaseta“ (Dienstag-Ausgabe).
Nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit verbessern
Vor einem halben Jahrhundert hat die Jugend rebelliert. Studenten haben im Mai 1968 in Paris Barrikaden errichtet, allerdings nicht zu Waffen gegriffen. Sie schlugen vor, anzuhalten und nachzudenken. Und sie haben ihr Ziel erreicht! Ihnen wurde erlaubt, nicht nur langes Haar zu tragen und sich so anzuziehen, wie es ihnen gefällt. Europa wurde freier und komfortabler. Dies war eine Revolution des Geistes. Die rebellierende Jugend half, den Wert und die Würde des menschlichen Lebens zu begreifen, indem sie die Mauer des Schweigens, der Lüge und Heuchelei zerschmetterte.
Das Schlüsselmotto des Jahres 1968: Gleichheit! Diejenigen, die weder Reichtum noch Macht haben, müssen die gleichen Rechte wie die Mächtigsten dieser Welt bekommen. Die Revolutionäre des Jahres 68 haben die Rechte der ethnischen, religiösen, sexuellen Minderheiten verfochten.
Die Neo-Nationalisten, die im 21. Jahrhundert rebellieren, stützen sich auf das folgende Prinzip: Indigene Völker haben mehr Rechte als Einwanderer. Während es vor einem halben Jahrhundert um die Anerkennung eigener Sünden und Lehren aus der tragischen Geschichte ging, streben die Anführer der Nationalisten heute die Macht an, um die Geschichte zu verändern, sie ausschließlich ruhmvoll und heldenhaft zu gestalten. Genau aus diesem Grund kniete doch der Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Ehrenmal für die Toten des Warschauer Ghettos nieder.
In Polen wurde ein Gesetz verabschiedet, das festschreibt, was über die Vergangenheit gesagt werden darf, und was nicht. Das Gesetz sieht eine Haftstrafe für jene vor, die die Polen wegen Kollaborationen mit Nazis während des Zweiten Weltkriegs kritisieren bzw. sie Kollaborateure bei der Judenvernichtung nennen.
Die Polen haben im Herbst 1939 mutig gegen die Faschisten gekämpft, als andere mit Hitler Freundschaft schließen wollten und zur Eroberung von Warschau gratulierten. Im Gegensatz zu anderen besetzten Ländern gab es keine polnische Kollaborationsregierung, die mit den Nazideutschen zusammenarbeiten würde. Viele Polen schlossen sich der Widerstandsbewegung und den Partisanen an.
Aber man darf auch anderes nicht vergessen.
Im Juli 1941 haben Polen in Dorf Jedwabne auf eigene Initiative – ohne die Deutschen – mehrere Hunderte Juden ermordet, lebend in einer Getreidedarre verbrannt.
Im Jahr 2001 hat sich der damalige polnische Präsident, Aleksander Kwaśniewski, beim jüdischen Volk für diese Verbrechen entschuldigt. Würde er derartiges heute zustande bringen, so würde ihm laut dem neuen polnischen Gesetz eine Haftstrafe drohen.
Laut dem polnischen Publizisten Adam Michnik wollen die Verfasser des Gesetzes den Wählern zeigen, dass sich Polen von den Knien erhebt. Doch das alles habe auch einen unglaublichen Hass gegenüber Juden entfacht, so Michnik.
Die Entwicklung der Wirtschaft, Sozialversorgung, Steuern und Renten – das alles interessiert Nationalpopulisten kaum. Am wichtigsten sind die „richtige“ Wahrnehmung der Vergangenheit und die „korrekte“ Erziehung der Kinder – sie sollen von ihrer Geschichte begeistert sein. Diskussionen über Einwanderer, die Europa überfluteten, sind ein begehrter Anlass, um zu bestimmen, wer das Recht hat, hier zu wohnen und wer nicht.
Geheime Kräfte
Wahlen ändern die europäische Landschaft. Die sozialdemokratischen Parteien verloren in Tschechien, Österreich, Frankreich, Holland die Macht. Nun auch in Italien.
So wurde zum Beispiel die 83.000-Seelen-Stadt Sesto San Giovanni wegen ihrer Nähe zum Kommunismus früher als „Stalingrad Italiens“ bezeichnet, nun herrschen dort Rechte. Seit dem Zweiten Weltkrieg hatten hier linke Parteien das Sagen, bis im Sommer vergangenen Jahres Anti-Immigranten-Aktivisten ins Amt gekommen waren. Anfang März feierte die neue Stadtregierung die Ausweisung von 200 Migranten mit einer Torte.
