Der Westen „bestraft“ Russland: Wird er sich jetzt davon erholen können?

Gestern hatte Russland aus verständlichen Gründen wichtigere Dinge zu tun. Doch die westlichen Staaten haben erneut einen Sieg gegen uns errungen und ihre Stärke demonstriert.

Von Viktor Marachowski

Ehrlich gesagt stimmt das nicht ganz. Der größte Adressat der synchronen Ausweisung russischer Diplomaten war nicht Russland, sondern der Westen.

Die Ereignisse entwickelten sich dynamisch. Am Freitag rief die britische Regierungschefin Theresa May die Kollegen beim EU-Gipfel dazu auf, Russland diszipliniert, wie es in einer freien Welt sein soll, zu bestrafen. Das war ein gewagter Schritt, weil:

1) eine Bestrafung für die Vergiftung des britischen Spions Skripal vorgesehen ist, obwohl noch keine Schuldigen festgestellt wurden und die Untersuchung erst begonnen hat.

2) die Regierungschefin eines Landes, das die EU verlässt und um die Bedingungen des Austritts feilscht, zur europäischen Solidarität aufrief.

Die Mission war nicht einfach. Deswegen berichteten britische Medien bereits am Freitagabend, dass Europa die von Großbritannien aufgedrängte Formulierung angenommen hat.

„Es ist höchst wahrscheinlich, dass es keine andere befriedigende Erklärung für die Vergiftung Skripals außer der russischen Beteiligung gibt“, verlautete beim Gipfel.

Auf die Frage „Warum?“ gab es wieder keine Antwort. Bundeskanzlerin Angela Merkel fasste sich kurz, es seien bestimmte Beweise vorgelegt worden. Es gab keine weiteren Informationen.

Danach kamen die USA zu Wort. Das US-amerikanische Außenministerium sprach ohne Ausdrücke wie „wahrscheinlich“ und „sehr wahrscheinlich“: „Am 4. März setzte Russland bei dem Versuch, einen Staatsbürger Großbritanniens zu vergiften, militärischen Giftstoff ein.“ Es war bereits zu verstehen gegeben worden, dass die USA im großen Stil reagieren werden. So war es auch. Die USA beschlossen, 60 Mitarbeiter der russischen Botschaft auszuweisen. Ihnen schloss sich unverzüglich Kanada an – vier Mitarbeiter der Botschaft wurden des Landes verwiesen.

Danach blieb der freien Welt nur, sich einzureihen, um ihre Loyalität zu demonstrieren. Am Montag kündigten wie erwartet als erste die loyalsten Verbündeten die Ausweisung russischer Diplomaten an – die baltischen Länder und Polen, die insgesamt neun russische Diplomaten ausweisen werden.

Deutschland und Frankreich werden jeweils vier Diplomaten ausweisen. Tschechien belässt es bei drei. Jeweils zwei russische Diplomaten sollen Italien, Dänemark, die Niederlande und Spanien verlassen. Andere EU-Länder kündigten symbolisch die Ausweisung von jeweils einem Diplomaten an – Finnland, Schweden, Rumänien und Kroatien. Nicht-EU-Mitglied Norwegen, das jedoch zur Nato gehört, wird ebenfalls einen russischen Diplomaten ausweisen.

Wie immer sorgte die Ukraine für Verwirrung. Zunächst versprach Kiew, offenbar ohne Kenntnis der Position der USA, dass niemand ausgewiesen werde. Doch anschließend wurde beschlossen, 13 Diplomaten auszuweisen – mehr als Deutschland, Frankreich, Spanien und Italien zusammen.

Zudem kündigten die proamerikanischen Balkan-Länder Albanien und Mazedonien die Ausweisung von Diplomaten an. Sie brauchten überhaupt keine Beweise, denn sie verstanden wohl gleich den Sinn der Aktion – alle küssen den Ring der USA, man muss sich daran beteiligen.

Die Flashmob-Aktion vom Montag endete mit einer sehr direkten und offenen Verkündigung Österreichs. Wien werde „keine Diplomaten ausweisen“, teilten Bundeskanzler Sebastian Kurz und Außenministerin Karin Kneissl am Montag mit: „Vielmehr wollen wir die Gesprächskanäle nach Russland offenhalten. Österreich ist ein neutrales Land und sieht sich als Brückenbauer zwischen Ost und West.“ Dass die Österreicher auf ihre Neutralität verweisen, weckt Erinnerungen an den Kalten Krieg.

Es muss jedoch betont werden – es handelt sich nicht um den Abbau der diplomatischen Missionen Russlands. Etwa 100 Mitarbeiter der Botschaften werden ausgewiesen, doch sie werden ersetzt.

Interessanter ist aber, wie es weiter gehen wird. Die Ungewissheit, ob die „neue antirussische Front“ mehr als nur eine Show ist, ist derzeit die wichtigste Frage.

Denn Großbritannien wollte eigentlich mehr von Europa. Es rechnete mit einem umfassenden Einfrieren der Beziehungen zu Russland, der Verlegung des diplomatischen Konfliktes in den Wirtschaftsraum. Damit ist auch der unerwartet große Zuspruch seitens Washingtons erklärt. Dort wurde wohl gedacht: Wenn man eine Hysterie entfacht, kann vielleicht ein wahrer Sieg errungen werden – gemeint ist der Stopp der Erweiterung der Gas-Projekte.

Denn die Aufhebung des Pipeline-Projekts Nord Stream 2 (mit dem Wechsel vom billigen russischen Rohr zum teuren US-Flüssiggas) ist nicht nur gewinnbringend. Das wäre auch die automatische Verteuerung der Warenproduktion in der EU. Mit Europa haben die USA jetzt nicht einen kalten, sondern sehr konkreten Wirtschaftskrieg.

Doch Europa, das sich diszipliniert der antirussischen Rhetorik anschließt, zeigt keinen Enthusiasmus gegenüber dem wirtschaftlichen Selbstmord. Deutschland teilte vorab mit, dass Nord Stream 2 nicht in Verbindung mit der Skripal-Affäre steht. Österreich, das am russischen Gas ebenfalls stark interessiert ist, äußerte sich noch direkter. Im Ergebnis wird der Skripal-Fall für dieses Vorhaben wohl nicht ausreichen.

Es kann der Eindruck entstehen, dass sich Europa in dieser Situation sehr erfolgreich verhält. Einerseits hält es Formalitäten ein und zeigt Gehorsamkeit gegenüber den USA, andererseits gibt es keine realen Opfer.

Doch allein die Tatsache, dass die EU dem Skripal-Fall blind gefolgt ist und die wahnsinnige Formel wiederholt: „Russland ist schuld, weil es kein anderer außer Russland sein kann“, macht die Europäer sehr anfällig.

Die USA und Großbritannien haben noch viele Skripals, geflohene russische Oligarchen und politische Emigranten in der Hinterhand. Zudem haben sie Rodtschenkow, der bisweilen an die Öffentlichkeit drängt und schreit: „Ich verstecke mich vor Putin, Putin will mich töten.“

Diese Figuren könnten ebenfalls eingesetzt werden. Danach würde man in Europa wohl erklären, dass das wahnsinnige russische Regime keine Warnungen versteht und weiterhin seine Feinde beseitigt. Wollen wir alle zusammen auf eure Kosten dem Kreml unsere Kraft und Einheit zeigen.

Ob Europa dann zusammenhalten wird, ist unklar.

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