Angesichts der Ausweisung zahlreicher russischer Diplomaten aus Europa aus Solidarität mit London wegen des Giftanschlags auf den Ex-Doppelagenten Sergej Skripal erörtern russische Sicherheitsexperten die Frage, ob es „keine andere plausible Erklärung“ für den Vorfall in Salisbury geben könnte, wie Premierministerin Theresa May dies formulierte.
General Alexander Michailow, russischer Geheimdienstveteran, meinte während einer Expertenrunde im Pressezentrum der Moskauer Nachrichtenagentur NSN, Russland hätte von der Vergiftung des Doppelagenten Skripal grundsätzlich nicht profitieren können. „In Großbritannien gehen mehrere Ex-Geheimdienstler Russlands unbewacht herum, die in den Westen geflohen sind, darunter solche Figuren wie Suworow und Gordijewski, die von russischen Gerichten wegen Hochverrats zu Haftstrafen verurteilt wurden. Und sie tun es offenbar, ohne etwas zu fürchten. Skripal dagegen stellt für die russischen Geheimdienste keinen Wert dar, deshalb wurde er auch gegen enttarnte russische Agenten ausgetauscht.“
Der britische Außenminister Boris Johnson hat den russischen Botschafter in Großbritannien aufgefordert zu erläutern, wie der Giftstoff auf britischen Boden geraten sei. Dagegen stellte Michailow die gleiche Frage an Johnson: „Wie ist dieser auf Ihren Boden geraten? Sie haben den Grenz- und Zolldienst, die Geheimdienste, die präventiv handeln sollen. Wenn sie wissen, dass jemand, der verdächtigt wird, anreisen will, dann müssen sie ihn festnehmen. Sonst erhebt sich die berechtigte Frage, warum sich Großbritannien seit einiger Zeit in eine Zone der erhöhten Lebensgefahr für russische Bürger verwandelt?“
Wer profitiert von Konfrontation zwischen Russland und Westen?
Der FSB-General vermutete: „Der IS* könnte davon profitieren, wenn sich die Länder, die gegen den Terrorismus kämpfen, in Zwietracht stürzen. Oft ergeben sich einfach primitivste Alltagsversionen. Aber welche Version auch immer nachgewiesen werden wird, ist der Schuldige bereits bestimmt, es bleibt nach wie vor die Russische Föderation.“
Laut dem Politologen Nikolaj Platoschkin existiert das Nervengift „Nowitschok“ (eigentlich A234), von dem May spricht, gar nicht. Es ist die scherzhafte Slang-Bezeichnung für ein Programm, das viele Giftstoffe enthielt. „Ähnliche VX-Nervengifte besitzen auch die USA. Gerade mit einem solchen Gift ist vor einem Jahr der Bruder von Kim Jong-un vergiftet worden. Darüber hinaus ist London seit 1980 das Zentrum der sogenannten syrischen demokratischen Opposition. Gerade damals ist der erste Aufstand gegen Assad in Aleppo ausgebrochen, der von den britischen Auslandsgeheimdiensten organisiert worden war. Seitdem sitzen sie dort. Nicht zufällig stammen Berichte über syrische Chemiewaffen aus London.“
Sergej Gontscharow, Präsident des Veteranenverbands der russischen Anti-Terror-Einheit „Alfa“, wies darauf hin, dass in Großbritannien sehr viele russische Oligarchen leben, die Präsident Putin hassen. „Die Möglichkeit, dass jemand von ihnen vor den Präsidentschaftswahlen in Russland ein solches politisches Manöver ausgebrütet hat, ist nicht auszuschließen. Machen die russischen Geheimdienste die Untersuchung mit, dann bekommen sie nicht nur heraus, was für ein Giftstoff es war (davon ausgehend wird man sagen können, wie das Attentat geschehen ist), sondern auch, welches Land es hergestellt und nach Großbritannien geliefert hat. Jedoch weigert sich dieses Land, uns Proben des Giftgases zur Verfügung zu stellen. Offensichtlich gibt es da etwas zu verheimlichen.“
Franz Klinzewitsch, Mitglied des Verteidigungs- und Sicherheitsausschusses im russischen Föderationsrat, fügte hinzu: „Jede chemische Substanz, ihre Herstellungsart, das einschlägige Verfahren und der Herstellungsort haben eigene Besonderheiten. So lässt sich anhand einer Probe gleich bestimmen, was für ein Stoff es ist und wo es produziert wurde. Während des Kalten Krieges hat man chemische Waffen vielfach produziert. Solche Fabriken waren auch über die ganze Sowjetunion verstreut. Nach ihrem Zerfall konnten die Amerikaner wie die Europäer von uns viele Technologien übernehmen. Im vergangenen Jahr hat Russland jedoch die vollständige Vernichtung von Chemiewaffen auf seinem Territorium bekannt gegeben. Deshalb verlangen wir eine sorgfältige Untersuchung unter internationaler Aufsicht, die alle Fragen beantworten soll.“
In Bezug auf den Fall Sergej Skripal behaupteten Experten, es gebe zahlreiche Methoden, den Anschlag so auszuführen, dass keiner dahinterkomme, was eigentlich passiert sei. Im Fall Skripal hat man aber viel zu viele Spuren hinterlassen: Auf dem Friedhof ist der Grabstein beschmiert worden, man sucht nach einer Drohne und wo sie beladen wurde, man sucht auch im Gepäck. Wäre aber der Koffer von Skripals Tochter Julia, die aus Moskau kam, mit einem solchen Nervengift versehen gewesen, dann wäre das ganze Flugzeug und der Flughafen samt Personal vergiftet worden, und niemand hätte überlebt.
* Islamischer Staat, auch IS, eine in Russland verbotene Terrorvereinigung