Auch in Deutschland erlitt die SPD eine erbitterte Niederlage bei der letzten Bundestagswahl. 1998 hatte die SPD noch mehr als 40 Prozent der Stimmen auf sich vereint, 2017 – weniger als die Hälfte davon. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Sozialdemokraten zusammen mit den Zentristen noch die zwei wichtigsten Stützen der europäischen Demokratie. Was ist passiert?
Der Wirtschaftserfolg veränderte die Gesellschaft. Gute Löhne und Renten, zugängliche medizinische Versorgung. Es gibt kein Proletariat mehr. Die Sozialdemokraten haben nichts, wofür sie kämpfen könnten!
Der Anführer der britischen Sozialdemokraten Tony Blair und der Chef der deutschen Sozialdemokraten Gerhard Schröder versuchten ihre Parteien zu modernisieren. Als Regierungschefs suchten sie nach einem Mittelweg zwischen Sozialismus und Kapitalismus.
Doch die Modernisierung verlief schmerzhaft. Ein Teil der Gesellschaft nimmt Neues an. Der andere Teil kann den Zerfall des bisherigen Lebens nicht überleben. Die ländlichen Regionen stecken in der Krise. Die Landbevölkerung forderte den Austritt Großbritanniens aus der EU. Sie unterstützt den Front National in Frankreich. Das ländliche Europa ist gegen die politische Elite und alle, die Erfolge erreichten.
Es gibt Menschen, die überzeugt sind, dass die höchste Macht von unsichtbaren Kräften erobert worden ist, die das einfache Volk unterdrücken. Die Anhänger von Verschwörungstheorien kämpfen gegen die Weltregierung, die niemand gesehen hat, gegen die Dreiseitige Kommission und den Bilderberg-Club, von denen sie nichts wissen. Die Grundsätze, die sich während der Nachkriegsjahre herausgebildet haben und die für die ganze westliche Gesellschaft einheitlich sind, scheinen den Nationalisten als deutliche Beweise der Existenz einer Weltregierung, die die Massenmedien besitzt.
In Ungarn macht die Regierung die Jagd auf den Finanzmann George Soros, dem mehr oder weniger vorgeworfen wird zu versuchen, die traditionellen Werte zu vernichten und die Souveränität Ungarns zu unterminieren. Einst bekam der heutige Premierminister des Landes von der Soros-Stiftung ein Stipendium, um an der Oxford-Universität studieren zu können. Und jetzt nennt er den berühmten Philanthropen einen
Feind des Volkes
Die heutigen Nationalpopulisten verbinden Probleme und Misserfolge mit dem Zustrom von Ausländern. Die EU ist ihnen zufolge der Grund des andauernden Migrantenstroms.
Als Bundeskanzlerin Angela Merkel die Deutschen zur Aufnahme der Zuwanderer aufrief, die im Stich gelassen wurden, war die Empörung groß unter der Bevölkerung – und was macht sie für uns? Wir werden vergessen, wir werden vernachlässigt.
„Eroberer und Besatzer“
Nationalpopulisten nutzten das und wandten sich an die Wähler – Migranten und die Weltregierung nehmen euch die Arbeit weg! Und auch die traditionellen Werte.
Die modernen Mottos: weg mit der Migration und dem Liberalismus! Innerhalb des Landes nimmt dies eine Form des Kampfes zwischen den Liberalen und Konservativen an. Und innerhalb der Europäischen Union ist das ein Konflikt zwischen dem Westen und dem Osten. Oder, noch präziser, zwischen zwei Versionen des Nationalismus.
Westeuropäische Nationalisten sind Nachfolger der Revolution 1968. Sie akzeptieren die wichtigsten Errungenschaften der damaligen Revolution wie zum Beispiel das Recht zur Meinungsfreiheit und das Recht zum Anderssein. In Westeuropa können die Aktivisten der ultrarechten Bewegung ganz einfach homosexuell sein, und das wundert oder stört keinen.
In Osteuropa sind die Nationalisten deutlich radikaler. In Westeuropa wollen sie, dass die nationale Mehrheit die Spielregeln bestimmt. Im Osten wird von einer Gesellschaft ohne nationale Minderheiten geträumt.
