Der ehemalige deutsche Botschafter in Polen und Indien Frank Elbe hat mit einem Artikel, in dem er sich für eine diplomatische Annäherung an Russland ausspricht, für Aufsehen gesorgt. Der ehemalige Büroleiter von Hans-Dietrich Genscher warnt im Sputnik-Interview die westlichen Regierungen davor, nicht auf ihre Bevölkerungen zu hören.
Herr Elbe, die USA haben als Begründung für die letzten Sanktionen, die sie gegen Russland verhängt haben, keine konkreten Vergehen angegeben, sondern sie mit Russlands „bösartigen Tätigkeiten“ begründet. Moskau soll für die „Gesamtheit seiner Aktivitäten“ bestraft werden. Alles, was aus Russland kommt, ist also böse?
Ja, es erweckt den Eindruck, dass das so ist. Was die Sanktionen in Amerika angeht, darf man aber vielleicht auch überlegen, ob das eine inneramerikanische Auseinandersetzung ist. Präsident Trump ist im Wahlkampf angetreten mit dem Wunsch, die Beziehungen zu Russland zu verbessern. Er hat das auch in seiner ersten Rede vor dem Kongress wiederholt. Und da hat man ihm einen Strich durch die Rechnung gemacht mit der Verhängung der Sanktionen vor einem Jahr. Es sieht so aus, dass wir gegenwärtig eine Situation haben, in der das Repräsentantenhaus und der Senat, aber auch Teile der Administration eine Politik der Öffnung gegenüber Russland auf jeden Fall verhindern wollen.
Die USA und Russland – das ist so der große Showdown. Aber der Rattenschwanz ist ja doch auch mehr oder weniger ganz Europa, gerade jetzt bei den letzten Fällen, der Vergiftung des Ex-Spions Sergej Skripal und dem angeblichen Chemiewaffenangriff in Syrien. Die Reaktionsketten erscheinen mir – ich bin kein Diplomat – extrem kurz. Hat sich da die Weltdiplomatie verändert? Ist das so Usus, dass man so schnell auf den Zug aufspringt, ohne Beweise abzuwarten?
Was wir da erlebt haben, hat relativ wenig mit Diplomatie im klassischen Sinne zu tun. Das sind Reaktionen von Regierungen gewesen. Ob diese Regierungen sich immer von Weisheit haben leiten lassen und von der Einsicht, wie man richtig mit einem Partner umzugehen hat, möchte ich infrage stellen.
Ich glaube, Sie haben mal gesagt, dass Diplomatie immer auch Interessenvertretung ist. Wird die Weltordnung in gewisser Weise gerade neu geschaffen?
An der Oberfläche sieht das alles nach einer Lagerbildung aus. Die Frage, die sich stellt, ist: Kann man diese Lagerbildung in einer Zeit, in der wir heute leben, noch vertreten? Wir haben zum ersten Mal bei der Kubakrise erlebt, wie die Militärs mit einer Begriffsschaffung reagiert haben: Sie teilten die Welt auf in Tauben und Falken – aus Frustration darüber, dass Kennedy eine Lösung verhandelt hatte mit Chruschtschow, die im Grunde genommen die unmittelbare militärische Konfrontation verhindert und auch zu großartigen politischen Ergebnissen geführt hat, eigentlich zur Einleitung der ersten Schritte der Entspannungspolitik. Darauf kommt es an. Es kommt nicht darauf an, dass wir Lager bilden und dann aufeinander schlagen. Das ist nicht der richtige Ansatz der Politik und der Diplomatie.
Wenn man in die Medien schaut, und auch die meisten Politiker äußern sich entsprechend, scheinen die Falken aber im Moment gewonnen zu haben, oder?
Über eins muss man sich im Klaren sein: Auch die Politik muss sich vergegenwärtigen, dass sie zurzeit mit einer Bevölkerung umgehen muss, die anders denkt. Es ist in Deutschland so, dass 80 Prozent der Menschen sich für eine Verbesserung der Beziehungen zu Russland ausgesprochen haben. Das ist ein ganz wichtiges Zeichen. Da kann auch keine politische Partei dran vorbeigehen. Und ich glaube, dass es heilsam sein wird, insoweit, dass die Lagerbildung aufhört.
