Der frühere brandenburgische Ministerpräsident und SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck glaubt, das eigentliche Problem, das der Westen mit Russland habe, sei die Tatsache, dass Russland wieder selbstbewusst eigene Interessen formuliert und durchzusetzen versucht. So wie es die USA und der Westen seit Jahrzehnten wie selbstverständlich weltweit tun.
„Warum immer wieder Putin?“ war das Motto einer Diskussionsveranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Und die der Linkspartei nahestehende Denkfabrik hatte offenbar ins Schwarze getroffen, mit Thema und Gesprächspartnern, denn der Andrang war so enorm, dass die Veranstaltung spontan in einen deutlich größeren Saal umziehen musste und deshalb mit Verzögerung begann.
Auf dem Podium diskutieren Kerstin Kaiser, die Leiterin des Moskauer Büros der Stiftung, die Autorin und Friedensaktivistin Daniela Dahn und der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident und SPD-Vorsitzende Matthias Platzeck.
Westen trauert der Jelzin-Ära hinterher, weil Russland als internationaler Akteur ausfiel
Bezüglich der Veranstaltungsfrage waren sich alle drei einig: Im Westen herrscht deshalb solche Verwirrung über die vergleichsweise enorme Popularität von Wladimir Putin in Russland, weil der Westen den Zeiten von Boris Jelzin nachtrauert, die Russland zum Selbstbedienungsladen verkommen ließen und die ehemalige Supermacht als eigenständigen Akteur von der Bühne der Weltpolitik fegten. Kerstin Kaiser rief deshalb noch einmal Fakten in Erinnerung:
„Als Putin 1999 Präsident wurde, hat er versucht, die Oligarchen aus der Politik zu drängen, das Primat der Politik wiederherzustellen und gleichzeitig dem Land administrative Strukturen zu geben. Und daraus ergab sich auch eine Wiederherstellung eines Alltags, einer Grundversorgung der Leute. Es gab wieder Geld auf der Arbeit, es gab eine planbare Zukunft auf einem bestimmten Niveau. Die Willkür und die völlige Unsicherheit, das völlige Vakuum in der Gesellschaft wurden überwunden. Und dieses Vertrauen, ein Land aus der Krise herauszusteuern, das ist im Augenblick das größte Guthaben, was Putin hat. Das Votum der Bürgerinnen und Bürger muss uns beschäftigen. Das hat damit zu tun, dass sie diesen Zustand für erhaltenswert halten und dass sie der Auffassung sind, dass dieser Präsident ihr Land wieder repräsentiert, im Unterschied zum Zaren Jelzin, so nennen sie ihn nämlich, der sie blamiert hat.“
Verstehen ist doch etwas, was wir alle anstreben sollten
Auch Daniela Dahn gehört zu jenen, die gerne von deutschen Medien als „Russlandversteherin“ bezeichnet wird. Sie weiß, dass das denunzierend und abwertend gemeint ist, um ihre abweichenden Meinungen zu verunglimpfen, aber eigentlich verrät es ja mehr über das beschränkte Denken der Urheber dieses Begriffes:
„Dann kann ich mich auch nur wundern, wie das schöne Wort ‚verstehen‘ einen Vorwurf bilden kann. Ich bemühe mich um dieses Verstehen, das gelingt nicht immer, aber Verstehen ist doch etwas, was wir alle anstreben sollten. Und das alleine kann ja wohl kein Grund sein, sich von jemandem zu distanzieren.“
Daniela Dahn hat wie alle Referenten an diesem Abend durchaus Probleme mit der aktuellen russischen Politik bzw. mit befremdlichen Erscheinungen und Entwicklungen in der russischen Zivilgesellschaft. Zugleich aber ist sie ebenso befremdet über Doppelmoral und Doppelstandards und eine Überheblichkeit westlicher Politik und Medien Russland gegenüber:
„Wenn ich schon immer das Wort Strafmaßnahme höre. Das hat so etwas Unglaubliches, wie von einem Erziehungsberechtigten, der ein Kind bestraft. Und ich frage mich, welche deutsch-russische Geschichte bringt uns eigentlich in dieses Amt des Erziehungsberechtigten Russlands?“
Es ist wieder Zeit für eine Politik des „Wandels durch Annäherung“
Daniela Dahn, die stolz auf ihre späte Freundschaft mit Egon Bahr ist, einem der Architekten der einstigen Strategie des SPD-Kanzlers Willy Brandt „Wandel durch Annäherung“, erinnerte an die Grundlagen genau dieser, letztlich erfolgreichen Politik, verhandeln ohne Vorbedingungen, die Interessen des Anderen einfach nur wahrnehmen.
