Am gestrigen Donnerstag stürmte die Polizei mit einem gigantischen Großeinsatz die Flüchtlingsunterkunft Ellwangen (Baden-Württemberg). Dort hatten in der Nacht zum 30. April etwa 150 Bewohner verhindert, dass ein junger Mann aus ihrer Mitte abgeholt und deportiert wurde. Mit einem massiven Racheakt schlug der Staat gestern zurück.
Von Marianne Arens
Kurz nach fünf Uhr früh rückten die Beamten der Polizeistelle Aalen, verstärkt durch Spezialkräfte des Landeskriminalamts, in Ellwangen an. Mehrere Dutzend Mannschaftsbusse fuhren im Konvoi in der Dunkelheit heran, jeder zweite davon ohne Licht, um weniger aufzufallen. Die Beamten sperrten die Einrichtung weiträumig ab. Danach stürmten mehrere hundert vermummte und martialisch bewaffnete Polizisten das Gelände. Sie hatten auch Hunde bei sich. Sie drangen in die Häuser ein, traten die Türen der Räume ein, in denen die Bewohner schliefen, und zerrten die Menschen ins Freie.
Bei der Razzia wurden zwölf Menschen verletzt, mehrere so schwer, dass sie ins Krankenhaus gebracht werden mussten. Elf Bewohner waren voller Angst aus dem Fenster gesprungen. Der zwölfte war ein Polizist, an dessen Verletzung jedoch „kein Dritter beteiligt“ gewesen sei. Die Polizei durchkämmte drei von fünf Wohnkasernen, kontrollierte systematisch fast dreihundert Personen, die sich dort befanden, und durchsuchte ihre gesamte Habe.
Ndidi (34) aus Nigeria schilderte einem Reporter der Schwäbischen Zeitung, was geschehen war: „Wir haben geschlafen, da kamen sie rein, weckten uns laut, haben getreten und geschlagen und alle Sachen durcheinandergebracht. Ich wusste gar nicht, was los ist … Sie haben alle rausgeholt aus den Zimmern, haben viele gefesselt, manche Leute sind verletzt worden.“
Ein anderer bestätigt diese Schilderung in einem Video der Welt mit den Worten: „Ich schlief, als die Polizei die Türe einbrach und ins Zimmer kam. Sofort begannen sie, die Leute zu schlagen. Sie warfen uns auf den Boden und legten uns Handschellen an.“ Dieser Zeuge, der durch eine kürzlich erlittene Operation geschwächt ist, berichtete weiter: „Ich habe ihnen gesagt: Wo immer ihr mich hinbringt, ich komme mit, aber bitte schlagt mich nicht, denn ich habe keine Kraft, weil ich eine schlimme Operation hinter mir habe.“
In einer Pressekonferenz am Donnerstagvormittag rechtfertigte Bernhard Weber, Vizepräsident des Polizeipräsidiums Aalen, den brutalen Großeinsatz mit den Worten: „Es besteht die Gefahr von einem rechtsfreiem Raum. Das können und wollen wir nicht zulassen.“
Bezeichnenderweise schob Weber die Schuld an der Eskalation den Geflüchteten zu, die es vier Tage zuvor gewagt hatten, durch eine solidarische Aktion eine Abschiebung zu verhindern. Damit hätten sie den Tatbestand des Landfriedensbruchs und der Gefangenenbefreiung erfüllt. Die „Kollegen“ von der Polizei hätten „in einer so aggressiven und gewaltbereiten Ausnahmesituation den kühlen Kopf bewahrt“, lobte Weber.
In der Nacht zum 30. April hatten die Bewohner der Ellwanger Einrichtung verhindert, dass der 23-jährige Yussif O. aus Togo aus ihrer Mitte heraus festgenommen und abtransportiert wurde. Er sollte nach dem Dublin-Abkommen nach Italien abgeschoben werden. Die Polizei war mit drei Streifenwagen vor Ort, um den jungen Mann aus dem Bett zu holen und in Handfesseln abzuführen. Aber schnell sammelten sich um die Polizeiwagen herum etwa 150 Menschen und hinderten sie so lange am Wegfahren, bis Yussif wieder freigelassen wurde.
