Russland-Politik: Danke EU! Danke NATO!

Was wären die russische Politik ohne die EU? Vor allem ohne die NATO? Es dürfte Präsident Putin kaum je so leicht gefallen sein, den auf nationale Selbstbestimmung bedachten Kurs zu rechtfertigen, wie das im Augenblick möglich ist. Ein Teil des europäischen Staatenbundes, besonders die Führungsgruppe um Deutschland, liefert die überzeugendsten Argumente seit langem.

Von Lutz Herden

 

Die stattfindende Massenausweisung russischer Diplomaten rangiert da weit vorn. Können sich die besten Propagandisten des Kreml einen besseren Beleg für die verstiegene antirussische Passion des Westens ausdenken? Die Kommentatoren staatsnaher oder -freundlicher Medien in Moskau dürfen sich getrost zurücklehnen. Es reicht der Verweis auf diese Kampagne und die sie begleitende Hysterie. Das spricht für sich wie sonst nichts.

Ja, was denn nun?

Weder wird der Befund von Chemiewaffen-Inspektoren zu Salisbury abgewartet, noch die Regierung May in die Beweispflicht genommen, aber die nächste Stufe der Eskalation sehr wohl gezündet. Wer einmal anfängt, kann eben nicht mehr aufhören. Dabei unterlaufen im Eifer des Gefechts kleine Wackler (besser: Ungenauigkeiten), die zeigen, wie wenig seriös vorgegangen wird. In der Erklärung Großbritanniens, der USA, Deutschlands und Frankreichs zur mutmaßlichen Schuld Russlands am Salisbury-Anschlag ist die Rede von einem „militärischen Nervenkampfstoff eines Typs, wie er von Russland entwickelt wurde“. Als sei bis dahin nicht stets die Lesart kolportiert worden, es handele sich um „Novichok“, das in der Sowjetunion entwickelt wurde, wovon Russland noch Restbestände habe. Ja, was denn nun?

Trotzdem bleibt ein kleiner Hoffnungsschimmer, das die Vernunft im vereinten Europa nicht vollends ausgedient hat. Den Hardlinern in der EU ist es nicht gelungen, alle Mitgliedsstaaten für sich zu vereinnahmen. Griechenland und Bulgarien hatten schon bei der Russland-Erklärung des EU-Gipfels vom 22./23. März Bedenken angemeldet und verweigern sich nun dem Diplomaten-Rauswurf. Desgleichen Zypern, Malta, die Slowakei und Slowenien. Auch die NATO-Staaten Belgien, Portugal und Luxemburg ziehen nicht mit. Österreichs Kanzler Sebastian Kurz sieht ebenfalls keinen Anlass für diesen makabren Schulterschluss und erklärt, die «Brückenschlagfunktion» des eigenen Landes nach Osten nicht gefährden zu wollen.

Vorlauter Klassensprecher

Hatte sich die nicht auch Deutschland immer zugute gehalten? Warum gebärdet sich dann die Bundesregierung vor allem in der Person des neuen SPD-Außenministers wie ein Rottenführer und vorlauter Klassensprecher, der penibel darauf bedacht ist, die Spannungen mit Russland zu verschärfen, wie das seit dem Ende der Sowjetunion noch nie der Fall war? Es scheint eine ständig steigende Dosis an Selbstvergewisserung vonnöten, um sich für satisfaktionsfähig halten zu können. Wo ist die Grenze?

Dass nun auch die NATO russischen Diplomaten die Akkreditierung entzieht, stempelt die Beteuerungen vergangener Monate, man wolle doch im NATO-Russland-Rat den Dialog nicht abreißen lassen, zur Farce.

Dieses Gremium war 1997 gebildet wurden, um Einwände Russlands wegen der NATO-Ostausdehnung zerstreuen und kanalisieren zu können, das zu recht darüber beunruhigt war, wie die westliche Allianz seiner Westgrenze immer näher kam. Wie würden die USA auf ein Militärbündnis, gebildet aus Mexiko, Venezuela, Kuba und womöglich Nicaragua, an ihrer Südgrenze reagieren? Die Frage beantwortet sich leicht, wird erinnert, wie sich die Kennedy-Regierung 1962 zur Stationierung sowjetischer Raketen auf Kuba verhielt. Die Welt stand auf der Schwelle zum Krieg. Verglichen damit erscheinen die Reaktionen Russlands seit den ersten NATO-Aufnahmen in Osteuropa im März 1999 verdammt gemäßigt.

Nun jedoch wird ausgerechnet der NATO-Russland-Rat, für den die ausgewiesenen russischen Diplomaten unter anderem zuständig waren, nicht als Instanz des Ausgleichs, sondern als Vehikel der Eskalation und für einen bewusst herbeigeführten politischen Kollateralschaden der Skripal-Affäre missbraucht, der nachwirken wird. Allein schon deshalb, weil Moskau auf Gegenmaßnahmen schwerlich verzichten wird.

Noch eine Steilvorlage

Wie verlogen vor allem die deutsche Position in dieser Hinsicht ist, kann der Tatsache entnommen werden, dass am Tag der NATO-Sanktionen gegen Russland staatliche Behörden in Deutschland wie das Bundesamt für Seeschifffahrt und Hydrografie den Bau der umstrittenen Ostseepipeline Nord-Stream-II im gesamten Abschnitt der deutschen Ostsee genehmigt haben. Das dafür zuständigeTochterunternehmen des russischen Gazprom-Konzerns hat jetzt alle dafür nötigen Genehmigungen in der Hand und kann loslegen.

Wo bleibt da die Solidarität mit Großbritannien? Wo die mit der Ukraine, das nun viele Transitgelder verlieren wird? Wo die Solidarität mit Polen, das sich doch von der ökonomischen Aggression Russlands ungemein bedroht fühlt? Noch eine Steilvorlage für Wladimir Putin? Vor allem ein Zeichen dafür, wie sehr hierzulande das politische Personal des Russland-Bashings sein Publikum verachtet.

Erschienen auf Der Freitag