Egon Bahr war auch ein gutes Stichwort für Matthias Platzeck. Denn auch er verwies unter mehrfacher Bezugnahme auf Bahr immer wieder darauf, dass die heutigen rigiden Maßstäbe des Westens – an die er sich ja selbst oft nicht hält – in den 60er und 70er Jahren zu einem kompletten Stillstand und totaler Sprachlosigkeit der Beziehungen zwischen Ost und West geführt hätten. Vielen sei heute überhaupt nicht mehr bewusst, welche ungeheure visionäre Kraft die These vom Wandel durch Annäherung hatte, als sie von Bahr 1963 in Tutzing zum ersten Mal vor Publikum skizziert wurde:
„Höhepunkt des Kalten Krieges, Mauerbau, Kubakrise, Besetzung der Tschechoslowakei. Das würde heute zu einer Eskalation von Sanktionen führen, wahrscheinlich gäbe es gar nicht so viele Diplomaten, die man ausweisen könnte. Und das Paradoxe besteht darin, dass er damals angeboten hat, Wandel durch Annäherung. Und in diesen drei Worten, selbst in der Wortstellung, liegt ein ganzes Programm, nicht Annäherung durch Wandel, sondern Wandel durch Annäherung. Das heißt, wir stellen erstmal keine Vorbedingungen, sondern wir wollen uns einfach annähern, und dann können wir mal sehen, ob ihr vielleicht am Ende die Gesellschaftsentwürfe, die wir haben, reizvoll findet oder nicht. Heute machen wir es umgedreht, wir sagen, erst müsst ihr euch komplett wandeln, ihr müsst genauso werden wie wir, dann können wir uns annähern.“
Die politische wie menschliche Größe der seinerzeitigen Entspannungspolitik und Entspannungspolitiker auf allen Seiten, die fehle heute, meint Platzeck. Das könne damit zusammenhängen, dass eine Generation von Politikern ausstirbt, die das Grauen des Zweiten Weltkrieges noch erlebt hat und deshalb bereit war, die Friedenssicherung über alle ideologischen Differenzen zu stellen, in Ost und West.
Russland ist wieder da auf der Bühne der Weltpolitik, dem Westen missfällt das
In Bezug auf das heutige Russland und das gespannte Verhältnis zum Westen glaubt Platzeck, der Westen leide in Wahrheit an der Erkenntnis, dass Russland, gegen alle Erwartungen und Hoffnungen, als sogenannter Global Player wiederauferstanden ist:
„Dieses Land hat jahrelang überhaupt nicht mehr vermocht, eigene Interessen zu formulieren. Es war letztlich im Überlebenskampf, es ist zerfallen. Und wir haben gedacht, so bleibt das, mit denen müssen wir nicht mehr rechnen. Und die USA haben sich ganz schnell eingerichtet in dieser völlig alleinigen Supermachtstellung. Nach dem Motto, und Trump sagt das jetzt nur deutlicher als andere vorher, es geht jetzt nach dem, was wir wollen! Und dann kommt plötzlich dieser Koloss doch nochmal und fängt wieder an, eigene Interessen zu formulieren. Wo wir uns übrigens bei den USA völlig daran gewöhnt haben, dass die Interessen formulieren und auch relativ robust durchsetzen. Und ich glaube, die Phase, in der wir jetzt sind, ist, dass wir manifest erkennen, dass dieses Riesenland doch wieder eigene Interessen hat. Und damit kann der Westen überhaupt noch nicht umgehen.“
Das betrifft auch die beiden schwierigsten Punkte, die momentan eine wirkliche Entspannung zwischen Russland und dem Westen behindern, Ostukraine und Krim. Ersterer Konflikt sei ganz klar ein Fall für UN-Blauhelme. Und auch für die Krim sei ein Rückgriff auf Egon Bahrs Entspannungspolitik vielversprechend, findet Platzeck. Bahrs Credo war immer: Es gibt Probleme, die wir dringend gemeinsam besprechen und lösen müssen. Und es gibt Probleme, die wir derzeit nicht lösen können. Lasst sie uns zurückstellen und zuerst die Probleme lösen, die wir lösen können und müssen. Dieses Prinzip lasse sich auch auf die Krim-Frage heute anwenden, glaubt Platzeck, wobei er findet, der Westen und westliche Medien sollten sich gerade in dieser Frage nicht dümmer stellen als sie sind:
„Der Punkt war doch 2014 ganz klar erreicht, für jeden zu besichtigen, man kann jetzt die Krim-Geschichte hin und her wenden, Volksabstimmung hin, Volksabstimmung her, lass ich jetzt mal alles weg. Die Initialzündung für die Frage der Krim war, dass die reale Gefahr aus Moskauer Sicht bestand, dass amerikanische Fregatten in Sewastopol einlaufen. Und da hätte kluge, weitsichtige Politik im Vorfeld sehen müssen, da ist die Grenze für die Russen überschritten, Völkerrecht hin und her, das werden sie niemals akzeptieren. Und das muss jetzt, glaube ich, erst Stück für Stück aufgearbeitet werden, wenn wir wieder zu einem einigermaßen ausgeglichenen Verhältnis kommen wollen. Und da hoffe ich, dass genügend Weitsicht in politischen Etagen vorhanden ist, um das mit ins Kalkül zu ziehen, sonst werden wir uns die Zähne ausbeißen, und es wird fürchterlich enden.“
Das Podium dieses Abends appellierte an die deutsche Zivilgesellschaft, wenn die Politik nicht fähig oder willens sei, den Dialog mit Russland zu suchen und zu forcieren, dann sei es eben Aufgabe der Zivilgesellschaft diese Kontakte zu pflegen, auf der Ebene der einfachen Menschen. Das sei auch dringend erforderlich, wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier bei seinem jüngsten Russland-Besuch mahnend feststellte, als er konstatierte, dass eine Entfremdung zwischen unseren beiden Völkern drohe. Die Gefahr, die von dieser Entfremdung ausgehe, formulierte Matthias Platzeck so:
„Wo Entfremdung Raum greift, wo Leute immer weniger übereinander wissen, wo man die Kultur des Anderen nicht kennt, die Sprache des Anderen nicht kennt, die politischen Verhältnisse, wo man keine persönlichen Verbindungen hat, kannst du dem jeweils Anderen den größten Blödsinn über den wiederum Anderen erzählen.“
Ausschnitte aus der Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung „Warum immer Putin?“ vom 26. März 2018 zum Nachhören hier:
O-Ton-Ausschnitt Daniela Dahn:
O-Ton-Ausschnitt Kerstin Kaiser:
O-Ton-Ausschnitt Matthias Platzeck:
Quelle: Sputnik