Der Protest in Jerewan ist keinen Deut mit dem Maidan in Kiew vergleichbar. Die Demos in Armenien sind keine Anti-Russland-Bewegung. Zwar trägt der Protest antirussische Züge, in Form der Sponsoren und des selbsternannten Anführers etwa. Aber gerichtet ist er einzig und allein gegen eine Politik des Stillstands und Wortbruchs.
Armeniens ehemaliger Präsident Serzh Sargsyan ist, gelinde gesagt, einer der unbeliebtesten Politiker des Landes. Das bekommt jeder mit, der einmal nach Jerewan fährt und mit den Einheimischen spricht. Was die Menschen aufregt, ist die tobende Korruption und die allgemeine Stimmung der Perspektivlosigkeit, die im Land herrscht.
In den zehn Jahren der Regierung Sargsyans als Präsident trat die Wirtschaft des Landes in US-Dollar gemessen praktisch auf der Stelle, und auch die Bevölkerungszahl stagnierte. Das Investitionsklima ließ zu wünschen übrig: Viele Geschäftsleute arbeiten lieber in Georgien oder in Russland statt in ihrer Heimat. Außenpolitisch sind auch keine besonderen Erfolge festzustellen.
Dieser Unbeliebtheit zum Trotz schaffte es Serzh Sargsyan sich zwei Präsidentschaften lang, die die armenische Verfassung als maximal vorsieht, an der Macht zu halten. Zu erklären ist diese Sesshaftigkeit im Regierungssitz nicht allein durch Sargasyans Talent, die Macht in seinen Händen zu halten. Vielmehr nutzte er es gekonnt, dass er in der Opposition zwar viele Gegner hat, aber nur wenige unter ihnen Anhänger von Teamwork sind. Ein kluger, charismatischer, zugleich gemäßigter Anführer, der die Opposition vereinen könnte, fehlt indes. Was dem Präsidenten zudem half, war die Passivität der Bevölkerung.
Ja, die Menschen Armeniens lieben den Protest. Der gehört zur Politkultur des postsowjetischen Armeniens unbedingt dazu: „In der neuesten Geschichte Armeniens wurden faktisch alle Wahlkampagnen von Protesten begleitet, die die Wahlergebnisse auf den Straßen der Hauptstadt anfochten“, sagt der russische Kaukasus-Kenner Sergej Markedonow. Doch die Proteststimmungen kristallisierten sich sporadisch, wenn bestimmte Ereignisse wie Wahlen als Katalysatoren wirkten. Dahinter stand kein System, weshalb die Proteste meist auch zu nichts führten: Die Menschen ließen Dampf ab und gingen nach Hause.
Vielleicht hofften einige von ihnen, dass nicht der Protest, sondern die Zeit sie von Serzh Sargsyan erlösen würde. Der armenische Präsident kann ja höchstens zwei Amtszeiten lang regieren. Als dann eine Reform eingeleitet wurde, um das Präsidial- in ein parlamentarisches System umzuwandeln, wurden viele Menschen unruhig: Sie verdächtigten den Präsidenten, dessen Amtszeit sich dem Ende zu neigte, die Reform dazu zu nutzen, um die eigene Macht zu sichern.
Der damalige Präsident Sargsyan räumte jedoch alle Zweifel aus, indem er offiziell erklärte, nie wieder als armenischer Präsident zu kandidieren. Auch um das Amt des Ministerpräsidenten werde er sich nicht bewerben, sollte das Volk sich letztlich für das parlamentarische Regierungsmodell entscheiden. „Ich bin überzeugt, dass ein und derselbe Mensch es nicht mehr als zwei Mal in seinem Leben beanspruchen sollte, am Ruder der Macht in Armenien zu stehen“, sagte der damalige Staatschef im nicht allzu fernen Jahr 2014.
Worthalten muss nicht sein
2015 stimmte das Volk für die Reform und hat 2017 ein Parlament gewählt, das in diesem April einen neuen Regierungschef wählen müsste. Die Mehrheit der Parlamentssitze hat die Republikanische Partei erhalten – ein Erfolg des damaligen Premierministers Karen Karapetjan.
Dieser hatte dem Volk zwar nicht versprochen, es würden Milch und Honig in Armenien fließen, aber dafür eine Reihe wirtschaftlicher Reformen initiiert. So erzielte er in seiner Amtszeit seit September 2016 ein Wirtschaftswachstum von 7,5 Prozent in 2017, das Rekordhoch des vergangenen Jahrzehnts. Die Armenier wähnten sich schon in einer besseren Zukunft – Umfragen zufolge würden 28 Prozent der Bürger des Landes Karen Karapetjan gern als Ministerpräsidenten sehen –, doch die öde Vergangenheit fuhr dazwischen.