Wo steht denn nun Deutschland in diesem Konflikt zwischen den USA und Russland oder auch zwischen Großbritannien und Russland jetzt? Wie schätzen Sie zum Beispiel den neuen Außenminister ein? Wie, denken Sie, wird die Marschrichtung der Bundesregierung in Bezug auf Russland sein in den nächsten vier Jahren?
Ich glaube, dass alle Bundesregierungen letztlich in der Kontinuität der von Willy Brandt eingeleiteten Politik stehen. Ich glaube, dass es gegenwärtig keine Partei im Bundestag gibt, die nicht von der Einsicht bestimmt ist, dass man die Beziehungen zu Russland nicht einfach beenden darf. Wir brauchen die Kooperation mit Russland, was natürlich auch bedeutet, dass wir in bestimmten Fragen Charakter und auch Stärke zeigen müssen, was zum Beispiel die Verurteilung der Annexion der Krim angeht. Aber die Geschichte bleibt da nicht stehen. Das ist doch das Entscheidende. Und vielleicht sollte man auch mal darüber nachdenken, ob die Behauptung, das sei alles planmäßig vor langer Zeit vorbereitet worden, richtig ist – oder ob es nicht vielleicht doch eine Reaktion ist, weil aus russischem Verständnis heraus mit der Begünstigung eines Putsches in der Ukraine eine rote Linie überschritten worden ist.
Sie sagen, jede Bundesregierung verfolgt die Linie von Willy Brandt. Aber es gibt schon einen Unterschied zwischen Heiko Maas und Hans-Dietrich Genscher, oder?
Lassen Sie es mich so sagen: Gabriel hat eine sehr, sehr interessante Vorgabe gemacht in einer aktuellen Krise. Indem er sich rückbesonnen hat auf die Politik von Egon Bahr. Das ist der richtige Ansatz. Und ich habe den Eindruck, dass es vielleicht bei Herrn Maas ein Problem seiner eigenen persönlichen Profilierung ist. Irgendjemand muss ihn da irregeleitet haben, sein außenpolitisches Profil zu etablieren, indem er all das, was Gabriel in dem Jahr, wo er Außenminister war, gemacht macht, auf den Kopf stellt. Im Grunde genommen ist es Aufgabe der SPD, den Mann wieder einzufangen.
Sind Sie optimistisch, dass es in den nächsten Jahren zu einer Annäherung an Russland kommen wird? Und was wäre dafür nötig?
Ich bin sehr optimistisch. Und ich würde sogar den Zeitraum verkürzen. Ich könnte mir vorstellen, dass auch gerade die Überspitzung der Situation dazu geführt hat, dass wir vielleicht mit neuen Initiativen rechnen können. Ich hoffe sehr, dass bei dem Besuch von Macron in Russland die Gemeinsamkeit der Positionen von Frau Merkel und Macron deutlich gemacht wird, dass man mit Russland wieder gut zusammenarbeiten muss. Was ist nötig dafür? Eigentlich ist es nötig, dass man zu den elementaren Grundsätzen der Diplomatie zurückkehrt. Das Wesentlichste in der Diplomatie ist Klarheit, nicht Härte. Klarheit. Ich kann mich an eine Situation erinnern, wo Gromyko (Andrei Gromyko, von 1957 bis 1985 Außenminister der UdSSR – Anm. d. Red.) im Zusammenhang mit dem KSZE-Prozess mal gesagt hat: „Herr Genscher, Sie wollen ein Loch in unserem Zaun.“ Und Genscher hat dann geantwortet: „Nein, Herr Kollege, wir wollen den Zaun einreißen.“ Das war launig gesagt, aber es vermittelte eine Klarheit – das war die Klarheit unserer Ziele.
Das andere, was wichtig ist, ist Empathie. Eine vergessene Tugend. Es ist die Fähigkeit, sich in die Schuhe eines anderen stellen zu können und die Dinge mit seinen Augen zu sehen.
Dann ist man ein Russland-Versteher.
„Russland-Versteher“ ist ein hässlicher Begriff. Er gehört zu den Instrumenten der Lagerbildung. Ich habe das auch schon erlebt, dass mir das um die Ohren gehauen wurde. Ich bin da ganz ruhig geblieben. Zumal in dem Wort „verstehen“ auch die Wortwurzel steckt für Verständnis, Verständigung und Verstand. Und derjenige, der den Begriff „Putin-Versteher“ gebraucht, muss sich darüber im Klaren sein, dass er diese Tugenden gerade nicht anwendet.
Quelle: Sputnik