Die Polizei behauptet nun, die Menschen im Lager hätten damit gedroht, sich zu bewaffnen, aber in der ganzen Unterkunft wurden keine Waffen gefunden. Fakt ist, dass in Ellwangen gestern mehrere Hundertschaften von bis an die Zähne bewaffneten Polizisten die wehrlosen Menschen im Schlaf überfallen haben.
Bei der Großrazzia gelang es der Polizei, Yussif erneut festzunehmen. Er hatte sich nicht versteckt. Einem Journalisten hatte er erklärt, weshalb er nicht zurück nach Italien wolle: „Ich bin hier, um hart zu arbeiten, um etwas für mich und meine Zukunft zu tun, und nicht, um als Obdachloser zu betteln. Ich will kein Straßenjunge in Italien sein.“
Außer ihm wurden weitere 23 Personen verhaftet, weil sie Widerstand leisteten, oder weil sie an der Aktion vom Montag beteiligt gewesen sein könnten. Mit Kabelbindern gefesselt wurden sie abgeführt. Ihnen drohen nun Verfahren wegen Gefangenenbefreiung, Nötigung oder Landfriedensbruch. Weitere 18 Personen, in denen die Polizei so genannte „Unruhestifter“ erkennen wollte, sollen in andere Einrichtungen verlegt worden sein. Außerdem sollen bei fünf Personen Hinweise auf Drogenhandel entdeckt worden sein.
Politiker aller Bundestagsparteien loben die Polizei und drohen mit weiterer staatlicher Aufrüstung. Bis am frühen Donnerstagabend hat kein bekannter Politiker oder Journalist Kritik hören lassen oder für die Geflüchteten Partei ergriffen.
Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte, er stehe voll hinter den Maßnahmen der baden-württembergischen Sicherheitsbehörden. „Diese Dinge müssen mit aller Härte und Konsequenz verfolgt werden.“ Kurz zuvor hatte Seehofer eine Verschärfung der Asylgesetze für Menschen ohne Bleiberecht gefordert und wiederholt, dass nur „schwere Straftäter, Gefährder und Mitwirkungsverweigerer“ abgeschoben würden – eine Behauptung, die in der Praxis längst widerlegt ist. Was in Ellwangen passiert sei, so Seehofer, sei „ein Schlag ins Gesicht der rechtstreuen Bevölkerung, weil in einer solchen Weise das Gastrecht nicht mit Füßen getreten werden darf“.
Damit wiederholte der Innenminister fast wortwörtlich den Kommentar der AfD. Deren Fraktionschefin Alice Weidel hatte kurz zuvor auf Twitter geschrieben: „Der Rechtsstaat wird von seinen ‚Gästen‘ mit Füßen getreten“. Das berüchtigte Wort vom „Gastrecht“ stammt allerdings von Sahra Wagenknecht (Die Linke), die gesagt hatte: „Wer Gastrecht missbraucht, der hat Gastrecht dann eben auch verwirkt.“
Auch der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Die Grünen) bekräftigte die martialischen Drohungen. „Wir dulden keine rechtsfreien Räume“, sagte er am Donnerstagnachmittag den Medien zum Vorgehen der Polizei in Ellwangen. „Dieser Angriff auf Polizisten muss geahndet werden.“ Genauso dröhnte der Fraktionschef der Grünen, Anton Hofreither: „Die Polizei hat die Aufgabe, Regeln und Gesetze durchzusetzen. Und an diese Regeln und Gesetze müssen sich alle halten.“
Der martialische Großeinsatz der Polizei muss als Warnung verstanden werden. Er richtet sich nicht allein gegen Geflüchtete. Weber erklärte in seinem Statement auf der Pressekonferenz, Ziel des Einsatzes sei es gewesen, „Strukturen aufzubrechen“, die darauf abzielten, „behördliche Maßnahmen zu unterbinden“.
Das zeigt, dass der Staat sich darauf vorbereitet, gegen jeden solidarischen Widerstandsversuch vorzugehen. Es richtet sich gegen alle, die Widerstand gegen behördliche Willkür und Maßnahmen leisten.
Quelle: WSWS