Und in Deutschland? Im Osten des Landes werden rechtsextreme Stimmungen immer populärer. Es stellte sich heraus, dass viele Ostdeutsche von den Nazis die Antipathie gegenüber Polen erbten. Zudem hassen sie Afrikaner und überhaupt alle, die anders aussehen.
Die Idee eines ethnisch reinen Staates wurde vom deutschen Romantizismus im 19. Jahrhundert geboren, der Rasse und Staat verband. Das Recht auf Staatsbürgerschaft gehörte nur der größten Ethnie. Alle anderen sind Gäste, die im besten Fall geduldet werden.
Die liberale Demokratie stellt der Rassenidee das Prinzip der Staatsbürgerschaft gegenüber. Alle, die ständig im Land leben, sind dessen vollwertige Staatsbürger. In Osteuropa wird die liberale Idee abgelehnt. Migranten werden als zivilisatorischer Feind dargestellt, wobei Hass gegen jene geschürt wird, die nicht zur Stammbevölkerung gezählt werden. Ungarns Regierungschef formulierte das sehr einfach – Flüchtlinge seien „Eroberer und Besatzer“.
Im Westen gehen die Nationalisten davon aus, dass es ungenügend sei, einen österreichischen oder deutschen Pass zu bekommen, um Österreicher oder Deutscher zu werden – man müsse sich dazu noch die auf diesem Territorium dominierende Kultur aneignen und akzeptieren. Im Osten ist für Nationalisten alles viel einfacher: Du wirst kein Bürger dieses Landes, wenn du nicht in diesem Land geboren wurdest.
Rückkehr ins bereits Durchgemachte?
Kann man in einer solchen Atmosphäre dem Fremdenhass, Nationalismus und Antisemitismus Widerstand leisten? Dieses Thema wurde vom Europäischen Rat für Toleranz und Versöhnung besprochen.
Die westliche liberale Demokratie war immer stolz auf ihre Offenheit, aber die Extremisten nutzen die Demokratie für Hasspropaganda aus, wie der britische Ex-Premierminister Tony Blair warnte. Da stellt sich die Frage: Wie kann die Toleranz geschützt werden, wenn man zu Extremismus und Nationalismus nicht tolerant ist?
„Blutige Ereignisse außerhalb Europas führten zu einem beispiellosen Zustrom von Einwanderern. Unser Kontinent, der die Vorteile der Globalisierung und offenen Grenzen hatte, fühlte sich betroffen und ungeschützt. Eine Antwort wurden Neonazismus und Populismus, Fremdenhass und Antisemitismus. Man muss das Ausmaß der Bedrohung begreifen! Wir brauchen dringend ein neues Denken, das auf die multikulturelle Gesellschaft ausgerichtet ist“, sagte der Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses, Wjatscheslaw Kantor.
Der Aufschwung der nationalistischen Stimmungen ist ein Vorbote einer gesamten antidemokratischen Wende in der Innenpolitik einiger osteuropäischen Länder und ein beängstigendes Beispiel dafür, wie Autoritarismus innerhalb eines formell demokratischen Systems entsteht. Die autokratischen Anführer glauben weder an die demokratischen Grundsätze noch tun sie so, als ob sie diese schätzen. Doch, sie tun’s – aber nur wenn sie wegen Subventionen und Zuschüssen nach Brüssel kommen. Und nachdem sie das Geld bekommen haben, sagen sie stolz: „Brüssel hat uns nichts zu sagen.“
Sie dürsten nach Alleinmacht, deswegen reden sie auch über die Rückkehr zu den ureigenen Werten, über die Wiedergeburt eines „traditionellen“ Europas. Die europäischen moralischen Grundsätze ärgern. Aber derjenige, der seinen Staat aus dem gesamteuropäischen Raum streicht, der ruft dazu auf, einen „besonderen Weg“ zu gehen – und das stammt aus dem Lexikon der deutschen Nazis, die vor allem gegen den Liberalismus und die Demokratie gekämpft haben.
Europäer, die einen neuen Krieg vermeiden wollen, haben die Europäische Union gegründet, um die wichtigsten Entscheidungen auf Basis von gemeinsam entwickelten Rechtsnormen zu treffen. Aber die Globalisierung und Massenmigration haben eine Sehnsucht nach dem traditionellen Nationalismus hervorgerufen. Die Menschheit ist in das 21. Jahrhundert, so auch wie vor 100 Jahren, gespalten geschlittert. Die archaischen Mechanismen des Hasses gegen Fremde funktionieren immer wieder. Die Vergangenheit kommt zurück.
Quelle: Sputnik