Serzh Sargsyan, der das Amt des Präsidenten inzwischen abgegeben hatte, nahm sein Wort einfach zurück: Seine Kandidatur für das Amt des Ministerpräsidenten wurde ins Parlament eingebracht und die Volksvertreter wählten ihn mit der überwältigenden Mehrheit von 77 Stimmen zum Regierungschef (neben den 69 Abgeordneten aus der Regierungskoalition votierten auch oppositionelle Politiker für den Wortbrüchigen). Dabei sind Sargsyans Anhänger fest davon überzeugt, dass er sein Wort nicht gebrochen habe. Er habe ja gar nicht kandidiert, sondern sei von der Regierungspartei für das Amt des Premiers vorgeschlagen worden, weil es keine Alternative gebe. Also habe er diese Bürde auf sich nehmen müssen.
Formal hat Sargsyan keine Regel verletzt. Er hatte das Recht als Ministerpräsident zu kandidieren. Und 25 Prozent der Bürger wünschten Umfragen zufolge auch, dass er das werde. Aber zum einen sind diese 25 Prozent größtenteils Passivwähler und zum anderen sind doch die Unbeliebtheitswerte des ehemaligen Präsidenten extrem hoch. Kein Wunder also, dass Sargsyans Husarenstück zu einem mächtigen Protestkatalysator geworden ist. Die Menschen sind auf die Straße gegangen, und der Protest hat sich verselbstständigt, weshalb mancher Beobachter darin Parallelen zum Maidan erkennt, die es jedoch nicht gibt.
Es stimmt ja, dass der eifrige Russland-Gegner Nikol Paschinjan zum selbsternannten Anführer der Jerewan-Proteste geworden ist. „Paschinjan setzte sich vehement gegen die Teilnahme Armeniens an der eurasischen Integration ein, und er gilt als einer der radikalsten antieurasischen Politiker des Landes. Er hatte versucht, die Ratifizierung der Zollcharta der Eurasischen Union aggressiv zu verhindern, und forderte den sofortigen Austritt Armeniens aus der EAWU“, sagt Nikita Mendkowitsch vom Eurasischen Analyse-Klub. Doch es ist wichtig zu wissen, dass Paschinjan nicht seines Einflusses wegen den Protest anführt.
Der antirussische Block namens „Elk“ (sprich „Austritt“ aus der eurasischen Integration), dem er angehört, erhielt bei den Parlamentswahlen nur 7,78 Prozent der Stimmen und neun Sitze. Dies ist der wirkliche Anteil der russlandfeindlichen Wähler unter den armenischen Bürgern. Zum Protestanführer ist Paschinjan nur seines Charismas, seiner Radikalität und seiner Anti-Sargsyan-Agenda wegen geworden. Die Bürger ziehen bei seiner „Farbrevolution“ nicht gegen Russland mit, sondern gegen den nun ehemaligen armenischen Premier.
Und es stimmt auch, dass die Geschichte etliche Beispiele kennt, dass unterschiedliche Gruppen sich um einen umstrittenen Politiker versammeln, der auf der Protestwelle reitend an die Macht kommt – und dann ganze Gesellschaftsschichten bereuen lässt, ihn mitgetragen zu haben. Doch Armenien zählt sicherlich nicht zu diesen Fällen: Die Menschen dort sind nicht bereit, die Beziehungen zu Moskau zu kappen.
Manche meinen, der Ausgang der Regierungskrise in Armenien sei offen und die Machtübernahme durch Nikol Paschinjan nicht ausgeschlossen – mit all den Konsequenzen für die armenisch-russischen Beziehungen, die daraus folgen. Doch um diesen Weg zu gehen, müsste der selbsternannte Protestanführer seine Anti-Russland-Politik der Mehrheit der Armenier schmackhaft machen. Und das wird sicherlich nicht einfach: Die meisten armenischen Bürger sehen allzu gut, welche Nachteile ein Bruch mit Moskau bringen würde. Dieses Spiel werden sie nicht mitspielen. Auch weil der Kreml die weitsichtige Position eines unbeteiligten Beobachters eingenommen hat, das Recht des armenischen Volkes respektierend, die eigenen Angelegenheiten selbst zu klären.
Geworg Mirsajan