Ukraine: »Anschläge auf Anwälte und deren Familien«

Unter Präsident Petro Poroschenko wird das Rechtssystem der Ukraine immer weiter ausgehöhlt. Juristen wehren sich. Gespräch mit Vitalii Serdiuk.

Interview von Wladimir Sergijenko auf Junge Welt

Seit Jahren sind Sie als Anwalt in der Ukraine tätig, leiten eine Sektion des Verbands der Juristen. Was können Sie über den Zustand des Rechtsstaat des Landes sagen?

Meine Kollegen und ich fürchten um den Rechtsstaat in der Ukraine. Der Druck auf Anwälte, insbesondere auf Strafverteidiger, nimmt stetig zu. Wer Topmanager, öffentliche Personen oder Politiker vertritt, die der politischen Führung nicht passen, weil sie opponieren und Kritik an den bestehenden Verhältnissen üben, gerät selbst in den Fokus der politischen Administration.

Was passiert dann?

Über die Medien erfolgt in der Regel eine Vorverurteilung. Hohe Funktionsträger, selbst der Generalstaatsanwalt, nehmen die Rechtsanwälte quasi in Mithaftung für die Personen, gegen die ermittelt wird und die wir juristisch vertreten. Die Unschuldsvermutung gilt nicht mehr. Es geht aber noch weiter. Es gibt Anschläge auf Anwälte, deren Fahrzeuge, Wohnungen und auf ihre Familien: Es erfolgen auch »legale« Durchsuchungen von Kanzleien; Unterlagen und Computer werden häufig beschlagnahmt. Die Maßnahmen reichen bis zum Entzug der Anwaltszulassung.

Es heißt, das zwei Ihrer Anwaltskollegen – Olga Prosyanuk und Alexander Goroshinsky – sogar unter Anwendung körperlicher Gewalt aus dem Gerichtssaal entfernt wurden. Um was ging es da?

Sie befassen sich mit den Mordfällen auf dem Maidan 2014. Bekanntlich starben dort zwölf Menschen und 944 wurden verletzt. Bis heute wurden die Täter nicht ermittelt, und seit Jahren schon kritisieren auch internationale Institutionen den fehlenden Aufklärungswillen der Administration. Für diese Verschleppungs- und Vertuschungstaktik kann es doch nur einen Grund geben: Die Täter und ihre Hintermänner sollen gedeckt werden. Übrigens: Auf Olga und mich wurde auch schon geschossen, als wir mit unseren Kindern unterwegs waren. Gottlob wurde niemand bei diesem Anschlag getroffen.

Das klingt eher nach Bananenrepublik denn nach Rechtsstaat.

Wir haben inzwischen ein Maß an Rechtsunsicherheit erreicht, das nach meiner Überzeugung sich nicht mehr von innen wird korrigieren lassen. Nicht nur die 2016 beschlossene Justizreform tritt auf der Stelle, sie ist regressiv. Eine inzwischen gängige Methode ist die Zusammenlegung von Gerichten. Das Kiewer Bezirksgericht Pechersk, welches Mordfälle auf dem Maidan verhandelte, wurde auf Weisung von Präsident Poroschenko liquidiert und mit einem anderen Bezirksgericht »verschmolzen«. Das bedeutete die Entlassung der Richter und die Bestimmung neuer, die sich erst einarbeiten müssen. Das Gleiche passierte mit dem Obolonsky-Bezirksgericht. Es regiert politische Willkür, die Unabhängigkeit von Gerichten und Richtern existiert so wenig wie die von Anwälten.

Von einer normalen Anwaltstätigkeit kann also kaum gesprochen werden.

Wer die Defizite bei der Justizreform oder bei der Korruptionsbekämpfung kritisiert, bekommt es oft mit den Behörden zu tun. Aktivisten des Antikorruptionsaktionszentrums wurden vom Inlandsgeheimdienst SBU mit politisch motivierten Verfahren unter Druck gesetzt. Poroschenko weigert sich – obwohl er der EU und dem Internationalen Währungsfonds dies zugesagt hatte –, ein unabhängiges Gericht zu schaffen, das gegen hochrangige Politiker und Beamte wegen des Verdachts von Korruption verhandeln soll. Die Einflussnahme des Präsidenten auf die Justiz ist enorm. Insider gehen davon aus, dass er etliche Verfassungsrichter mithilfe kompromittierender Erkenntnisse kontrolliert. Im Herbst 2017 erklärte er auf dem internationalen Forum »Yalta European Strategy« in Kiew, die Ukraine sei nicht Uganda und man müsse kein eigenes Gericht für Korruptionsfälle schaffen.

Was gedenken Sie zu unternehmen? Ihre Kanzlei schließen?

Nein, natürlich nicht, das hieße zu kapitulieren. Wir suchen inzwischen auch Verbündete im Ausland, Partner und Organisationen, denen die Einhaltung der Menschenrechte und und die Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit in der Ukraine wichtig sind. Wir wollen den internationalen Druck auf das Poroschenko-Regime erhöhen, um einen Polizeistaat zu verhindern. Zu diesem Zwecke bin ich in der Osterwoche auch in Berlin, um politische Gespräche zu führen.

Vitalii Serdiuk ist ein in Kiew niedergelassener Anwalt. Er ist Sektionsleiter des Verbands der Juristen der Ukraine und Mitglied der Nationalen Assoziation der Rechtsanwälte